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Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), Ministerpräsident von Baden-Württemberg.
© picture alliance / Marijan Murat

Winfried Kretschmann: "Man fragt nicht nach dem Staat, sondern kehrt selber"

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann über das Polit-Jahr 2018, den Ruf Berlins und die erzieherische Kraft der Kehrwoche. Ein Interview.

Herr Kretschmann, was kann dieses Land aus dem Jahr 2018 lernen?

Miteinander auskommen – das ist vielleicht die wichtigste Lehre. Die Frage, die von 2018 bleibt, lautet ja: Gelingt es uns, als Verschiedene in einer Gesellschaft gut zusammenzuleben? Oder kehren wir zur Illusion eines homogenen Volkes zurück, in dem das Fremde keinen Platz hat – und damit zu einer Idee, die nur in der Katastrophe enden kann? Ich hoffe, dass der Zusammenhalt 2019 wieder gestärkt wird.

Hätten Sie sich vorstellen können, dass die liberale Demokratie von manchen wieder grundsätzlich in Frage gestellt wird?

Nein. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass wir in Deutschland und in ganz Europa eine Rückkehr nationalistischer Utopien erleben würden. Da hat sich dramatisch etwas verschoben: Viktor Orban in Ungarn hielten wir noch für einen Ausreißer, auch für den Erfolg der Pis-Partei in Polen gab es Erklärungen. Aber dass nun auch die Italiener eine rein populistische Regierung gewählt haben, verstört mich zutiefst. Von der AfD hierzulande ganz zu schweigen.

Hängt die Rückkehr des Nationalismus zusammen mit Furcht vor Veränderung oder Ohnmachtsgefühlen, weil Politik auf nationaler Ebene vieles nicht mehr regeln kann?

Zwei Ereignisse haben bei vielen Leuten zu einem Eindruck von Kontrollverlust geführt, der ihnen Angst gemacht hat. Das waren die Finanzmarktkrise 2008 und dann die Flüchtlingskrise von 2015.

Der Nationalismus ist angstgetrieben?

Ja. Beide Phänomene sind global, haben aber bei zu vielen Menschen eine Sehnsucht nach der vermeintlich heilen Welt des Nationalstaats geweckt. Der Nationalstaat als Schutzmacht ist aber eine Illusion, es gibt kein Zurück.

Warum nicht?

Weil die Welt inzwischen zu verflochten ist. Klimawandel, internationaler Terrorismus, Fluchtursachen – viele Fragen lassen sich national einfach nicht mehr lösen. Das Verrückte ist doch: Wer sich mehr Kontrolle durch die Rückkehr zum Nationalstaat verspricht, wird sie am Ende verlieren. Das erleben die Briten gerade in dramatischer Weise mit dem Brexit.

Trotzdem gibt es in unsicheren Zeiten ein Bedürfnis nach Halt und Schutz , auch eine Sehnsucht nach Heimat. Steht die Politik nicht in der Verantwortung, dem Rechnung zu tragen?

Doch, natürlich.

Wie kann sie das tun?

Wir müssen beweisen, dass wir Probleme lösen können. Und dass wir Kontrolle zurückerlangen können, wenn wir sie zuvor ein Stück weit verloren haben. In der Flüchtlingspolitik ist uns das in den letzten drei Jahren Schritt für Schritt gelungen.

Warum treibt das Thema die Leute dann immer noch um?

Da ist zum Beispiel die CSU zu nennen. Sie hat den schweren Fehler begangen, nur noch Probleme an die Wand zu malen. Das war vielleicht wahlkampfbedingt, hat aber das Vertrauen in die Politik insgesamt erschüttert.

Müssen Sie nicht zugeben, dass die Grünen auf der anderen Seite die Probleme bei Migration und Integration heruntergespielt und die Lage beschönigt haben?

Ich habe nichts beschönigt.

Andere Grüne schon?

Das wurde spätestens bei den Jamaika-Verhandlungen beendet. Seitdem lassen wir uns von der Formel Humanität und Ordnung leiten. Es war ein Durchbruch, dass wir diese Klarheit geschaffen haben.

Warum ist das Ihrer Partei so schwergefallen?

Von der Idee offener Grenzen haben wir uns schon vor 30 Jahren verabschiedet. Dass unsere Flüchtlingspolitik aber nicht nur vom humanitären Gedanken geleitet werden kann, sondern auch in einem geordneten und klaren Verfahren durchgeführt werden muss, das wurde lange nicht offen ausgesprochen, auch um innerparteiliche Konflikte zu vermeiden. Eine klare Sprache ist aber Voraussetzung dafür, dass Demokratie funktioniert. Deshalb tut es uns Grünen auch so gut, dass wir nun zwei Vorsitzende haben, die verständlich reden, ohne verquasten Politsprech, frei von diesem schrecklichen Plastikdeutsch.

Wozu führt es, wenn Politiker nicht mehr so reden, dass man sie verstehen kann?

Dass Menschen verstehen, was man will, ist die Grundlage von Politik. Wenn man das missachtet, darf man sich nicht wundern, wenn am Ende Rechtspopulisten mit Ansagen punkten, die falsch sind, aber klar. Alle demokratischen Parteien müssen sich deshalb fragen, ob sie sich nicht in eine falsche politische Korrektheit verrannt haben.

Wie meinen Sie das?

Ich bin ein großer Freund des Prinzips, dass man respektvoll über andere und mit anderen redet und niemanden verletzt. Respekt und Höflichkeit sind die Grundlagen des zivilisierten Streits, der wiederum unabdingbar für eine lebendige Demokratie ist. Aber bisweilen führt das doch auch zu seltsamen Blüten. Ich denke zum Beispiel an die jahrelange Debatte über Gender-Sternchen und andere Punkte, die natürlich gut gemeint sind, aber nicht wirklich gut gemacht oder relevant. Das können viele Leute einfach nicht mehr nachvollziehen.

Einer der größten Vorwürfe an Angela Merkel lautet, sie habe ihre Flüchtlingspolitik nie gut erklärt. Ist sie mitverantwortlich für die deutsche Zerrissenheit, musste sie deswegen den CDU-Vorsitz abgeben?

Die Kanzlerin ist nicht dafür verantwortlich, dass dieses Land so gespalten ist. Es ist ungerecht, wenn nun alles auf ihr abgeladen wird. Natürlich hat jeder Politiker seine Stärken und Schwächen. Frau Merkel ist eine nüchterne Sacharbeiterin: Es genügt aber in der Demokratie nicht mehr, ordentlich zu regieren, man muss auch eine Erzählung von der Zukunft bieten.

Finden Sie, dass Angela Merkel Ihre Nachfolge an der CDU-Spitze gut geregelt hat?

Nach dem CDU-Parteitag bin ich noch skeptischer geworden, dass man seine Nachfolge wirklich selbst gestalten kann. Die Wahl hätte auch anders ausgehen können.

Wäre die neue CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer eine gute Kanzlerin?

Es gibt Politiker, die im Laufe ihres Aufstiegs scheitern und andere, die mit ihren Ämtern wachsen. Kurt Beck war ein guter Ministerpräsident, aber Parteichef war nicht sein Ding. Und auch ich weiß, warum es mich nicht in die Bundespolitik zieht, das ist nicht mein Spielfeld. Annegret Kramp-Karrenbauer traue ich zu, dass sie Kanzlerin kann. Sie ist der Typ, der wächst. Aber ich bin kein Prophet.

Glauben Sie, dass Kramp-Karrenbauer vor Ablauf der Wahlperiode Kanzlerin wird?

Einen Wechsel im Kanzleramt wird es nur dann geben, wenn die SPD die Koalition verlassen sollte.

Stünden die Grünen dann für eine Regierung bereit?

Wir sind nicht die Spielmacher.

Sie weichen aus.

Nein. Wir sind nicht diejenigen, die das entscheiden. Klar ist: Wir haben keine Angst vor Neuwahlen, und auch nicht davor, Regierungsverantwortung zu übernehmen.

Die Grünen haben in den letzten Monaten auch von der Schwäche der Volksparteien profitiert. Könnte Ihre Partei die SPD auf Dauer ersetzen?

Die Grünen können nicht einfach an die Stelle der SPD treten. Unser Kernthema ist die Ökologie. Natürlich darf man als Partei der Ökologie das Soziale nicht aus den Augen verlieren, aber wir sind nicht die Partei der Verteilungsgerechtigkeit gewesen, sondern der Chancengerechtigkeit.

Was würde es für Deutschland bedeuten, wenn die SPD verschwindet?

Das wäre ein dramatischer Verlust. Schauen Sie sich nur die Wohnungsnot in Ballungsräumen an. Das ist ein Thema, das enorme soziale Sprengkraft entfalten kann. Wir kümmern uns darum. Aber da können wir durchaus eine Kraft brauchen, deren Kernthema seit eh und je der soziale Ausgleich ist, und dabei den Blick für die Realitäten nicht verliert. Außerdem wird der Kampf gegen die AfD nicht gelingen, wenn die SPD verschwindet.

Warum nicht?

Wir müssen verhindern, dass soziale Fragen national beantwortet werden. Die AfD ergänzt gerade ihren Nationalismus um Sozialpopulismus. Deshalb ist eine vernünftige Sozialdemokratie wichtiger denn je.

Herr Kretschmann, Sie haben es zum beliebtesten Ministerpräsidenten Deutschlands gebracht. Erwächst daraus für Sie eine besondere Verantwortung?

Worauf wollen Sie hinaus?

Wir wollen wissen, ob Sie über das Jahr 2021 hinaus weitermachen wollen.

Ich entscheide in einem Jahr, ob ich bei der Landtagswahl noch einmal antrete. Im Moment versuche ich, diese Frage von mir fernzuhalten. Ich bin schließlich für fünf Jahre gewählt worden, um meine Arbeit als Ministerpräsident zu machen und nicht um meine Nachfolge zu regeln. Wir sind keine verkappte Monarchie.

Sie haben keinen Nachfolger im Blick?

Ich denke, man sollte da vorsichtig sein und eine eher passive Rolle einnehmen. Nicht der Amtsinhaber ist dafür zuständig, seine Nachfolge zu regeln, sondern diejenigen, die diese Ämter verleihen, also Parteien, Fraktionen, Parlamente. Und Letztere werden von den Wählerinnen und Wählern zusammengestellt. Die Verantwortung des Amtsinhabers ist es, Raum für Nachwuchs zu lassen.

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer gehört zu der Sorte Politiker, die gerne anecken. Finden Sie gut, dass er immer offen sagt, was er denkt?

Er ist direkt vom Volk gewählt und kann sagen, was er will. Mich erstaunt, welche Aufmerksamkeit der Oberbürgermeister von Tübingen bundesweit bekommt. Das wäre nur gerechtfertigt, wenn er groben Unfug oder krasse Provokationen von sich geben würde. Und das ist ja mitnichten der Fall. Provozieren darf er.

Palmer provoziert nicht nur mit seiner Kritik an der Merkelschen Flüchtlingspolitik, er führt auch sein Amt ziemlich eigenwillig. Ist es angemessen, wenn ein Bürgermeister nächtens Personenkontrollen wegen Ruhestörung vornimmt?

Ich würde nicht als Oberpolizist auftreten. Aber ich finde es auch nicht besonders schlimm, dass er das macht. Es ist aber überspannt, deshalb bundesweite Debatten zu führen.

Bei den Grünen würden sich manche freuen, wenn Palmer die Partei verlässt ...

Ich weiß nicht, was das soll. Boris Palmer ist ein hervorragender Oberbürgermeister. Er bringt die Stadt Tübingen in jeder Hinsicht voran und hat Erfolge beim Klimaschutz vorzuweisen, bei denen andere nur mit den Ohren schlackern können. Er ist mit 62 Prozent wiedergewählt, direkt vom Volk. Wir sind in Baden-Württemberg Volkspartei und haben eine Breite - und da gehört er dazu.

Hat Palmer Recht, wenn er Berlin als nicht funktionierenden Sektor schmäht?

Ich bin nur dienstlich in Berlin, insofern kann ich das nicht beurteilen. Von meinen Freunden, die dort leben, höre ich aber Ähnliches. Die sagen auch, dass in Berlin vieles nicht funktioniert.

Das ist im Land der Kehrwoche natürlich anders …

Wenn sich jemand über die schwäbische Kehrwoche mokiert, sage ich: Das ist ein Beispiel für gelungene Subsidiarität. Man fragt nicht nach dem Staat, sondern kehrt selber. In Berlin warten im Winter alle, bis der Streudienst kommt, deshalb ist die Charité voll von Oberschenkelhalsbrüchen. Bei uns kehren und streuen die Leute, bevor jemand ausrutscht.

Haben Sie denn Verständnis dafür, dass manche Ihrer Landsleute vor der Kehrwoche nach Berlin geflüchtet sind?

Nein.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass man in Schwaben streng von den Nachbarn ermahnt wird, sollte man die Kehrwoche einmal vergessen …

Anders funktioniert es halt nicht.

Ihnen wird nachgesagt, dass Sie auf der Schwäbischen Alb Pflanzen auszupfen, die da nicht heimisch sind. Stimmt das?

Das kommt auf die Pflanzen an. Wenn ich einen aggressiven Neophyten sehe, der einzeln herumsteht, reiße ich ihn aus. Ich mache das aber nur dort, wo es noch Sinn macht.

Sie wollen nicht nur heimische Pflanzen schützen, sondern auch den heimischen Dialekt. Wieso ist Ihnen das Schwäbische und Badische so wichtig?

Anfangs haben wir von Zusammenhalt gesprochen, der in Deutschland 2018 ein Stück weit verloren gegangen ist. Gerade in Zeiten von Globalisierung und Digitalisierung müssen wir das erhalten, was Halt gibt. Dialekte gehören nicht nur zur Artenvielfalt einer Kultur. Sie sind die Sprache der Nähe, der Familie, der Freunde, des Dorfes, des Vereins. Ein Dialekt kann Heimat im Wandel oder in der Fremde sein, er stiftet Menschen Identität. Ich glaube, das ist wichtiger denn je.

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