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Nationalismus in Kleinformat. Gartenzwerg mit Deutschlandfahne.
© Julian Stratenschulte/dpa

Philologe untersucht Heimatdiskurs: Sprachsalat mit braunem Dressing

Von Bäumen und Menschen: Sprachwissenschaftler Maurizio Bettini analysiert nationalistische Rhetorik auf intelligente Weise.

Menschen haben Füße. Bäume, Sträucher, Blumen und Kräuter hingegen haben Wurzeln. Menschen sind eine beweglich Spezies, sie gehen, laufen, wandern umher, wandern aus, wandern ein, bauen Häuser, ziehen ein, ziehen aus, ziehen weiter – Bäume nicht. Das müsste nicht gesagt werden, so evident ist es. Doch je mehr Menschen unterwegs sind, desto lauter wird die Rede von ihren „Wurzeln“, ja die generelle Rede von „Wurzeln“. Sogar ins Vokabular seriöser Nachrichten ist sie eingedrungen, wenn es beiläufig oder betont heißt, ein Individuum habe türkische, afrikanische, deutsche oder pakistanische Wurzeln, und so fort. Fantasierte „Stämme“ – siehe Baum – sind wieder da, auch in Europa.

Der Philologe Maurizio Bettini hat den sprachlichen Garten voller Wurzelgemüse umgegraben, und hat ihn, im besten Sinn radikal, in neuen Text verwandelt. Radikal kommt von dem Wort „radix“, das auf Lateinisch Wurzel bedeutet, und radikal bedeutet hier, mit wissenschaftlicher Akribie dem Sujet auf der Spur zu sein. Sprachlich schön und überaus anschaulich unternimmt der Gelehrte das außerdem auch.

Xenophobes Abwehrrudern mit altbackenen Metaphern

Als Professor für klassische Philologie leitet Bettini das Institut für Anthropologie der antiken Welt an der Universität Siena. Sein Erkunden der „terrestrischen“ Metaphorik der Wurzeln, die geknüpft ist an Vorstellungen von Boden, Scholle, Heimaterde und Nation, lenkt den kritischen Blick unter anderem auf politische Diskurse der Gegenwart. Für die Forza Italia zum Beispiel erklärte Marcello Pera in einer „Verteidigung des Abendlandes“: „Wir kommen von drei Bergen, dem Sinai, Golgatha und der Akropolis. Und wir haben drei Hauptstädte: Jerusalem, Athen und Rom. Das ist unsere Tradition.“ Wer dies leugne, so Pera, der verrate seine Geschichte und verliere „seine Identität“. Entscheidend sei die „gemeinsame Genealogie".

Mit ahistorischem Pathos nobilitieren die Wurzelredner der Gegenwart vor allem ihr xenophobes Abwehrrudern. Mitten im digitalen Kapitalismus, und mit dessen Mitteln, rekurrieren sie auf jahrtausendealte Traditionen und schüren Fantasien von naturgegebenen Zusammenhängen zwischen Individuen und Territorien. Wer so spricht wie der Forza-Italia-Politiker, will die dynamische Historie von Jahrhunderten zu einem illusionären Kontinuum einschmelzen. Dabei wird hier nicht zuletzt Mussolinis Faschismus zum vernachlässigbaren Zwischenfall, quasi zu einem „Vogelschiss“ wie der Hitlerfaschismus in der Gauland-Aussage im Sommer.

Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die es nie gab

Obwohl „die kulturellen Unterschiede zur Vergangenheit gewaltig sind“, erläutert Bettini, „wird heute immer nachdrücklicher behauptet, dass nur das, was wir (angeblich) waren, uns Auskunft darüber geben kann, wer wir heute sind.“ Nach solcher Auskunft besteht in einer sich globalisierenden Welt dringender Bedarf, nicht allein bei Neo-Traditionalisten westlicher, rechter Parteien und Gruppierungen, sondern auf allen Kontinenten. So widmet sich Bettini auch den Phänomenen der „invented tradition“, dem nachträglichen Rekonstruieren einer vermeintlich heilen Welt vor der Moderne.

Westliche Neo-Nationalisten betreiben die retroaktive Idealisierung homogener, prämigrantischer Gesellschaften, wie es sie niemals gab – siehe Brexit. Nichtwestliche Neo-Nationalisten betreiben die retroaktive Idealisierung homogener, präkolonialer Gesellschaften, die es ebenfalls nie gab. Zygmunt Bauman hat in seinem letzten Buch vor der Sehnsucht nach den „Stammesfeuern“ von „Retrotopia“ gewarnt, vor dem Hoffen auf wiederbelebte Vergangenheit statt dem Planen von Zukunft.

Maurizio Bettini diagnostiziert eine Verwechslung von Anthropologie mit Nostalgie, von Geschichte mit Politik. Wenn heute Araber und Schwarzafrikaner in Livorno die Piazza Garibaldi bevölkern, schreibt er, „so lebten lange vor ihnen im selben Viertel Zuwanderer aus zahllosen anderen Ländern“, etwa im 15. Jahrhundert und danach. „Mit anderen Worten: Die ,Mauren’ waren schon einmal hier, sie sind nur zurückgekehrt.“

Maurizio Bettini: Wurzeln. Die trügerischen Mythen der Identität. Aus dem Italienischen von Rita Seuß. Verlag Antje Kunstmann, München, 2018, 160 Seiten, 16 €.

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