Grünen-Chefin Baerbock zur Europawahl: „Wir müssen das Soziale in den Mittelpunkt stellen“
Die Grünen wollen im nächsten Jahr mit Europa begeistern, es aber auch verändern. Im Mittelpunkt stehen dabei gerade die Kommunen.
Ein Steinway-Flügel auf der Parteitagsbühne, das kommt normalerweise nicht vor. Doch dieses Mal ist der Starpianist Igor Levit zu den Grünen gekommen. Ganz still wird es am Freitagabend in der Messehalle in Leipzig, als der 31-jährige Beethovens Ode an die Freude spielt - die Europahymne.
Ein halbes Jahr vor der Europawahl ist die Partei zusammengekommen, um über das Wahlprogramm zu beraten und die Kandidaten fürs Europaparlament zu nominieren. Ein „Arbeitsparteitag“, wie Parteichefin Annalena Baerbock zu Beginn sagt. Doch bevor es mit Änderungsanträgen und Verfahrensdebatten losgeht, sorgt Levit mit seinem Aufritt für einen kurzen Moment des Innehaltens.
Als Kind ist er mit seiner jüdischen Familie aus Russland nach Deutschland gekommen, in der Schule wollte er besser Deutsch lernen als seine Klassenkameraden, erzählt Levit. „Das ist meine Heimat, mein Land“, sagt er. Wenn er aber nun von Politikern nach 25 Jahren wieder daran erinnert werde, dass er Migrant sei, sei das „zutiefst verletzend“.
Die Ode an die Freude sei „eine Deklaration für die universelle Menschlichkeit“, sagt der Pianist. Ihr Anspruch sei entweder allgemein und international gültig – oder gar nicht. „Alle Menschen werden Brüder“ – das sei „keine romantische Verklärung“, sondern ein „andauernder Arbeitsauftrag für uns alle“, sagt er. Als Bürger wolle er es nicht zulassen, dass Europa von „lügenden Spaltern“ in den Müll getreten werde.
Als Grünen-Chefin Annalena Baerbock wenig später ans Rednerpult tritt, erinnert sie an den Moment, als sie im Mai 2004 auf der Brücke zwischen Frankfurter an der Oder und dem polnischen Slubice stand. Auch damals erklang Beethoven, beim Festakt zur Erweiterung der EU Richtung Osteuropa. „Europa ist das größte Friedensversprechen“, sagt Baerbock unter dem Applaus der Delegierten.
Die Grünen wollen sich an diesem Wochenende als die Europapartei präsentieren. Die Landtagswahlen in Bayern und Hessen hätten gezeigt, dass man mit proeuropäischer Haltung Wahlen gewinnen könne, sagt Baerbock: „Auch mit Europa kann man begeistern.“ Doch die Grünen-Politikerin fordert auch Veränderungen in Europa. „Wir brauchen eine echte Wirtschafts- und Währungsunion, damit wir Geld haben, um in die Jugend Europas zu investieren“, sagt sie.
"Wir müssen das Soziale in den Mittelpunkt stellen", fordert Baerbock
Bei der Europawahl gehe es auch darum, die liberale Demokratie zu verteidigen, die enorm unter Druck stehe, sagt Baerbock. Den Kampf um Freiheit könne man aber nur gewinnen, wenn es Freiheit von Furcht gebe. Wer damit rechnen müsse, im Alter mittellos zu sein, habe Angst. „Wir müssen das Soziale in den Mittelpunkt unserer Europapolitik stellen“, sagt sie. Ungewohnte Töne aus der Ökopartei – und eine klare Botschaft für den Wahlkampf.
Konkret heißt das für Baerbock etwa, dass mehr für die Kommunen in Europa getan werden müsse. „Wir kennen das aus Ostdeutschland: Wenn kein Bus mehr fährt, es keine Hebamme und keinen Landarzt mehr gibt, dann ist man abgehängt“, sagt sie. Aber auch, dass die Finanzmärkte gebändigt werden müssten. „Der zügellose Finanzmarkt war der Vater aller Probleme“, sagt sie.
In der Flüchtlingspolitik spricht Baerbock sich für „Humanität und Ordnung“ aus: „Wir können das Recht auf Asyl nur verteidigen, wenn wir wissen, wer zu uns kommt, wer sich hier aufhält und wer bleiben darf“, sagt sie. Zugleich fordert sie, Menschlichkeit nicht als Schwäche zu diskreditieren. „Wir müssen endlich wieder Mitgefühl zulassen“, sagte sie.
Ihren aktuellen Höhenflug wollen die Grünen auf dem Parteitag gar nicht groß zum Thema machen, auch wenn sie bundesweit in den Umfragen derzeit auf Werte von mehr als 20 Prozent kommen. „Ein bisschen freuen“ findet Baerbock aber okay, und auch die Delegierten feiern am Abend mit lautstarkem Applaus die Wahlkämpfer aus Bayern und Hessen, die zuletzt bei den Landtagswahlen Rekordergebnisse erzielt hatten.
Die aktuelle Zustimmung sei „Arbeitsauftrag“, sagt Baerbock. Die Grünen müssten „neue Bündnisse schmieden“, um „in der Breite der Gesellschaft“ für ihre Ziele einzutreten. Ihr ist aber auch klar, dass auch wieder andere Zeiten kommen können: Da die Grünen so vieles ändern wollten, werde ihnen auch wieder „der Wind richtig ins Gesicht wehen“, prognostiziert Baerbock. Einen Grund, Abstriche bei den Grünen-Forderungen zu machen, sieht sie darin aber nicht: „Neues entsteht nur, wenn man mutig vorangeht“, ruft sie den Delegierten zu.
Cordula Eubel