Der Erfolg der Grünen: Bloß keinen Übermut aufkommen lassen
Die Grünen brechen einen Umfragerekord nach dem anderen. Wie gehen sie mit der Situation um? Eine Analyse nach dem Parteitag.
Ein bisschen Träumerei wird doch erlaubt sein, muss sich die Grüne aus dem Kreisverband Köln gedacht haben. Auf dem Parteitag in Leipzig kandidiert sie am Sonntagmorgen für den aussichtslosen Platz 34 auf der Liste zur Europawahl. Für einen Moment erlaubt sie sich den Gedanken, der Höhenflug ihrer Partei könne sich ungebremst fortsetzen. „Wenn wir weitermachen wie jetzt, dann ziehen wir mit 50 Prozent ins Europaparlament ein“, sagt sie.
Ganz ernst gemeint ist das natürlich nicht. Ohnehin bemühen sich die Grünen, keinen Übermut aufkommen zu lassen. „Ja, wir freuen uns auch ein bisschen“, sagt Parteichefin Annalena Baerbock zu Beginn. „Aber wir werden vor allen Dingen arbeiten.“
Bei der letzten Bundestagswahl waren die Grünen als kleinste Kraft ins Parlament eingezogen. Seitdem hat die Partei an Beliebtheit gewonnen, aktuell kommen die Grünen auf Werte über 20 Prozent. Das hat mit der Schwäche der anderen Parteien zu tun. Aber in Leipzig ist zu spüren, dass es auch andere Gründe für die neu gewonnene Stärke gibt. Da ist zum einen der Mut zur Veränderung, den die Grünen ausstrahlen: Im Wahlprogramm beschränken sie sich nicht auf ein Ja zu Europa, sondern stellen auch unbequeme Forderungen auf: eine Digitalsteuer, einen Klimapass für die Bewohner bedrohter Inselstaaten oder die Halbierung des Plastikmülls bis 2030. Die Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck versuchen den Spagat, möglichst viele in der Gesellschaft anzusprechen, ohne dafür Abstriche bei ihren Positionen zu machen. Habeck macht das in seiner Abschlussrede an einem Beispiel deutlich: Den digitalen Kapitalismus zu besteuern, möge ja vielleicht „links“ sein „Aber wer aus der bürgerlichen Mitte will mir erklären, dass wir Amazon nicht besteuern, aber den Buchhändler um die Ecke?“, fragt er.
Ein Hauch von Visionen, gepaart mit Pragmatismus, das ist das Bild, das die Grünen gerne abgeben wollen. Manchmal führt das Ringen um Realitätstauglichkeit auch zu kleineren Possen – etwa wenn hinter den Kulissen darüber verhandelt wird, an welcher Stelle im Flüchtlingskapitel der Satz auftauchen soll, dass nicht jeder, der nach Europa komme, auch bleiben dürfe. Doch zugleich akzeptieren die Delegierten ohne Murren auch den Satz, dass die EU „selbstverständlich“ ihre Außengrenzen kontrollieren müsse. Noch vor einigen Jahren hätte das zu Diskussionen geführt.
Geplante Langeweile
In Leipzig geht die Geschlossenheit der Grünen sogar so weit, dass manche Delegierte über die „geplante Langeweile“ spotten. Mehr als 900 Änderungsanträge zum Wahlprogramm hatten die Parteimitglieder gestellt, doch zu wirklich heiklen Abstimmungen kam es nicht. Das liegt zum einen daran, dass Baerbock und Habeck sich nicht auseinander dividieren lassen, während früher in der Parteispitze heftige Flügelkämpfe ausgetragen wurden.
Es liegt aber auch daran, dass viele Antragsteller bereit waren, im Vorfeld des Parteitags Kompromisse auszuhandeln, heißt es. „Grüne streiten sich“, wäre gerade keine hilfreiche Schlagzeile, das akzeptieren offenbar auch profilierte Flügelvertreter. Ohnehin schwindet der Einfluss der Flügel, wie sich bei der Wahl des Spitzenduos für die Europawahl zeigte: Dass Ska Keller und Sven Giegold offiziell dem linken Flügel angehören, spielte kaum noch eine Rolle.
War es also zu viel Harmonie auf diesem Parteitag? Nein, findet Habeck. „In Wahrheit geht es um eine Sammlung der Kräfte“, sagt er. Der Subtext an die Partei lautet: Macht euch im Europawahlkampf auf harte Auseinandersetzungen gefasst. Denn auch wenn der Grünen-Chef seine Partei ermuntert, das in Leipzig beschlossenen Wahlprogramm nun an die Menschen zu bringen, macht er sich keine Illusionen darüber, dass die Realität in Europa gerade eine andere ist. „Das was außerhalb dieser Halle passiert, hat noch wenig mit dem zu tun, was wir beschlossen haben“, sagt er. „Wir leben in einem Europa, das von Rechts wie von Links attackiert wird.“ Zugleich sieht er aber auch Chancen für seine Partei in Zeiten, in denen die bisherigen Volksparteien an Bindungskraft verlieren. Es gebe eine „Sehnsucht“ nach Politikern mit „Fleisch und Blut“, sagt er. „Die Menschen suchen sich die Parteien, die am glaubwürdigsten Hoffnung und Leidenschaft verkörpern.“ Und es gibt noch einen Befund, der ihm Hoffnung macht. „Wenn nur Frauen wählen dürften, dann wären wir schon die stärkste Partei“, sagt Habeck. Just am Sonntag ist in der „Bild am Sonntag“ eine Emnid-Umfrage erschienen, nach der die Grünen bei den Frauen derzeit auf 28 Prozent kämen, während CDU und CSU mit 27 Prozent knapp dahinter landen würden.
Schon bei den letzten Landtagswahlen hatten die Grünen besonders bei Frauen punkten können. Für solche Parteipräferenzen mag es verschiedene Gründe geben, aber der Parteitag zeigt auch, dass die Grünen kein Frauenproblem haben. Bei der Aufstellung der Liste fanden die spannenderen Kandidaturen um die Frauenplätze statt, die mindestens jeden zweiten Platz besetzen können. Und es ist auch kein Zufall, dass Grünen-Chefin Baerbock die politische Rede zu Beginn des Parteitags hält. Ein klares Signal in Zeiten, in denen die CDU nach der Ära Angela Merkel über einen Parteichef Friedrich Merz nachdenkt.