zum Hauptinhalt
2011: Jury-Mitglied Jafar Panahi durfte nicht aus dem Iran ausreisen.
© Valery Hache

Highlights aus 70 Jahren Berlinale: Ein Stuhl bleibt leer

Bald startet die 70. Berlinale. Wir erzählen die Highlights der Festivalgeschichte. In den 2010er Jahren politisiert sich die Berlinale.

Ein lachendes Mädchen im rosa Kleid reckt den Goldenen Bären in die Luft. Triumph, aber auch Trotz stecken in diesem Bild, das die Berlinale 2015 abschließt. Bei der Zehnjährigen handelt es sich um Hana Saedi und sie feiert einen Film, den es eigentlich gar nicht geben dürfte. Er heißt „Taxi Teheran“, gedreht hat ihn Saedis Onkel, der iranische Regisseur Jafar Panahi, trotz Berufsverbot. Ein kleiner Sieg gegen das Mullah-Regime, das ihm auch das Reisen untersagt.

Jafahr Panahis Berlinale-Beziehung spiegelt die Politisierung des Festivals. Zwar ist diese der Berlinale schon seit ihrer Gründung zu Kalten-Kriegs-Zeiten in die DNA eingeschrieben, doch in den Zehnerjahren wird sie besonders augenscheinlich. Etwa als am Eröffnungsabend 2011 ein Stuhl mit dem Namen Jafar Panahi auf die Bühne des Berlinale Palasts gestellt wird. Der Iraner war in die Jury eingeladen worden. Sein Platz bleibt das ganze Festival über leer. Panahi war wegen eines geplanten Films zu sechs Jahren Gefängnis und 20 Jahren Berufsverbot verurteilt worden, ähnlich wie sein Regiekollege Mohammad Rasoulof.

Filme von Flucht und Vertreibung

Das Festival protestiert – und zeigt in den kommenden Jahren die Filme, die im Iran trotz allem entstehen. 2013 gewinnt Panahi für das Drehbuch von „Pardé“ einen Silbernen Bären, zwei Jahre später gibt es Gold für „Taxi Teheran“. Darin spielt er selbst einen Taxifahrer in Teheran und diskutiert mit seiner Nichte über die Regeln für einen im Iran „zeigbaren Film“. Auch Mohammad Rasoulof hat es mit viel Geschick geschafft, immer wieder zu drehen – sein neuestes Werk „There is no Evil“ läuft im diesjährigen Wettbewerb.

Am deutlichsten manifestierte sich das Politische auf dem Festival zuletzt 2016. Nachdem die größte Zahl von Flüchtlingen seit drei Jahrzehnten nach Europa gekommen war, gewinnt mit Gianfranco Rosis Dokumentarfilm „Fuocoammare“ ein Film den Goldenen Bären, der auf der italienischen Insel Lampedusa spielt, einem der Hauptziele der Mittelmeerflüchtlinge.

Der Regisseur porträtiert einerseits einen jungen Fischerssohn und zeichnet andererseits den Alltag von Menschen, die den Geflüchteten helfen. Auch in den anderen Berlinale-Sektionen blicken Filme wie „Havarie“, „Le Sateur“ oder „Life on the Border“ auf die Folgen von Flucht und Vertreibung.

Was in der Dekade der 2010er noch geschah:

  • Die Reihe „Berlinale Goes Kiez“ startet im Jahr 2010
  • Die 3D-Technik hält 2011 Einzug auf dem Festival
  • Das Haus der Berliner Festspiele kommt 2012 als Spielstätte hinzu
  • Erstmals werden 2013 mehr als 300.000 Tickets verkauft
  • Mit „Isle of Dog“ läuft 2018 zum ersten Mal ein Animationsfilm zur Eröffnung

2018 kommt die MeToo-Debatte auf der Berlinale an: Das Panorama hat den südkoreanischen Regisseur Kim Ki-duk mit seinem neuen Spielfilm „Human, Space, Time and Human“ eingeladen, was vor allem in dessen Heimat für empörte Reaktionen sorgt. Eine südkoreanische Schauspielerin beschuldigt den Regisseur anonym, 2013 bei Dreharbeiten übergriffig geworden zu sein und sie geohrfeigt zu haben. Letzteres gab Kim Ki-duk zu und zahlte eine Geldstrafe, die restlichen Anschuldigungen weist er zurück. Aussage steht gegen Aussage.

Gegen puppenhaften Dresscode

Schon vor der Eröffnung hatte die Schauspielerin und Drehbuchautorin Anna Brüggemann die Initative Nobody’s Doll gestartet, die sich gegen einen puppenhaften Dresscode für Frauen auf dem roten Teppich richtet. Der Verein Pro Quote Film setzt sich seit 2014 für eine höhere Frauenpräsenz auf dem Festival ein, veranstaltet dazu regelmäßig Diskussionen und stellt ein transparentes Infozelt – die Bubble – am Potsdamer Platz auf.

Inzwischen haben sich unter dem Namen Pro Quote Regie weitere Gruppen zusammengeschlossen - und sicher auch dazu beigetragen, dass sich Berlinale-Chef Dieter Kosslick in seinem letzten Jahr sichtlich Mühe gibt in Sachen Frauenbeteiligung: Sieben der 17 Filme im Wettbewerb 2019 stammen von Frauen – mehr als je zuvor. Außerdem unterzeichnet er die Erklärung „50-50-2020“ die zu mehr Geschlechtergerechtigkeit auf Festivals und dem Markt beitragen soll. Nadine Lange

Die 00er: Mehr Glitzer und Kreischalarm

Mick Jagger, Martin Scorsese und Keith Richards im Berlinale-Palast.
Mick Jagger, Martin Scorsese und Keith Richards im Berlinale-Palast.
© Andreas Teich

Dies ist die Dekade der Meilensteine. Sie tragen die Namen Potsdamer Platz und Dieter Kosslick. Das halbe Hundert Berlinale wird im Jahr 2000 erstmals im zum Berlinale-Palast umgetauften Theater am Potsdamer Platz gefeiert. Der Saal mit 1800 Sitzplätzen ist nun die Hauptspielstätte. Auch die Multiplexe Cinemaxx und das inzwischen wieder geschlossene Cinestar werden bespielt. Die Festivalverwaltung zieht her.

Die Kartenschlange windet sich durch die Arkaden. Im Filmhaus, wo die Forum-Filme im Kino Arsenal laufen, eröffnet die Deutsche Kinemathek das Filmmuseum und macht das Festival der kurzen Wege in der neuen Mitte der Stadt komplett.

Neue Blüte des deutschen Kinos

Im Mai 2001 übernimmt die Frohnatur Dieter Kosslick die Festivaldirektion vom immer etwas sauertöpfisch dreinschauenden Moritz de Hadeln. Mag die funktionale Architektur des neuen Standorts auch als kühl bekrittelt werden, Kosslicks Charmeoffensive hebt spürbar die Festivaltemperatur. Im Jahr 2002 fungiert er erstmals als Gastgeber. Mit breitem Grinsen und ulkigem Schulenglisch empfiehlt er sich bei Publikum, Branche, Filmschaffenden und Schauspielstars als Direktor der Herzen.

Nun gilt: Ein Festival kann politisch sein und trotzdem lächeln. Dafür steht – Dieter. Dessen Geheimnis fasst der mit dem Silbernen Bären ausgezeichnete Regisseur Paul Thomas Anderson ein paar Jahre später so zusammen. Als er Kosslick für dessen herzliche und familiäre Art dankt, sagt er, Dieter leite das Festival als feiere er eine „Party in seinem Wohnzimmer“.

Was in der Dekade der 2000er noch geschah:

  • 2003 moderiert Komikerin Anke Engelke zum ersten Mal die Berlinale-Galas
  • 2006 zieht der European Film Market in den Martin-Gropius-Bau
  • 2009 kommt der Friedrichstadt-Palast als Spielstätte hinzu

Perspektive Deutsches Kino, Talent Campus, Special, Shorts und Kulinarisches Kino. In den Nullerjahren vergeht kaum ein Jahrgang, ohne dass für Publikum und Filmschaffende eine neue Veranstaltungsreihe gegründet wird. 2004 macht der Goldene Bär für Fatih Akins Liebesdrama „Gegen die Wand“ die neue Blüte des deutschen Kinos perfekt, die zuvor mit dem Silbernen Bären für Andreas Dresens „Halbe Treppe“ und Wettbewerbsfilmen wie „Good Bye, Lenin!“, „Lichter“ und „Der alte Affe Angst“ eingeläutet wurde.

Dieter wickelt alle ein. Nicht nur Hollywoodgrößen, auch Popstars entdecken die Berlinale: 2005 kommt George Michael als Gast des Panoramas und bringt laut Dieter Kosslick 400 Sonnenbrillen mit. Und 2008 stehen leibhaftig die Rolling Stones auf der Bühne des Berlinale-Palastes als Martin Scorseses Dokumentarfilm „Shine a Light“ das Festival eröffnet. Nicht nur die Stones, sondern auch Neil Young und Patti Smith sind da. Ebenso wie Madonna, die im Panorama ihr Regiedebüt vorstellt.

Den größten Kreischalarm löst jedoch ein anderer aus: Shah Rukh Khan, der Superstar aus Bollywood. Angesichts dieses noch von einer Hollywood-Phalanx von Scarlett Johannsson bis Daniel Day-Lewis flankierten Glamours meckern Kritiker über zu viel Glitzer auf dem Festival. Die Jury unter Regisseur Costa-Gavras lässt sich davon nicht beirren und verleiht „Tropa De Elite“ von José Padilha den Goldbären.

Der ob seiner radikalen Gewaltdarstellungen umstrittene Thriller handelt vom Drogenkrieg im Slum vom Rio de Janeiro und korrupten Polizeieinheiten. Blut, Stars und Tränen also. Gunda Bartels

Die 90er: Schwertkämpfer und weinende Killer

Im Hongkong-Kino finden Tanz- und Kampfkunst zusammen. Hier eine Szene aus "A Chinese Ghost Story".
Im Hongkong-Kino finden Tanz- und Kampfkunst zusammen. Hier eine Szene aus "A Chinese Ghost Story".
© Imago Stock

Für einen Jungen aus der westdeutschen Provinz, sozialisiert mit VHS-Raubkopien (in dritter Generation!) von Hongkong-Klassikern wie John Woos “A Better Tomorrow” oder “China Swordsman”, war der Umzug nach Berlin wie die Ankunft im Paradies. Auf meiner ersten Berlinale 1995 waren die Mitternachtsvorführungen im Delphi das Pflichtprogramm, hier lief jeden Abend in der Spätschicht Hongkong-Kino: Thriller, Gangsterfilme, Melodramen, Gangster-Melodramen, Schwertkämpfer- und Martial-Arts-Filme.

Mitternachtskino, das hatte bei uns Zuhause immer einen anrüchigen Beiklang gehabt, bis zum “Bahnhofskino” war es da meist nicht mehr weit. Im Delphi aber wurde den kleinen, schäbigen Genres die gebührende Ehre zuteil. Von den Filmtiteln sagten mir einige etwas, aber noch nie hatte ich sie in voller Pracht auf der großen Leinwand erlebt – in einem ausverkauften Kinopalast.

1987 hatten Ulrich und Erika Gregor erstmals ihre Hongkong-Schiene im Delphi organisiert, dank bester (privater) Kontakte in die Kronkolonie. Damals galten Namen wie Tsui Hark und John Woo noch als Geheimtipps, die ersten Jahre waren Pionierarbeit. Aber Anfang der Neunziger war Hongkong endgültig auf der Karte des Weltkinos angekommen - und die Mitternachtsvorführungen wurden schnell zum Kult. Nicht zuletzt weil die Angestellten der zahllosen chinesischen Restaurants in der Kantstraße nach Feierabend in Massen ins Delphi strömten, auf Kosten ihrer Chefs.

Was in den Neunzigern sonst noch geschah:

  • 1991 - Wegen des Zweiten Golfkriegs wird die Berlinale fast abgesagt. Im Wettbewerb positioniert sich das Festival mit starken europäischen Beiträgen
  • 1993 - Wieland Speck übernimmt die Leitung des Panoramas von Manfred Salzgeber und stärkt das queere Profil der Sektion
  • 1995 - US-Indie-Boom auch auf der Berlinale: Linklaters "Before Sunrise", Ferraras "The Addiction", Wayne Wangs "Smoke" und Tom DiCillos "Living in Oblivion"
  • 1997 - Zu Beginn des Festivals fällt die Entscheidung: Die Berlinale wird an den Potsdamer Platz ziehen
  • 1998 - Martin Scorsese zieht nach der Einmischung Chinas seinen Tibet-Film "Kundun" zurück, danach erhalten auch zwei chinesische Produktionen keine Freigabe mehr 98 - Martin Scorsese zieht nach der Einmischung Chinas seinen Tibet-Film "Kundun" zurück, danach erhalten auch zwei chinesische Produktionen keine Freigabe mehr

Eigens für sie legte Erika Gregor jeden Abend 200 Karten zurück, damit auch die chinesische Community in den Genuss der neuesten Hongkong-Filme kam. Und das Spektakel im Kinosaal war kaum in Worte zu fassen. In der Luft lag der süßliche Duft chinesischer Garküchen (ein Mitbringsel der letzten Schicht, die noch in Arbeitsklamotten ins Kino rübereilte), Schießereien wurde bejubelt, Gesangseinlagen schief mitgesungen, noch beim albernsten Witz brach das Publikum in tosendes Gelächter aus.

Beim Humor zeigen sich die Grenzen der kulturellen Differenz. Wenn man um zwei Uhr nachts zurück auf die Straße taumelte, war die Gegend um den Bahnhof Zoo plötzlich eine fremde Welt.

Im Delphi hab ich verstanden, welche sozialen Bindekräfte das Kino besitzt. Und dass Kino auch etwas mit Tradition zu tun hat. In Berlin begegneten sich erstmals der junge Wong Kar-Wai und der Altmeister King Hu, 10.000 Kilometer von der Heimat entfernt. Die war damals gerade akut bedroht, die Übergabe an China stand kurz bevor.

Viele Filmemacher flohen aus Angst vor möglichen Repressalien ins Ausland, einige auch nach Hollywood. Die Blüte das Hongkong-Kinos hatte kaum begonnen, da schien sie schon wieder vorbei. Die Nächte im Delphi aber waren Eskapismus pur, auch wenn die düsteren Gangsterfilme bereits erahnen ließen, dass die Party wohl bald vorbei sein würde. Die Tradition der Mitternachtsfilme aus Hongkong hielt noch bis 2000 an, als Ulrich und Erika Gregor die Leitung des Forums abgaben. Andreas Busche

Die 80er: Die Mauer fällt früh

Renate Krößner gewinnt als "Solo Sunny" 1980 den Silbernen Bär als beste Darstellerin.
Renate Krößner gewinnt als "Solo Sunny" 1980 den Silbernen Bär als beste Darstellerin.
© Mauritius

Die Revolution kam zu spät, umgekehrt begann die Wende schon früher als in der politischen Welt. Die Berlinale leistete zähe, engagierte Pionierarbeit: Dank geschickter Diplomatie liefen bereits in den Siebzigern Werke aus der Sowjetunion und den sozialistischen Bruderstaaten. Die Vorreiter von Glasnost und Perestroika, die Solidarnosc-Leute, die regimetreueren wie die dissidentischen Defa-Filmer, sie gehörten bald fest zur Berlinale-Familie. Ost-West-Drehscheibe, den Ruf hat das Festival sich bis heute bewahrt.

Kein Wunder, dass der Mauerfall auf den Filmfestspielen sich schon sehr früh ankündigt. Schon 1980 erobert Renate Krößner als Konrad Wolfs „Solo Sunny“ die Herzen der Berliner. Vor allem mit ihrem von Wolfgang Kohlhaase ersonnenen lapidaren Morgen-Danach-Spruch „Ist ohne Frühstück. Ist auch ohne Diskussion“. Dafür gibt's einen Silbernen Bären.

Zehn Jahre später spielte die Berlinale dann nach der Wende auch im Ost-Teil der Stadt, der Wettbewerb konnte im Colosseum, im International und im Kosmos besichtigt werden, sogar ein Filmball wurde ausgerichtet, mit Gorbatschow-Double.

Was in den Achtzigern sonst noch geschah:

  • 1980 - Der Panorama-Vorgänger wird zur festen Sektion: Manfred Salzgeber leitet die Info-Schau
  • 1982 - Fassbinder gewinnt Gold mit "Die Sehnsucht der Veronika Voss"
  • 1985 - Die Special-Effects-Retro erfreut sich großer Beliebtheit.
  • 1986 - "I was against this film": Jury-Präsidentin Gina Lollobrigida distanziert sich bei der Gala vom Bären-Sieger "Stammheim"
  • 1986 - Im Forum läuft Claude Lanzmanns 9 1/2-Stunden-Doku "Shoah", bis heute der wichtigste Film über den Holocaust

Und sieben der sogenannten „Kaninchen“-Filme, die 1967er-DDR-Verbotsfilme, benannt nach Kurz Maetzigs "Das Kaninchen bin ich", wurden im Februar 1990 im Forum gefeiert, Frank Beyers "Spur der Steine" sogar im Hauptprogramm. Es war die Zeit, als die wiedervereinigten Deutschen sich noch in den Armen lagen, neugierig aufeinander waren und wissen wollten, was genau hinter der Mauer geschehen war, hüben wie drüben.

Moritz de Hadeln, der nach Donners kurzem Zwischenspiel 1980 die Festivalleitung übernimmt, hat derweil mit der west-deutschen Branche zu kämpfen, weil die sich zu wenig auf dem Festival gewürdigt fühlt. Margarethe von Trottas "Heller Wahn" wird 1983 wüst verrissen. "Ich wurde regelrecht geschlachtet", erinnerte die Regisseurin sich später.

Schöne Friedensgeste jetzt zum Festival-Geburtstag: Im Jubiläumsprogramm "On Transmission" läuft das Frauen-Drama mit Angela Winkler und Hanna Schygulla nun wieder, und Trotta diskutiert darüber mit Ina Weisse, ebenfalls Schauspielerin und Regisseurin. Christiane Peitz

Die 70er: Revolution mit Verspätung

Die Revolution fand auf der Berlinale mit Verspätung statt. Nicht 68, da wurde nur debattiert, sondern erst 1970. Der Grund war ein Gerücht. Es lautete, Michael Verhoevens Wettbewerbsbeitrag, der Vietnamkriegsfilm „Ok“, solle nachträglich abgesagt werden, weil zu Amerika-kritisch. Den Rest muss man sich vorstellen wie in wildesten Uni-Zeiten: Versammlungen, Gegenversammlungen, Proteste, Demos, Riesen-Chaos. Das Festival wurde abgebrochen, bis heute der größte Eklat in der Berlinale-Geschichte.

Gleichzeitig zeigte das Arsenal-Kino die allererste Fassbinder-Retrospektive, außerdem Neues aus Japan, Kuba und von Rosa von Praunheim. Ein explizities Gegenprogramm. If you can’t beat them, join them: 1971 wurde das Anti-Festival offiziell in die Berlinale integriert: Geburt des „Internationalen Forums des Jungen Films“.

Aber die Spannungen blieben. Hier das Establishment, da die jungen und älteren Wilden – Konkurrenz belebt bekanntlich das Geschäft. Und es sollten noch mehr Skandale folgen in diesem Jahrzehnt.

Was in den Siebzigern sonst noch geschah:

  • 1975 - Mit „Jakob der Lügner“ läuft erstmals ein Film aus der DDR auf dem im Wettbewerb.
  • 1976 - Oshimas Skandalfilm „Im Reich der Sinne“ wird während der Festivalpremiere beschlagnahmt.
  • 1977 - Wolf Donner löst den Gründungsdirektor Alfred Bauer ab, er bleibt drei Jahre Chef.
  • 1979 - Die sozialistischen Staaten boykottieren das Festival, wegen Michael Ciminos angeblich zu vietnamkritischen Vietnamfilm „The Deer Hunter“.

Beim Blick in die Festivalchronik lässt sich allerdings feststellen, dass die Autoren- und Politfilmer auch das Hauptprogramm selber aufmischen. 1972 gewinnt Pasolini den Goldenen Bären, Steven Spielberg präsentiert mit „The Duel“ seinen vielleicht radikalsten Film, auch Robert Altman und das Watergate-Drama „Die Unbestechlichen“ zeigen die hässliche Seite Amerikas.

1978, nach Mogadischu und den Toten in Stammheim, sorgt „Deutschland im Herbst“ für Kontroversen. Die Nouvelle Vague ist mit Godard und Rivette präsent, und die Frauen melden sich mit Wucht, darunter Chantal Akerman und Márta Mészáros. Die Ungarin gewinnt 1975 als allererste Frau den Goldenen Bären, gleich zwei Jahre später folgt die Russin Larissa Schepitko. Ein Durchbruch? Von wegen: Fast drei Jahrzehnte folgen dann wieder nur Männer.

Noch eine Revolution: 1978 verteilt Festivalchef Wolf Donner Pudelmützen auf dem Ku’damm. Ein Werbegag in eigener Sache: Die Berlinale wird vom Sommer in den Winter verlegt, wegen des allzu engen Zeitfensters zwischen Cannes und Venedig.

Fun-Fact: Wegen des mit Zelluloidstreifen belegten Brötchens auf dem Festivalplakat erhält der Jahrgang davor, 1977, den Spitznamen „Schrippenspiele“. Auch Volker Noths Apfel-Kaktus-Plakat 1979 macht von sich reden. Christiane Peitz

Die 60er: Als Jayne Mansfield für einen Skandal sorgte

Künstlerisch darf die Berlinale von 1961 als eine der besten überhaupt gelten. Den Goldenen Bären bekam Michelangelo Antonioni für sein Entliebungsdrama „Die Nacht“. Silberne Bären gingen unter anderem an Bernhard Wicki, Anna Karina und Peter Finch. Doch in die Annalen eingegangen ist dieser Jahrgang des damals noch im Sommer stattfindenden Filmfestivals als „Busen-Berlinale“.

In den Schatten gestellt wurden die Filme von einem Ereignis, dass mit dem Wettbewerb eigentlich nichts zu tun hatte. Die amerikanische Schauspielerin Jayne Mansfield war zwar als Stargast eingeladen, stellte aber keinen eigenen Film vor. Sie repräsentierte quasi nur sich selbst, in ihrer Eigenschaft als größte sogenannte „Sexbombe“ dieser Jahre. Wobei dieser herrenwitzartige Begriff mehr über die männlichen Blicke auf ihren Körper verrät als über ihre schauspielerischen Qualitäten.

Wenn das Boulevardblatt „B.Z.“ aus Anlass von Mansfields Auftritt in der Kongresshalle die „aufreizenden Seitenschlitze“ ihres Abendkleids beschreibt, „die alles ahnen lassen“, und urteilt: „ein Dekolleté, das den Männern den Atem raubt“, glaubt man noch heute ein gewisses Sabbern zu spüren. An der Oberfläche ist die Nachkriegszeit ziemlich verklemmt, aber darunter tun sich sexistische Abgründe auf.

Was in der Dekade der 60er noch geschah:

Der Tagesspiegel, bereits damals um Seriosität bemühte, ist moralisch entrüstet. Der Mansfield, diesem „künstlich hochgezüchteten Star aus den USA“, fehle es an „Ausbildung und Können“. Sie sei eher Kunz als Kainz (eine Anspielung auf den damals berühmten Bühnengott Josef Kainz) und Berlin nicht Cannes, wo sich bei den Filmfestspielen die Starletts am Strand entlang der Croisette für die Fotografen rekeln. Politisch aber spielt Mansfield im sich gerade zuspitzenden Kalten Krieg eine wichtige Rolle: Sie steht für Amerikas Verbundenheit mit dem akut bedrohten West-Berlin. „Selbst die geschmacklosesten Auswüchse der Freiheit“, befindet der Tagesspiegel, „sind immer noch mehr wert als die totale Unfreiheit hinterm Brandenburger Tor“.

Dass eine neue Ost-West-Krise heraufzieht, ist atmosphärisch bereits zu spüren. Als der Regierende Bürgermeister Willy Brandt Sondervorstellungen für Ostbesucher im Kino „Corso“ eröffnet, bekommt er begeisterten Applaus. Nur wenige Wochen, nachdem die Berlinale am 4. Juli endet, wird am 13. August die Mauer gebaut, die beide Stadthälften wie ein Axthieb voneinander trennt. Jayne Mansfield, die 1967 mit nur 34 Jahren bei einem Autounfall sterben sollte, verkörpert in dieser prekären Lage den freien Westen. Und der will natürlich sexy aussehen. Christian Schröder

Die 50er: Der Tag, an dem Gary Cooper verschwand

Stell Dir vor, morgen startet Deine Berlinale, doch deren wichtigster Star ist verschollen. Untergegangen im Chaos, das wenige Straßen vom Festival entfernt tobt, entführt, verschleppt nach Sibirien.

Die Hektik, die am 17. Juni 1953 im Festivalbüro herrschte, stieg sprunghaft, als jemand ein Extrablatt hereinreichte: „Aufstand der Arbeiter in der DDR – Sowjetpanzer auf dem Potsdamer Platz".

Und sie erreichte den Siedepunkt, als Festspielleiter Alfred Bauer hereinstürzte: „Gary Cooper ist verschwunden! In Ost-Berlin!“

Tags zuvor war der Hollywood-Star angekommen, wollte der Familie die Orte seines Besuchs 1938 zeigen, steckte nun im sozialistischen „High Noon“ fest – der Super-Gau, eine bange Stunde lang. Dann waren Coopers wieder da, hatte sich in den Westen durchgeschlagen – so schilderte es Festivalsprecher Hans Borgelt damals.

Eine spannende Geschichte, charakteristisch für das vom Kalten Krieg geprägte Klima des ersten Berlinale-Jahrzehnts. Borgelts Bericht hat nur einen Mangel: Wahrscheinlich stimmt er nicht.

Tagesspiegel, „Morgenpost“ und „Telegraf“ berichteten übereinstimmend, dass Cooper – für seine Freunde „Coop“ – erst am 18. Juni in Tempelhof gelandet sei, von einer Riesenmenge empfangen. Die Begeisterung für Filmstars kannte noch keine Grenzen.

Aber ob wahr oder nur gut erfunden – die Geschichte steht für die auch politische Aufgeregtheit der frühen Jahre, in denen die Berlinale „nicht so sehr ein Fest als eine kulturelle Demonstration des freien Westens“ war, wie der Tagesspiegel über die Eröffnung im Gloria-Palast schrieb, die wegen der Teilung der Hauptstadt schlichter als geplant ausfiel.

Obwohl auch diese Einschätzung eher Wunsch als Wirklichkeit war. Denn der Starrummel tobte wie gewohnt, mit Menschenmassen auf dem Kurfürstendamm, die den Verkehr behinderten.

„Aber sie schrien keine politischen Parolen, sondern die Namen ihrer Kinolieblinge, und sie ballten nicht ergrimmt die Fäuste, sondern klatschten begeistert in die Hände“, so schilderte es Borgelt, diesmal d’accord mit den Presseberichten. Allein Cooper soll auf 250 Autogramme täglich gekommen sein.

Was in der Dekade der 50er noch geschah:

Aber auch ohne Mauer war die Stadt zweigeteilt, gerade während des Festivals. Ost-Berliner hatten keinen Zugang. Die Sektorengrenze blieb gesperrt und das Kino BLT in der Potsdamer Straße – heute Sitz des Varietés „Wintergarten“ – leer.

Für die dort gezeigten Filme stand in den Programmen ein das Publikum limitierender, nun fataler Hinweis: „Geschlossene Vorstellung für Ost-Berliner“.

All diese Aufregungen waren aber nicht der Grund für Bauers Rücktritt als Festivalleiter im selben Jahr. Schon gar nicht war es seine exponierte, geschickt kaschierte Funktion in Goebbels’ Reichsfilmintendanz.

Es ging um Vertragsstreitigkeiten, die Bauer nach Weihnachten 1953 die Konsequenzen ziehen ließen. Doch man einigte sich, kurz nach Neujahr war er wieder da. Andreas Conrad

Zur Startseite