100 Jahre Büstenhalter: „Nichts aus Hollywood ist erotisch“
Sie fand „Penthouse“ besser als den „Playboy“, Lady Gaga hält sie für überschätzt. Weshalb Camille Paglia im Interview den Wonderbra als Meilenstein bezeichnet und Tabus vermisst.
Frau Paglia, vor 100 Jahren wurde das Patent auf den BH zugelassen. Lassen Sie uns also über Büstenhalter sprechen. Ihre Teenagerjahre fielen in die 60er Jahre, als Frauen gerade anfingen, BHs zu verbrennen ...
... das hatte ja eine Vorgeschichte. Zuvor war Frauenbekleidung sehr beengend gewesen, geradezu klaustrophobisch. Man erwartete von uns, dass wir Hüte tragen und Gürtel, die Wäsche war schwer und unbequem. Sogar die Badeanzüge sahen aus wie Korsetts, überall drückte irgendetwas. Da kamen die 60er Jahre wie eine Befreiung von allen Beschränkungen, die Frauen damals erlebten.
War der Büstenhalter eine Provokation ?
Das war er schon länger, nur ganz anders. Die Wurzeln liegen in den 20er Jahren, der Flapper-Ära, den flatterhaften Jahren, wie wir sie in den USA nennen. Die Frauen trugen ihre Haare zum Bubikopf kurzgeschnitten, die Brüste sollten möglichst flach sein.
Ein eher androgynes Erscheinungsbild.
Es klingt vielleicht seltsam, aber das war eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg, als all die jungen Männer gemeinsam in den Schützengräben hockten. Eine irgendwie homoerotische Welt. Dieser Versuch, alles Weibliche zurückzudrängen, war ja ein radikaler Bruch mit dem Eieruhr-Look der Belle Epoque, als Wespentaillen neben ausladenden Hüften und Dekolletés gefragt waren.
Stand nicht Hollywood und die junge Filmbranche zur gleichen Zeit für das Ausstellen weiblicher Reize?
Der Busen erlebte bald sein Comeback, und als Hollywoodhistorikerin würde ich sagen, es fing in den 20er Jahren mit Jean Harlow an. Aber da spielte der BH noch keine Rolle, ihre Brüste wurden durch sinnliche Seidenstoffe hervorgehoben. Es dauerte eine Weile, bis der Büstenhalter zu einem Objekt mit sexueller Konnotation wurde. Damit verbinde ich vor allem Jane Russell und die unglaubliche Ingenieurleistung bei ihrem Outfit, die sie ihrem Förderer Howard Hughes verdankt. Der hatte Erfahrung als Flugzeugkonstrukteur. Jane Russells BH in „Geächtet“ von 1943 spannte die Bluse, als würde gleich eine Rakete abheben.
Ist diese Präsentation der weiblichen Brust ein rein westliches Phänomen?
Die Erotisierung der Brust ist nicht universell. In der traditionellen japanischen Kultur ist der Busen kein Merkmal der begehrenswerten Frau. Die Brust wird mit Mutterschaft assoziiert. Im alten Ägypten stand die kleine Brust für Jugend. Und niemand kann wirklich behaupten, dass die Riesenbrüste der steinzeitlichen Venus von Willendorf Schönheit signalisieren sollten. Sie sind einfach nur ein Fruchtbarkeitssymbol.
Der Regisseur Russ Meyer sah das ganz offensichtlich anders. Für den waren große Brüste erotisch.
Im 20. Jahrhundert, unter dem Einfluss von Comic-Kunst und Videospielen wurde ein neuer Frauentyp kreiert, kampfstarke Amazonen mit überproportionalem Busen. Russ Meyer war ein frühes Beispiel, Lara Croft die Fortsetzung. Ich behaupte mal, die Amerikaner waren in den 50ern so brustfixiert, weil sie zu viel Milch tranken. Dieses geradezu obsessive Verhältnis zur Milch ging einher mit der Faszination für Frauentypen wie Jayne Mansfield. Es gibt ein wundervolles Foto von ihr aus dem Film-Musical „Schlagerpiraten“, da hält sie zwei Milchflaschen hoch, eine vor jede Brust.
Das Bild mit der Milchflasche klingt noch nicht nach kampfstarker Amazone.
Als ich in den 50ern in den USA aufwuchs, erlebte ich Unterdrückung, Konformität und Puritanismus. Es gab einen Kult der Jungfräulichkeit, den Doris Day durchsetzte, von Film zu Film. Dann kam Liz Taylor in „Butterfield 8“ und spielte ein Edel-Callgirl, üppig und verführerisch. Kurz darauf stieg Ursula Andress in dem James Bond-Film „Dr. No“ als Harpunenfischerin aus dem Meer, in einem wunderbaren Bikini, ein Messer an der Taille. Ein neuer Typ Femme fatale, nicht die Frau aus dem Boudoir, sondern eine, die sich wehren kann. Sie und Raquel Welch in „Eine Million Jahre vor unserer Zeit“, ansonsten ein vollkommen uninteressanter Film, standen für eine Zeitenwende in Hollywood und die Art, wie die Filmindustrie dort erotische Vorstellungen von Frauen entwarf.
Wir sprachen eingangs über die 60er Jahre, eine Zeit, in der Frauen gegen den BH protestierten. Wie erlebten Sie diese Jahre?
Auf dem College sah ich zum ersten Mal junge Frauen, die oben ohne gingen. Das war ein Teil der Bewegung zurück zur Natur, da war dieses Woodstock-Gefühl. Parallel zur Hippie-Bewegung kam aus London der Swinging-Sixties-Look, die kleine Brust wurde zum Ideal, der elfenhafte Typ, den man mit Twiggy und Mary Quant verbindet, aber auch mit Edie Sedgwick, Andy Warhols Muse und bei uns das It-Girl jener Zeit. Das hielt eine Weile an, gerade unter Feministinnen, die den Büstenhalter für ein Symbol der Unterdrückung hielten.
So wie das Korsett des 19. Jahrhunderts.
"Verglichen damit war der BH eine Befreiung"
Ja, das macht die Sache ein wenig seltsam. Verglichen damit war der BH eine Befreiung. Aber meine Generation versuchte den Busen so natürlich wie möglich zu betrachten. Ich kannte ziemlich viele Frauen aus dem Hippie-Milieu, die vertraten die Ansicht, dass es Frauen genauso erlaubt sein müsse, barbrüstig rumzulaufen wie Männern. Tatsächlich hat sich der BH davon nicht richtig erholt, bis Madonna 1983 auf der Bildfläche erschien und mit ihr dieser neue Style, bei dem Unterwäsche als Oberbekleidung getragen wurde.
Zehn Jahre später präsentierte sich Madonna mit dem Bildband „Sex“ unverhüllt und erlebte einen Karriereknick. War sie zu weit gegangen?
Wie Sie schon sagen, das war zehn Jahre später. Zunächst einmal hatte Madonna ganz praktische Gründe, den BH zum Stilrequisit zu machen. Als sie modernen Tanz studierte, hatte sie das Problem mit ihren im Verhältnis zu ihrer Größe üppigen Brüsten. Sie löste dieses Problem, indem sie meist in Vintage-Wäsche auftrat und die zu ihrer Oberbekleidung machte. Tatsächlich ist sie verantwortlich für den gewaltigen Erfolg, den Victoria’s Secret dann hatte. Die Firma pflegte einen Erotik-Look, der auf das 19. Jahrhundert verwies. Das ist ziemlich verrückt, dass die zeitgenössische Frau – emanzipiert, feministisch, berufstätig – in dem Moment, in dem sie sich befreite, unerotisch wurde. Und Dessous plötzlich eine Möglichkeit für Frauen wurden, ein Gefühl für die Sinnlichkeit zurückzuerlangen.
Madonna fand dann in Jean-Paul Gaultier einen kongenialen Partner, der ihre Vorstellung in Szene setzte. Und zwar nicht im Stil des 19. Jahrhunderts.
Gaultiers kreative Umsetzung des Spitztüten-BHs aus den 40er Jahren hatte etwas aggressiv Militärisches. Er verwandelte die Brust von einem passiven Objekt der Betrachtung zu einer Art Phallussymbol, gab den Frauen eine gewisse Stärke.
Wir sprachen vorhin über die Videospiel-Figur Lara Croft. Angelina Jolie wurde in der Rolle der Lara Croft 2001 zum Star. Wurde sie damit auch zum Sexsymbol der Jahrtausendwende?
Zweifellos war ihre eigene natürliche Gabe, die ungewöhnliche Kombination aus schlanker Linie und üppigem Busen, ein Ideal, nach dem viele junge Frauen bis heute streben, auch wenn es für die meisten auf natürlichem Weg unmöglich zu erreichen ist. Diese Brüste sind nicht zum Stillen, sondern nur zum Zeigen, sie sind zu einem erotisch konnotierten Anhängsel geworden.
Welchen Einfluss hatte denn die Werbung, etwa für den Wonderbra, auf die Vorstellung vom idealtypischen Busen?
Den Wonderbra gibt es ja bereits seit den 30er Jahren, und er war ein Meilenstein, weil er nämlich neu definierte, wie ein attraktiver Busen auszusehen hatte. Indem er alles hochdrückte und offen präsentierte, war er eine Rückkehr zum dreisten Exhibitionismus, den es im Kult um die Brust eine ganze Weile nicht mehr gegeben hatte.
Erinnern Sie sich noch an die Werbekampagne der Firma Maidenform, bei der sich eine Frau in der Öffentlichkeit in ihrem Büstenhalter zeigt? Die TV-Serie „Mad Men“ hat die Kampagne später in einer Folge aufgegriffen.
Die Kampagne ist aus den 50ern, da war ich noch ein Kind. Aber natürlich, ich erinnere mich. Ich träumte, wie ich, wie die Frau in der Werbung, in einem Maidenform BH auftrete. Das war schon sehr schräg, so exhibitionistisch und auf ganz eigene Weise pervers. Aber irgendwie wurde in den USA daraus solch eine Standardwerbung, dass das niemand mehr wahrnahm. Normalerweise war das ja ein Albtraum für jede Frau, sich in der Öffentlichkeit in ihrer Unterwäsche zu zeigen.
Was halten Sie von der Art und Weise, in der sich Hollywood-Stars heute auf dem roten Teppich präsentieren?
"Deshalb gibt es auch keine erotische Spannung mehr"
Meiner Meinung nach hat das amerikanische Showbusiness jeden Sinn für Erotik vollkommen verloren. Der Körper wird routinemäßig zur Schau gestellt. Es gibt kein Gespür mehr für Tabus oder Überschreitungen, und deshalb gibt es auch keine erotische Spannung mehr, wenn man gegen Grenzen verstößt. Wenn es aber nichts mehr gibt, was irgendwie unanständig ist, was ist dann so besonders daran, seinen Körper auszustellen? Wissen Sie, ich finde eigentlich nichts von dem, was heute aus Hollywood kommt, irgendwie erotisch. Das Einzige, was vielleicht noch interessant war, sind die freizügigen Aufnahmen, die Rihanna von sich machte. Ihre Selfies aus Barbados vermitteln den Eindruck, dass sie etwas von der Welt im physischen Sinn versteht, die Verbindung zwischen Sex und den Kräften der Natur.
Was ist mit Lady Gaga?
Kommen Sie mir nicht mit Lady Gaga, die ist bloß eine Madonna-Imitatorin. Jede ihrer Ideen hat sie sich doch von jemand anders ausgeborgt, ob das nun David Bowie ist, Grace Jones oder Daphne Guinness.Die jungen Leute haben nie die Originale gesehen, und deshalb denken sie vielleicht, dass das, was Lady Gaga macht, irgendwie neu sei und von ihr stamme. Stimmt aber nicht. Sie hat gar kein Gespür für die symbolischen Bedeutungen, die sich möglicherweise hinter ihrem Outfit verbergen. Da geht es ihr leider wie vielen jungen Menschen ohne historisches Bewusstsein. Lady Gaga hüllt sich einfach nur in Sachen wie ein Kind, das ein Halloween-Kostüm anzieht. Sie wechselt ihre Kleidung jeden Tag fünf Mal. Ihr wichtigster Stylist, Nicola Formichetti, hat übrigens aufgegeben, weil es manchmal zwölf Kostüme am Tag waren. Und damit, fand er, hat sie eine Grenze erreicht.
Was könnte die Zukunft des BHs sein? Es heißt, die Japaner hätten bereits einen denkenden BH entwickelt, der sich nicht öffnen lässt, bevor er nicht die wahre Liebe spürt.
Die Zukunft des BHs hängt von der Zukunft des Busens ab. Werden wir in eine androgyne Zukunft eintreten, in der die Geschlechter miteinander verschmelzen und Brüste keine besondere sexuelle Bedeutung mehr haben? Oder steuern wir auf einen kompletten Zusammenbruch der Zivilisation zu, mit Männern, die wieder Männer sind und Frauen wieder Frauen...
... Sie meinen die althergebrachten Rollenbilder ...
... ja, dann wird der Büstenhalter zurückkehren, wie er früher war. Einige der wirklichen sexy Bilder des 20. Jahrhunderts stammen aus den Männermagazinen der 30er bis 50er Jahre. Diese Zeichnungen von Vargas, die Frauen in einer Art Ankleidezimmer zeigen, gekleidet in hauchdünne Nachthemden, wie reife Früchte, die man einfach pflücken und verzehren möchte. Die hatten eine Qualität, die es einfach nicht mehr gibt, die vollkommen verloren gegangen ist.
Warum ist das so?
Weil dieses Tabu nicht mehr existiert, das die Frau und ihren Körper umgab. Frauen waren das große Unbekannte und die Welt, die ihr Körper stillschweigend implizierte, war eine der Sinnesfreuden, vergleichbar den Haremsdamen in der Malerei des 19. Jahrhunderts. Frauen hatten ihre eigene Sphäre. Das ist vorbei. Frauen sind heute überall präsent und finden ihren Platz in der Welt der Männer. Sie können alles machen, was Männer auch tun. Die Feministinnen alten Stils glaubten, dass die Welt davon profitieren würde, wenn die Unterschiede zwischen den Geschlechtern verschwänden. Ich sorge mich allerdings um die Sexualität in solch einer Welt.
Wollen Sie damit sagen, der Feminismus ist auch schuld am Untergang der klassischen Pornografie?
Ich war immer gegen die Attacken amerikanischer Feministinnen auf jede Form von Pornografie. Das war eine brutale Auseinandersetzung, die in den 80er Jahren losging und bis in die 90er dauerte. Tödlich für die Männermagazine in den USA war aber erst die ständige Verfügbarkeit pornografischer Bilder im Internet, einem der wichtigsten Motoren für den kommerziellen Erfolg dieses Mediums. Ich bin immer noch jemand, der illustrierte Layouts schätzt, und ich bedauere das Ende der anspruchsvollen Magazine.
Welche meinen Sie?
„Penthouse“ war einer meiner Favoriten, weil sie es verstanden, Dessous auf eine erotische Weise zu inszenieren. Während der „Playboy“ immer nur den Typ Nachbarmädchen zur Schau stellte, Nacktheit ohne jedes Gespür für sexy Outfits.
Sie haben sich intensiv mit Hollywood beschäftigt. Fallen Ihnen andere Beispiele der letzten Jahrzehnte ein, bei denen Dessous geschickt eingesetzt wurden?
Alfred Hitchcocks „Psycho“ von 1960 war ein Meilenstein in vielerlei Hinsicht. Die Gewaltdarstellung war ja ein Verstoß gegen den seit 30 Jahren geltenden Production Code, eine Art Selbstkontrolle der Studios ohne gesetzliche Grundlage. Außerdem lag der Fokus auf Janet Leighs Büstenhalter, für mich einer der größten Momente in der Geschichte des Kinos. Erst trägt sie einen amazonenhaften weißen BH und dann ein ebenfalls ziemlich amazonenhaftes schwarzes Modell. Hitchcock deutet durch diesen BH-Wechsel an, wie Janet Leigh sich vom guten, folgsamen Mädchen in eine kriminelle Diebin verwandelt.
Hitchcock arbeitete mit Schwarz und Weiß, in Rainer Werner Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ trägt Hanna Schygulla einen silbernen BH.
Oh ja, das ist einer meiner Lieblingsfilme. Tatsächlich, da haben Sie eine Heldin, die so etwas wie eine Rüstung anlegt. Wunderbarer Film. Europäische Filme waren immer in der Lage, ein Gespür für Sinnlichkeit zu transportieren. Aber davon ist leider auch viel verloren gegangen.
Hermann Vaske