25 Jahre Mauerfall im historischen Live-Blog: 17. November 1989: Millionenansturm zum Wochenende erwartet
Die neue Regierung der DDR nimmt ihre Arbeit auf. Radikale Reformen werden angekündigt. Zum Start des Wochenendes bereitet man sich in der Bundesrepublik und in West-Berlin wieder auf einen Massenansturm von DDR-Bürgern vor. Verfolgen Sie die Tage nach dem Fall der Mauer in unserem historischen Live-Blog.
17. November 1989:
20:00 Uhr: DDR-Jugend will nicht im Kapitalismus leben
Dem neuesten ZDF-Politbarometer zufolge spricht sich eine knappe Mehrheit von 55 Prozent der Bundesbürger für die Bildung eines gemeinsamen deutschen Staates aus. Dagegen sind 45 Prozent der Ansicht, es sollten weiterhin zwei voneinander unabhängige deutsche Staaten existieren. Dies korrespondiert zumindest teilweise mit den Vorstellungen der jungen DDR-Bürger. Auf die Frage des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig, welchen Entwicklungsweg das Land in Zukunft nehmen solle, bevorzugen 86 Prozent einen reformierten Sozialismus. Lediglich fünf Prozent wünschen einen kapitalistischen Weg. Weitere neun Prozent können sich einen Dritten Weg vorstellen.
Interessante Ergebnisse bringt auch die Sonntagsfrage. Die bislang dominierende SED würde zwar stärkste Kraft in der Volkskammer bleiben, müsste aber bei einem Stimmenanteil von nur noch 33 Prozent empfindliche Verluste hinnehmen und würde vermutlich ohne Partner in der Opposition landen. Zweitstärkste Kraft wären die Liberaldemokraten mit 21 Prozent, die von ihrem frühzeitigen Umschwenken auf einen Reformkurs profitieren würden. Auf dem dritten Platz würde das Neue Forum folgen (17 %), das damit seine führende Rolle unter den neuen Gruppierungen unterstreicht. Die CDU würde bei zehn Prozent landen, abgeschlagen die Bauernpartei (5 %) und die NDPD (3 %) folgen. Auf alle Anderen würden elf Prozent entfallen.
Noch sind Volkskammerneuwahlen keine beschlossene Sache, nach Darstellung der SED-Koalitionspartner in der Volkskammer scheinen sie aber nur noch eine Frage der Zeit zu sein.
18:00 Uhr: DDR-Studenten verlangen Mitbestimmung
In Ost-Berlin findet eine landesweite Studentendemonstration statt. Mehr als 10.000 Studenten fordern "Tiefenreinigung statt Wiedervereinigung." Der obligatorische Marxismus-Leninismus-Unterricht soll abgeschafft werden. Die mittlerweile an vielen Universitäten und Hochschulen gebildeten unabhängigen Studentenräte sollen anerkannt und den Studenten umfassende Mitbestimmung in allen Hochschulangelegenheiten gewährt werden. In Greifswald entschuldigt sich eine Studentin öffentlich bei ihren chinesischen Kommilitonen für das Schweigen der Universitäten und der Studentenschaft nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking.
17:00 Uhr: Großdemonstration in Prag
Die Ereignisse in der DDR beflügeln auch den Wunsch der tschechoslowakischen Bevölkerung. Seit dem Sturz des Prager Frühlings 1968 durch Truppen des Warschauer Pakts regiert in der CSSR ein besonders schwerfälliges kommunistisches Regime. Die Beton-Sozialisten auf dem Hradschin nehmen mit Staunen den Verfall der Macht der ostdeutschen Genossen zur Kenntnis. Der Funke der Freiheitsbewegung ist indes längst auf die eigene Bevölkerung geflogen. Nicht nur in den schon seit längerem mit nichtsozialistischen Praktiken experimentierenden Nachbarländern Polen und Ungarn gewinnen die Menschen eine ganz neue Denk- und Bewegungsfreiheit. Ausgerechnet in der DDR, die trotz ihres vergleichsweise hohen Lebensstandards eines der am strammsten marschierenden Mitglieder der sozialistischen Gemeinschaft war, haben die Menschen auf friedliche Weise die Regierung in die Knie gezwungen und die auf lange Sicht unverrückbar erscheinende Grenze aufgebrochen. Nun fordern auch Tschechen und Slowaken weitere politische Reformen. In Prag demonstrieren heute etwa 30.000 Menschen. Noch wird auch diese Kundgebung gewaltsam aufgelöst. Doch lange wird sich das Regime nicht mehr halten.
16:00 Uhr: Ladenschlusszeit wird vielerorts aufgehoben
Angesichts des erneuten Massenansturms von DDR-Bürgern am zweiten Wochenende nach dem Fall der Mauer, plant die Bundesregierung, den innerdeutschen Reiseverkehr neu zu regeln. Kanzleramtsminister Seiters, der am Montag (20.11.) zu Gesprächen in die DDR reist, soll unter anderem die erleichterte Einreise von Westdeutschen in die DDR regeln. Bislang benötigen Bürger aus der BRD und aus West-Berlin ein Einreisevisum und müssen weiterhin 25 DM zwangsweise umtauschen. Die Ausstattung der Ostdeutschen mit Devisen soll verbessert, das Begrüßungsgeld neu geregelt werden.
Währenddessen sind viele westdeutsche Kommunen dazu übergegangen, die Ladenschlusszeiten am Wochenende auszuweiten oder gar ganz aufzuheben. An den nächsten beiden Tagen werden bis zu zwei Millionen konsumfreudige DDR-Bürger erwartet. In West-Berlin bilden sich lange Warteschlangen in den Billig-Einkaufsketten. DDR-Mark überschwemmen derweil die Wechselstuben der Stadt. Der Umtauschkurs fällt zwischenzeitlich bis auf 20:1.
Die von der Reichsbahn eingesetzten Sonderzüge sind zum Bersten überfüllt. An den innerdeutschen Grenzübergängen staut sich der Verkehr auf bis zu 70 Kilometern.
15:00 Uhr: DDR geht auf EG zu
Die DDR sucht die Zusammenarbeit mit der Europäischen Gemeinschaft (EG) zu vertiefen. Man strebt dabei nicht nur engere Handelsbeziehungen an. Auch Verträge über breit gefächerte wirtschaftliche Kooperationen werden angestrebt.
14:50 Uhr: DDR-Künstler wollen die Mauer bemalen
Die Mitglieder des Verbandes Bildender Künstler beschließen mit Unterstützung des Kulturministeriums, die Berliner Mauer nun auch auf DDR-Seite großflächig zu bemalen. Bislang waren derartige Aktionen im gesperrten Grenzgebiet nicht möglich. Nach einem ersten Versuch am Potsdamer Platz wurde der Beton nachts von den Grenztruppen grau überstrichen. Schon bald werden zahlreiche Künstler aus aller Welt beginnen, die Mauer künstlerisch aufzuwerten - am prominentesten und bis heute erhalten am Teilstück in der Mühlenstraße, der mittlerweile weltberühmten East Side Gallery.
14:45 Uhr: Zahlreiche Vereinigungen gegründet
Rasant verändert sich das gesellschaftliche Antlitz der DDR. Wie das Innenministerium in einem Zwischenbericht feststellt, bestehen mittlerweile 154 Vereinigungen im Land. Für weitere 37 beabsichtigte Gründungen liegen bereits Anträge vor.
Derweil muss Kurt Tiedke, Rektor der Parteihochschule des ZK der SED - dem bisherigen Zentrum des altstalinistischen Denkens in der DDR - zurücktreten. Auch die Abschaffung oder zumindest generelle Umstrukturierung der Einrichtung wird gefordert.
14:30 Uhr: Koalitionspartner fordern Neuwahlen
Im Anschluss an Modrows Regierungserklärung findet in der Volkskammer eine Aussprache zum Regierungsprogramm statt. Wolfgang Herger erklärt als Fraktionssprecher der SED, man werde künftig die Trennung von Partei und Staat akzeptieren. Herger verspricht, dass sich weder Politbüro noch ZK der SED in die Regierungsarbeit einmischen werden. Manfred Gerlach, Vorsitzender der nun eigenständig mitregierenden LDPD, macht deutlich, dass die Liberaldemokraten trotz Regierungsbeteiligung die Durchführung allgemeiner, freier und geheimer Wahlen im nächsten Jahr anstrebt.
14:15 Uhr: Deutsch-deutsche Kooperation als Teil einer neuen internationalen Ordnung
In der überregionalen Wochenzeitschrift Die Zeit beschäftigt sich Chefredakteur Theo Sommer mit dem deutsch-deutschen Verhältnis. Sollten in der DDR Reformen gelingen, ein Mehrparteiensystem etabliert und die Wirtschaft entkalkt werden und die Herrschaft des Rechts unbezweifelbar sein, würde die DDR der BRD gleichen, "wiewohl ein paar Zoll nach links versetzt." Eine Wiedervereinigung müsse dann nicht automatisch folgen.
Die Idee von Günter Gaus, nach der sich eine deutsch-deutsche Sachkonföderation in einem größeren westeuropäisch-osteuropäischen Kooperationsverbund eingliedern würde, der wiederum Teil einer amerikanisch-sowjetischen Kooperation sei, wird auch in der DDR von Vielen aufgegriffen. Danach würden die beiden deutschen Staaten in den Bereichen Umwelt, Verkehr, Energie und Wirtschaft gemeinsam agieren als ein Art funktionale Einheit bei fortdauernder Teilung. Dieser Gedanke wird zum außenpolitischen Leitmotiv der Regierung Modrow.
14:00 Uhr: Sorge vor Ausverkauf
In der Presse findet derweil eine rege Auseinandersetzung über die Frage statt, wie Wirtschaft und Währung der DDR reformiert werden sollen. Im LDPD-Organ Der Morgen schlägt ein Vertreter des Akademieinstituts für Wirtschaftswissenschaften eine Währungsreform als unverzichtbaren Bestandteil der Wirtschaftsreformen vor. Als Ergebnis müsse eine "neue, frei konvertierbare Mark der DDR mit einem stabilen Wechselkurs zu den westeuropäischen Leitwährungen" anvisiert werden. Diesem Gedanken schließt sich auch die designierte Wirtschaftsministerin an - Prof. Dr. Christa Luft (SED) amtierte zuvor als Rektorin der Hochschule für Ökonomie Berlin.
Die Konvertibilität der DDR-Markt lehnt der Nestor der DDR-Wirtschaftswissenschaften Jürgen Kuzcynski in der Wirtschaftswoche dagegen ab. Die überstürzte Grenzöffnung habe für die Wirtschaft der DDR gefährliche Folgen. Der unkontrollierte Tausch von DDR-Mark in Westgeld könne ganz real zum Ausverkauf der DDR führen. Vor der Einführung einer konvertiblen Währung müsse man "erst ein neues wissenschaftlich-technisches Niveau erreichen." Unter den derzeitigen Umständen hat Kuzcynski aber auch keine Idee, wie man dies umsetzen könne. Er sei "in Sorge um die DDR."
Auch der 1979 ausgebürgerte SED-Reformer Rudolf Bahro hofft in der taz, dass der Teil Deutschlands, der "eine demokratisch-politische Revolution zustande gebracht hat, nicht gleich aufgesogen wird von dem ökonomisch fürchterlich überlegenen und zugleich selbstmörderischen westlichen System."
Bahro hat 1977 mit "Die Alternative", einer kritischen Analyse des real existierenden Sozialismus, vor allem im Westen für Aufsehen gesorgt. Wegen „landesverräterischer Sammlung von Nachrichten“ und „Geheimnisverrats“ zu acht Jahren Haft verurteilt, wird Bahro nach internationalen Protest- und Solidaritätsbekundungen freigelassen. In der BRD engagiert er sich auf dem linken Flügel der Grünen.
In diesen Tagen kündigt er seine Rückkehr in die DDR an, um die er ernsthaft besorgt ist. Die "Autonomie des politischen Prozesses" müsse erhalten werden. Bahro hält es für "absurd, in dem Augenblick, wo die DDR endlich volkseigen wird," ihren Ausverkauf bilanzieren zu müssen.
13:00 Uhr: Modrow stellt Kabinett vor
In der Volkskammer stellt Ministerpräsident Hans Modrow sein neues Kabinett vor. Es stellt 28 - statt wie bisher 44 - Minister, von denen 17 von der SED kommen und elf von den Koalitionspartnern. Vier Ministerien gehen an die LDPD, drei an die CDU. Mit je zwei Ministern sind die NDPD und die Bauernpartei vertreten. Neun Minister dienten schon in der alten Regierung. Das bei der Bevölkerung verhasste Ministerium für Staatssicherheit wird aufgelöst und durch ein kleineres Amt für Nationale Sicherheit ersetzt. Die neue Regierung soll sich am Samstag (18.11.) der Bestätigung durch die Volkskammer stellen.
12:00 Uhr: Modrow kündigt radikale Reformen an
Mit Spannung wird die Regierungserklärung des neuen Ministerpräsidenten Hans Modrow erwartet. Ist eine neue Politik vor Neuwahlen überhaupt möglich? In der Volkskammer kündigt Modrow am Vormittag weitreichende Reformen an. Man wolle die zentrale Planung der Wirtschaft abbauen und die Zusammenarbeit mit dem Westen vertiefen.
Modrow erklärt, die alte Staatsführung habe die DDR in eine tiefe Krise geführt. Sie sei nur durch radikale Reformen zu überwinden. Modrow bittet um Vertrauen. Mit Ehrlichkeit und Kompetenz wolle die Regierung dafür sorgen, dass der Geist der Erneuerung in nahezu alle Lebensbereiche einzieht. Der Reformprozess, das stellt der Regierungschef klar, sei unumkehrbar.
Ein neues Wahl-, Medien- und Reisegesetz werden angekündigt. Das Strafrecht wird reformiert, ein ziviler Wehrersatzdienst eingeführt.
Ihr Hauptaugenmerk wird die Regierung aber der Sanierung der maroden Volkswirtschaft widmen müssen. Dies soll auch mit der Einführung marktwirtschaftlicher Elemente erreicht werden. Die nach wie vor dominierende Planwirtschaft soll entbürokratisiert, aber nicht abgeschafft werden. In diesem Zusammenhang soll eine Vertragsgemeinschaft mit der Bundesrepublik geschaffen werden.
Einen Volkswirtschaftsplan und einen Haushalt aufzustellen, ist gegenwärtig nicht möglich Dazu müsse die Regierung erst Einnahmen und Ausgaben realistisch durchrechnen.
Die Souveränität und Eigenständigkeit der DDR aber, auch das macht Modrow klar, bleibt unantastbar.
10:00 Uhr: Besucheransturm setzt ein
Der für das Wochenende erwartete Besucheransturm aus der DDR setzt in den Morgenstunden ein. Bis zum frühen Nachmittag sind schon 400.000 Ostdeutsche in das Bundesgebiet und nach West-Berlin gereist. Zur Feierabendzeit, vor allem aber für morgen wird eine deutliche Zunahme des Reiseverkehrs erwartet. Allein in West-Berlin rechnet man mit zwei Millionen Besuchern aus der DDR. Zahlreiche neue Grenzübergänge sind inzwischen an der innerdeutschen Grenze und an der Berliner Mauer geöffnet worden, alte Übergänge werden ausgebaut. So wird zum Beispiel seit dem Morgen der Grenzübergang in der Invalidenstraße verbreitert.
08:00 Uhr: Wolf rechnet mit Prozess gegen Honecker
Der ehemalige Chef der DDR-Auslandsspionage Markus Wolf rechnet in einem Interview mit der BILD-Zeitung damit, dass der frühere SED-Generalsekretär Erich Honecker und der abgesetzte ZK-Sekretär für Wirtschaftsfragen Günter Mittag als Hauptverantwortliche für die Krise der DDR schon bald vor Gericht gestellt werden. Dies sei schon notwendig, um das Vertrauen des Volkes zurückgewinnen zu können. Nach einer Verurteilung rechnet Wolf aber mit der Aussetzung der Strafen zur Bewährung.
16. November: Bundestag will sich nicht in den Reformprozess einmischen.
20:00 Uhr: Koalitionsgespräche
Im Ost-Berliner Staatsratsgebäude finden Verhandlungen zur Regierungsbildung statt. Die Regierung Modrow soll von 44 auf 27 Minister verkleinert werden und als Koalition mit anderen Parteien ihre Arbeit aufnehmen.
Hat sich das Kabinett bisher als ein rein wirtschaftsleitendes Organ begriffen – etwa 20 Ministerien sind allein für die Industriesparten zuständig – bestehen die als Koalitionspartner vorgesehenen Blockparteien auf die Ausrichtung der Regierung als ein auch politisch führendes Instrument. Ihre Regierungsbeteiligung machen sie auch von der Änderung des Artikels 1 der DDR-Verfassung abhängig, der den Führungsanspruch der SED festlegt.
In den Verhandlungen kristallisieren sich unterschiedliche Verhandlungspositionen zwischen Generalsekretär Egon Krenz und Ministerpräsident Hans Modrow heraus. Während Modrow auf eine deutliche Liberalisierung setzt, die auf möglichst breite Schultern verteilt werden soll, will Krenz den Führungsanspruch der SED auch personell durchsetzen.
Die neuen Koalitionspartner der Partei bestehen aber auch auf die Besetzung strukturbestimmender Ministerien. Schließlich einigt man sich auf elf Ministerposten, die nicht mehr von der SED bekleidet werden.
18:00 Uhr: FDJ demonstriert gegen SED-Führung
Im Lustgarten von Ost-Berlin demonstriert die Basis der Freien Deutschen Jugend gegen ihre eigene Führung und die der SED.
15:00 Uhr: Havemann und Bloch rehabilitiert
In der Ost-Berliner Akademie der Wissenschaften werden die ehemaligen Akademie-Mitglieder Ernst Bloch und Robert Havemann rehabilitiert.
Der Neomarxist Bloch wurde nach seiner Kritik an der Niederschlagung des Volksaufstands in Ungarn 1956 als Professor an der Universität Leipzig zwangsemeritiert und blieb nach dem Bau der Mauer 1961 im Westen.
Robert Havemann, Direktor des Instituts für Physikalische Chemie an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin, gehörte zu den bekanntesten Regimekritikern in der DDR. Der überzeugte Kommunist war nach einem kritischen Zeitungsinterview in den West-Medien 1964 aus der SED ausgeschlossen. Sein Lehrauftrag wurde ihm entzogen. Jahrelang unter Hausarrest gestellt, wurde er rund um die Uhr von der Stasi überwacht.
Weder Bloch noch Havemann erleben ihre Rehabilitierung noch. Sie sind bereits vor Jahren verstorben.
14:00 Uhr: Moskau hofft weiter auf Krenz
SED-Generalsekretär Egon Krenz erhält durch die sowjetische Botschaft einige "Ratschläge" des ZK der KPdSU, die auf fortgesetztes Betondenken in Moskau verweisen.
Krenz möge die emotionale Hochstimmung nach der Öffnung der Grenze zu einer Fernsehansprache nutzen, um "unter der Bevölkerung die Vorstellung von Ihnen als einer Person zu verbreiten, die das Volk eint und auf die man sich in einer schwierigen Situation verlassen kann."
Seine Rede solle den westdeutschen Politikern unzweideutig klar machen, "dass jeder Versuch, die entstandenen Schwierigkeiten auszunutzen oder Ihnen Forderungen und 'Ratschläge' im Sinne von Schritten zur Wiedervereinigung Deutschlands oder zur Revision der territorialen Ordnung in Europa aufzudrängen, absolut zum Scheitern verurteilt sind."
11:30 Uhr: Bundestag will sich in DDR-Reformprozess nicht einmischen
Im Bonner Bundestag bekennen sich alle Bundestagsfraktionen zur Nichteinmischung in die Politik der DDR. Man werde die Reformen akzeptieren, auch wenn sich die Ostdeutschen für die weitere Existenz zweier deutscher Staaten und gegen deren Vereinigung entscheiden sollten.
Nach allgemeinem Tenor sollen die Landsleute im Osten selbst über ihre künftige Staats- und Gesellschaftsform entscheiden. Die Bürger der DDR hätten keine Belehrungen nötig – eine Wiedervereinigung soll ihnen nicht aufgedrängt werden. Hilfe wird der DDR auch bei jenen Problemen angeboten, die durch die Flüchtlingswelle kurzfristig entstanden sind.
Alle Abgeordneten sind sich darin einig, dass echte Reformen in der DDR wirtschaftlich und finanziell unterstützt werden sollen. Umstritten bleibt allerdings, ob die Hilfestellungen der Bundesrepublik vom gesellschaftlichen Wandel in der DDR abhängig gemacht werden sollen.
Bundeskanzler Kohl (CDU) betont in seiner Regierungserklärung: „Wer die Landsleute nicht bevormunden möchte, sollte ihnen auch nicht einreden, das Beste sei die staatliche Teilung unseres Vaterlandes.“
Der frühere Bundeskanzler und Regierende Bürgermeister von West-Berlin zur Zeit des Mauerbaus, Willy Brandt, sieht für die SPD die Einheit Deutschlands von unten wachsen.
Viel Respekt ernten die DDR-Bürger von den Bundestagsabgeordneten. Sie seien dabei, eine neue politische Kultur zu schaffen. Antje Vollmer von den Grünen schlägt die Abhaltung gleichzeitig stattfindender Parlamentswahlen in der BRD und der DDR vor. Sie könnten im Dezember 1990 stattfinden.
11:00 Uhr: Peking skeptisch über Mauerfall
Auf seinem Staatsbesuch in Pakistan äußert sich Chinas Premierminister Li Peng skeptisch zu den Entwicklungen in der DDR. Peking fragt sich, ob die jüngsten Veränderungen in den sozialistischen Staaten Osteuropas und vor allem in der DDR zu Frieden und Stabilität in der Region und in der Welt beitragen werden. Für ein Urteil sei es aber noch zu früh. Grundsätzlich bleibe China dabei, sich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen.
Erst im Sommer hat Peking eine Demokratiebewegung im eigenen Land auf ganz andere Weise aufgelöst. In der so genannte „chinesische Lösung“ beginnt die Volksbefreiungsarmee in der Nacht vom 2. auf den 3. Juni 1989 brutal die friedlichen Demonstranten auf dem Platz des himmlischen Friedens, dem Tian’anmen-Platz, auseinander zu treiben. Bei den folgenden blutigen Unruhen verlieren geschätzt mehrere tausend Menschen ihr Leben.
Egon Krenz, seit kurzem Staats- und Parteichef der DDR, hatte dieses Vorgehen bei einem Besuch in China im Juni ausdrücklich gelobt. Es sei „etwas getan worden, um die Ordnung wieder herzustellen.“
Zu den Politikern und Funktionären, die in Folge der Ereignisse mit Besuchen die engen Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik China unterstreichen, gehört neben Günter Schabowski auch der neue Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow.
10:00 Uhr: Reichsbahn stellt mehr Züge
Für das Wochenende (18. Und 19.11) wird ein erneutes starkes Anschwellen des Reiseverkehrs erwartet. Das DDR-Verkehrsministerium stellt auf einer Pressekonferenz Sonderfahrpläne der Deutschen Reichsbahn zur Regelung des freien Grenzverkehrs in Richtung Westen vor.
Im Fernverkehr werden 24 und im grenznahen Bereich 20 zusätzliche Züge eingesetzt. Je eine Verbindung wurde unter anderem von Berlin nach Hamburg, Köln, Frankfurt am Main und München geschaffen.
09:00 Uhr: DDR-Mark wird nicht abgewertet
Noch-Finanzminister Ernst Höfner versucht die Gemüter zu beruhigen. Im SED-Zentralorgan Neues Deutschland erklärt er, es sei keine Währungsreform vorgesehen. Die Sparer müssten keine Verluste fürchten. Die in der Volkskammer besprochenen Kreditverbindlichkeiten werde der Staat tragen.
08:00 Uhr: Gründung liberaldemokratischen Jugendorganisation
Die bislang in der Jugendpolitik dominierende FDJ bekommt weitere Konkurrenz. In der LDPD-Zeitung Der Morgen wird der Gründungsaufruf einer neuen Jugendorganisation „LILA“ veröffentlicht, die liberaldemokratisch organisiert sein soll.
Der Aufruf spricht sich für eine Jugendpolitik von unten, Antifaschismus und die freie Entfaltung der Individualität aus. „LILA“ soll sich für eine offene Weltsicht und einen „gesunden Biotop Europa“ einsetzen.
15. November: Gorbatschow warnt vor Wiedervereinigung.
22:00 Uhr: DDR-Fußballer verlieren gegen Österreich
In Wien unterliegt die Nationalmannschaft der DDR im Qualifikationsspiel zur Fußballweltmeisterschaft 1990 in Italien Österreich 0:3.
18:00 Uhr: Gerüchte um Mauerdurchbruch am Brandenburger Tor
Seit gestern häufen sich Berichte über einen baldigen Mauerdurchbruch am Brandenburger Tor. Fieberhaft warten Nachrichtenteams aus aller Welt auf das erste Bild. Das symbolträchtigste Gebäude der deutschen Teilung bleibt aber vorerst verschlossen.
16:00 Uhr: Demokratisierungsprozess in der DDR
In der DDR nimmt die Diskussion über den Demokratisierungsprozess weiter Form an. Auf der Volkskammersitzung am Freitag (17.11.) will die Fraktion der Liberaldemokraten eine Verfassungsänderung beantragen. Das Machtmonopol der SED soll aus dem Artikel 1 der Verfassung gestrichen werden. Dafür sprechen sich immer mehr Abgeordnete der Volkskammer aus. In der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin diskutieren Vertreter der Evangelischen Kirche und des Ministerium für Volksbildung erstmals über die DDR-Bildungspolitik. Derweil beschließt die DDR-Regierung die Auflösung der Staatsjagdsondergebiete für führende Vertreter der Partei.
14:00 Uhr: Internationaler Diskurs zur möglichen deutschen Einheit
Frankreichs Außenminister Roland Dumas sieht die deutsche Wiedervereinigung nicht auf der aktuellen Tagesordnung. Den Fall der Mauer bezeichnet er aber als das "glücklichste Symbol der Geschichte Europas in den letzten 40 Jahren.
Der ehemalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger erwartet dagegen eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten in den nächsten drei bis vier Jahren. Frei Wahlen in der DDR würden ein vergleichbares Parteienspektrum wie in der Bundesrepublik etablieren. Auch die beiden deutschen Volkswirtschaften würden sich angleichen. Angesichts dessen hält er eine Wiedervereinigung für "unvermeidlich."
12:00 Uhr: Gorbatschow warnt vor Diskussion um deutsche Wiedervereinigung
Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow warnst in einem eindringlichen Appell vor jeglicher Propagierung der in seinen Augen "unaktuellen Frage" der deutschen Einheit. Von der Europäischen Gemeinschaft (EG) fordert er, auf ihrem Gipfel am Samstag (18.11.) in Paris die Unverrückbarkeit der deutschen grenzen festzuschreiben. Die sowjetische Politik sieht ihre Interessen zunehmend von den Ereignissen in Deutschland berührt.
14. November 1989: Grenzöffnung offenbart auch Probleme
18:00 Uhr: Schabowski ist nicht mehr Berliner Bezirkschef der SED
Ohne nähere Angabe von Gründen ist der SED-Bezirkschef von Berlin Günter Schabowski von seinem Amt entbunden worden. Er bleibt aber Mitglied des Politbüros. Außerdem wird erwartet, das Schabowski eine wichtige Funktion in der neuen Regierung Modrow übernehmen wird.
Derweil laufen die Vorbereitungen für den Sonderparteitag der SED vom 15. bis 17. Dezember an. Bis zum 3. Dezember sollen die Delegierten bestimmt werden. Auf dem Parteitag wird die gesamte Führung der Partei neu gewählt. Zudem soll ein neues Parteistatut und ein neues Programm bestimmt werden.
Auch der verfassungsmäßige Führungsanspruch der Partei steht zur Disposition. So hat sich der neue Volkskammerpräsident Günther Maleuda für die Aufgabe des Machtmonopols der SED ausgesprochen.
17:00 Uhr: DDR erwartet Rückkehrer
Immer mehr vor kurzem in die BRD übergesiedelte DDR-Bürger geben an, nach den neuesten Ereignissen in ihre Heimat zurückkehren zu wollen. Das Rote Kreuz erwartet bis zu 10.000 Rückkehrer in den nächsten Tagen. Man werde Aufnahmelager in der DDR einrichten, in denen sich die Rückkehrer aber nur zwei bis drei Tage aufhalten müssen.
15:30 Uhr: DDR-Bürgerrechtlerin geehrt
Bärbel Bohley, Gründungsmitglied des Neuen Forum, erhält in der Akademie der Künste in West-Berlin den Karl-Hofer-Preis.
15:15 Uhr: Marxismus-Leninismus soll ernsthaft diskutiert werden.
Die marxistisch-leninistische Theorie soll an den Universitäten der DDR künftig nicht mehr als Pflichtfach gelehrt werden. Statt Instrument einer herrschenden Partei zu sein, soll sie Grundlage einer breiten Gesellschaftsdiskussion werden. Das fordern 46 Hochschulen und Universitäten in einem offenen Brief an die Regierung.
15:00 Uhr: Unterschiedliche Gedanken zur Wende
Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer bezeichnet die jüngsten Veränderungen in der DDR gegenüber der Wochenzeitschrift Sonntag als eine einmalige historische Chance für die Demokratie, für die Demokratie in Europa überhaupt. Dass sich Politiker "auf die Bühne stellen und mit Hunderttausenden reden und nicht Reden halten", zeuge seiner Ansicht nach von einer ungeheuren politischen Kultur, die im Land vorhanden sei.
In der taz bescheinigt Pfarrer Friedrich Schorlemmer vom Demokratischen Aufbruch der SED ein intellektuelles Potential, über das man nur staunen könne. Sie sei grundsätzlich erneuerungsfähig. Wie sie aber nach 40 Jahren das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen solle, sei eine ganz andere Frage. Zuviel wäre geschehen, wie gerade in diesen Tagen immer deutlicher werde.
Die Neue Berliner Illustrierte konstatiert dagegen unter der Überschrift "Wandlitzer Perspektiven", dass die alte Garde mit ihrer als "unbeirrt" bezeichneten Politik den Blick für die Realitäten im Land verlor und ihr so das Volk abhanden gekommen sei.
14:30 Uhr: Friedensforscher bleiben skeptisch
Das Stockholmer Institut für Friedensforschung SIPRI empfiehlt mit Blick auf das Tempo der politischen Annäherung beider deutscher Staaten Realismus statt Spekulation. In "absehbarer Zeit" sei weder mit einem entmilitarisierten Deutschland noch mit einer Auflösung der Blöcke als Folge des Wandels in der DDR zu rechnen.
14:00 Uhr: Ehrendoktor für Stolpe
Der Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche Manfred Stolpe erhält an der Universität Greifswald die Ehrendoktorwürde.
13:30 Uhr: Scharfe Kritik am Wohnungsbauprogramm der DDR
Das Kollektiv des Lehrstuhls für Bauklimatik der Technischen Universität Dresden übt scharfe Kritik am zurückgetretenen Minister für Bauwesen Wolfgang Junker. In Anbetracht des "unübersehbaren volkswirtschaftlichen Schadens" der von ihm zu verantwortenden Baupolitik sei er vor Gericht zu stellen. Er habe "zur Zerstörung unserer Städte durch den Zerfall der vom Krieg verschonten Altbausubstanz" und damit "zum Identitätsverlust der Bürger in ihren Städten" beigetragen.
Nie sei der "Vorrang des Neubaus 'auf der grünen Wiese' vor der Reparatur eines vorhandenen Gebäudes" in Frage gestellt worden. Mit der Präferenz auf den Neubau von Wohnungen habe Junker ökonomische Grundgesetze missachtet, denn der Verfall der Altbausubstanz habe damit nie aufgewogen werden können. Mehr noch: da man "billigem Bauen" den Vorrang gab, habe sich für die Neubauten ein unvertretbar hoher Reparaturaufwand ergeben. So stehe zum Beispiel der hohe Heizenergiebedarf in keinem Verhältnis zu den Investitionseinsparungen, die durch das "billige Bauen" angestrebt worden waren.
12:30 Uhr: Grenzöffnung offenbart auch Probleme
Während die Freude über die neu gewonnene Reisefreiheit der DDR-Bürger anhält - in den vergangenen fünf Tagen sind dutzende neue Grenzübergänge eröffnet worden, in Berlin allein zehn - werden auch kritische Stimmen laut. In ihrem Zentralorgan Neue Zeit warnt die Ost-CDU, im Jubel "dürften keineswegs die wirtschaftlichen Probleme außer Acht gelassen werden." Die gefüllten Regale im Westen aber auch der hohe Umtauschkurs von DDR-Mark in Westgeld sollten den Blick für die mangelnde Effizienz der eigenen Ökonomie schärfen.
Mit den offenen Grenzen entwickelt sich die DDR in ein Paradies für Schieber und Spekulanten. Franz Steinkühler, Chef der bundesdeutschen IG-Metall, warnt zudem vor einem Ausverkauf der DDR. Um zu Devisen zu kommen, könnte die DDR "alles, was nicht niet- und nagelfest ist", im Westen verkaufen. Außerdem sieht Steinkühler die Gefahr, Verleihfirmen könnten sich darauf spezialisieren, DDR-Arbeitskräfte günstig an bundesdeutsche Firmen zu vermitteln.
Währenddessen gibt es im Außenhandelsministerium der DDR ganz neue Überlegungen. Wie Staatssekretär Christian Meyer dem Pariser Wirtschaftsblatt La Tribune de l'Expansion mitteilt, schließt man den Gedanken eines Beitritts der DDR zur Europäischen Gemeinschaft langfristig nicht aus. Zuvor müssten aber andere Formen der Kooperation gefunden werden.
Lübecker Zahnärzte reagieren derweil auf den von der Ausreisewelle ausgelösten Fachkräftemangel im Osten. Sie bieten einen Notdienst für Besucher aus der DDR an.
13. November: Modrow ist neuer Regierungschef.
20:00 Uhr: Modrow ist neuer Regierungschef
Der bisherige 1. Sekretär der Bezirksleitung Dresden hat den Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erreicht. Hans Modrow wird bei nur einer Gegenstimme zum neuen Ministerpräsidenten der DDR gewählt.
Der 1928 als Arbeitersohn in Ueckermünde geborene Modrow hat eine lange Parteikarriere hinter sich. Von 1953 bis 1961 FDJ-Sekretär von Berlin, leitet er danach die SED im Kreis Berlin-Köpenick . 1967 wird er Mitglied des ZK und ist in der SED-Bezirksleitung von Berlin für Propaganda und Agitation zuständig. In seiner Funktion als SED-Bezirkschef von Dresden gibt er sich reformfreudig und aufgeschlossen. Sein selbstbewusstes Auftreten verschafft ihm nicht nur Freunde im Zentrum der Macht.
Das Politbüro bleibt ihm bis zum Herbst 1989 verschlossen. Noch im Frühjahr hat ihn ZK-Sekretär Günter Mittag öffentlich wegen "schlechter Parteiarbeit" gerüffelt. Seinem Ruf als "Hoffnungsträger" der SED hat das eher genützt. Dabei bemüht er sich noch im Herbst, die Reformbewegung in Dresden abzuwürgen. Früher als andere Genossen hat Modrow allerdings erkannt, dass ohne beherzte Niederschlagung der Demonstrationen, die Machterosion der Partei nicht aufzuhalten ist.
Mit Reformdialektik kann er sich erfolgreich als Alternative zum verkrusteten Machtapparat der SED stilisieren. In den nächsten Monaten wird er dennoch nur zum Verwalter des unaufhaltsamen Niedergangs der alten Machtverhältnisse in der DDR.
19:00 Uhr: Nicht aufgeben, nicht zufrieden geben - eine Million Menschen demonstrieren im ganzen Land
Hunderttausende gehen auch an diesem Montag demonstrieren. Unter anderem in Dresden (100.000), Karl-Marx-Stadt (50.000), Cottbus (10.000), Magdeburg (10.000), Neubrandenburg(3.000), Bautzen (10.000), Heiligenstadt (9.000), Halle (8.000), Sonneberg (7.000), Apolda (5.000), Pößneck (4.000), Zwickau (3.000) und Schwerin (10.000) sprechen sie sich für freie Wahlen und eine dauerhaft verbriefte Reisefreiheit aus.
In Leipzig, wo die Demonstrationen ihren Anfang nahmen, sind auch heute wieder bis zu 300.000 Leute auf der Straße. Vier junge Leute tragen einen Sarg mit der Aufschrift "Machtanspruch der SED." Ein Transparent stellt fest: "Die Mauer hat ein Loch, aber weg muss sie doch!"
Im Vorfeld der Montagsdemo haben sich Leipziger Vertreter mehrerer Oppositionsgruppen auf eine "Koalition der Vernunft" verständigt. Ihr gehören unter anderem das Neue Forum, Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt, die SDP und einige ökologische Basisgruppen an. In einer gemeinsamen Erklärung fordern sie die Zulassung der SDP und aller basisdemokratischen Gruppen, Beteiligung an der Ausarbeitung eines Wahlgesetzes und auf dessen Basis freie Wahlen. Für ihre "politikfähigen Vertreter" wird ein Podium in den Medien gefordert. Wahlen sollen erst dann abgehalten werden, wenn die Opposition Gelegenheit hatte, sich zu profilieren. Ein Volksentscheid für Neuwahlen solle durchgeführt werden. Schließlich sprechen sie sich gegen Gewalt in Wort und Tat aus. "Schmährufe sind nicht unser politischer Umgangston!"
Auch wenn Beobachter von einer insgesamt ruhigen und entspannten Atmosphäre sprechen, werden die Töne schärfer. Der neue Volkskammerpräsident Maleuda wird als Vasall der SED beschimpft. Die Schuldigen an der Krise solle man bestrafen. Erstmals ist ein weißes Transparent zu sehen, auf dem in schwarz-rot-goldener Schrift "Deutschland einig Vaterland" zu lesen ist. Bald werden auch dementsprechende Sprechchöre zu hören sein. Und Neid macht sich breit - auf die Berliner, die - so sehen das viele hier - schon in einer wiedervereinigten Stadt leben würden. "Die Berliner haben's gut - die haben erreicht, was sie wollten", steht auf einem handgeschriebenen Zettel, der an einem Baum klebt. "Aber unser Leipzig ist immer noch kaputt!"
16:00 Uhr: Mielke macht sich lächerlich
Der bisherige Minister für Staatssicherheit Erich Mielke lässt sich in der Volkskammer zu den Praktiken seiner Behörde befragen. Zuvor hat die Volkskammer einen zeitweilgen Ausschuss eingesetzt, der Fälle von Amtsmissbrauch prüfen soll. Es geht um Korruption, persönliche Bereicherung und andere "Handlungen, bei denen der Verdacht auf Gesetzesverletzungen besteht." In ihm sind alle Fraktionen mit zwei Abgeordneten vertreten.
Als Mielke in seinem Statement versucht, die Arbeit der Stasi zu verharmlosen, kommt es zu lauten Unmutsäußerungen von allen Seiten im Parlament. Mit Verwunderung muss der bisher meistgefürchtete (und meistgehasste) Mann des Landes erleben, dass Abgeordnete ihm Widersprechen. Der Lächerlichkeit gibt er sich indes mit der Bemerkung, seine Mitarbeiter hätten "einen außerordentlich hohen Kontakt zu allen werktätigen Menschen" selbst preis. Nach weiteren Einwürfen ruft Mielke verzweifelt: "Aber ich liebe euch doch, ich liebe doch alle Menschen!"
Mit seinem zehnminütigen Auftritt demontiert sich der zunehmend verunsicherte Mielke selbst und trägt nachhaltig zur Demoralisierung der Mitarbeiter des MfS bei. Wie unwirklich muss den Abgeordneten die eisige Atmosphäre der Angst erscheinen, die bis vor kurzem noch von diesem kleinen, lächerlichen und Phrasen stammelndem Mann ausging.
Schon am Morgen hat ein Mielke-Stellvertreter, Generalleutnant Wolfgang Schwanitz, in dem NDPD-Organ "National Zeitung" vorsichtige Selbstkritik an der bisherigen Arbeit des MfS geübt. "Andersdenkende", verspricht er, würden in Zukunft nicht mehr verfolgt.
Eine Tonabschrift von Mielkes absurden Auftritt, können Sie hier lesen.
15:30 Uhr: Mehrheit der DDR-Bürger wünscht einen demokratischen Sozialismus
Wie das Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften mitteilt, wünschen 93 Prozent der DDR-Bürger ein verändertes Wahlsystem. 87 Prozent möchten in ihrer Heimat bleiben. Immer noch 55 Prozent der Menschen halten den Aufbau eines demokratischen Sozialismus für möglich.
In der BBC erklärt Prof. Jens Reich vom Neuen Forum, die meisten Anhänger der Reformbewegung würden den Wiederaufbau eines Sozialismus befürworten, der für die Mehrheit der Bevölkerung akzeptabel wäre. Eine kapitalistische Gesellschaft sei nicht das Ziel. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten käme für ihn deshalb vorerst nicht in Frage.
14:30 Uhr: Estland löst sich von der Sowjetunion
Das Parlament von Estland erklärt den Anschluss an die Sowjetunion 1940 für "nichtig." Er sei auf militärischen Druck hin erfolgt. Die kleine baltische Republik - bis 1918 Teil des Russischen Reiches und danach selbstständig - ist im Hitler-Stalin-Pakt der Interessensphäre der Sowjetunion zugeschlagen worden. Massendeportationen sind die Folge. Zahlreiche Esten landen im Gulag. Während des Russlandfeldzugs von 1941 an von den Deutschen besetzt, erfolgt nach Besetzung durch die Rote Armee 1944 die erneute Eingliederung ins Sowjetreich. In einem stattlich organisierten Bevölkerungsaustausch werden vermehrt Russen in Estland angesiedelt.
Die schlechten Erfahrungen mit Russland lassen Ende der 1980er Jahre im ganzen Baltikum den Wunsch nach Unabhängigkeit wachsen. Estland führt heute auch eine neue Währung ein. Die vollständige Souveränität erlangt die kleine Nation erst 1991.
14:00 Uhr: Scheidender Finanzminister: DDR ist faktisch pleite
Tumultartige Szenen spielen sich bei der Rücktrittsadresse von Finanzminister Ernst Höfner ab. Seit Jahren hat er den Staatshaushalt der DDR als ausgeglichen dargestellt. Nun müssen die Abgeordneten zur Kenntnis nehmen, dass man schon seit den 1970er Jahren nur durch die Aufnahme von Krediten überlebt habe.
Die Inlandsverschuldung beträgt 130 Milliarden Mark. Höfner äußert sich zur Verschlechterung der Exportleistung in den letzten Jahren und zur Abwertung der DDR-Mark gegenüber der DM. Er übernimmt die Verantwortung für die Inflationsrate und die Preisentwicklung.
Zahlreiche Abgeordnete konstatieren, man habe sie belogen. Wichtige Informationen zur wirtschaftlichen Lage des Landes seien ihnen vorsätzlich verwehrt worden.
Die horrende Auslandsverschuldung, die Höfner als Ko-Autor der Schürer-Analyse am 31. Oktober gegenüber dem Politbüro offen gelegt hat, verschweigt er im Parlament. Sie unterliegt nach wie vor der Geheimhaltung. Die neue Offenheit, die von den Abgeordneten eingefordert wird, bleibt ihnen einstweilen verwehrt.
13:20 Uhr: Bau von Erdgasleitung in Gefahr
Etwa 20 Prozent der auf der Erdgasleitungsbaustelle Wolodga in der UdSSR eingesetzten Bauarbeiter aus der DDR wollen nach Bekanntgabe der neuen Reiseregelungen ihren Montageeinsatz beenden, um in den Westen reisen zu können. Wie der Direktor des Bau- und Montagekombinats Chemie dem MfS mitteilt, ist damit der Fortgang des Baugeschehens an der Erdgasleitung gefährdet.
13:00 Uhr: Blockparteien fordern Offenheit in der Volkskammer ein
Bei der Aussprache in der Volkskammer bezeichnet es der Abgeordnete Michael Kopalski von der DBD als unverantwortlich, dass "es den Fraktionen der Volkskammer über Wochen verwehrt wurde", über die Entwicklung im Lande mit zu entscheiden. Immer wieder hat das Präsidium um Host Sindermann die Sitzung des DDR-Parlaments verschleppt. Kopalski fordert die schonungslose Offenlegung der wirtschaftlichen Bilanz einschließlich der Finanzen und Devisen.
Für die Liberaldemokraten spricht sich Hans-Dieter Raspe für eine neue Wirtschaftspolitik aus, die auch die Gründung von Aktiengesellschaften und mehr Eigenständigkeit der Betriebe einschließt.
12:45 Uhr: BSR muss zusätzliche Kräfte beschäftigen
Die Stadtreinigung von West-Berlin muss 250 zusätzliche Hilfskräfte einsetzen, um den Müll der Besucher zu beseitigen.
12:00 Uhr: Stoph übernimmt Verantwortung für die Krise
In einer Aussprache in der Volkskammer übernimmt Noch-Ministerpräsident Willi Stoph die Verantwortung für die Krise im land. Die von ihm geführte Regierung ist ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden. Allerdings sei ihre Arbeit immer wieder durch Eingriffe der SED behindert worden, ihre Autorität war letztlich eingeschränkt. Mit seinem Rücktritt will Stoph den Weg für eine Erneuerung der Partei frei machen.
11:30 Uhr: Reisefreiheit bleibt
Im SED-Zentralorgan Neues Deutschland gibt die Regierung bekannt, dass die neue Reisefreiheit langfristig bestehen bleibt. Die Regelung werde zur Grundlage des neuen Reisegesetzes werden. Niemand habe vor, sie zurückzunehmen. Das Verteidigungsministerium bestätigt die Aufhebung der Sperrzonen entlang der Berliner Mauer und an der gesamten innerdeutschen Grenze. Erstmals wird es auch Volkspolizisten und Grenzsoldaten gestattet, in den Westen zu reisen.
Der Ost-West-Reiseverkehr flaut auch zu Wochenbeginn nicht ab. In Berlin wird der Busverkehr zwischen den beiden Stadthälften wieder aufgenommen - erstmals seit 28 Jahren. Weiterhin bilden sich lange Schlangen vor Sparkassen, Banken und Ämtern. Den Einzelhandel freut es. Mit dem Begrüßungsgeld von 100 DM erfüllen sich die DDR-Bürger kleine, lange gehegte Wünsche. Viele Supermärkte sind leer gekauft.
10:00 Uhr: Maleuda ist neuer Volkskammerpräsident
Überraschend wird nicht der bekannte und populäre Manfred Gerlach zum Volkskammerpräsident gewählt. Stattdessen setzt sich der weniger bekannte Günther Maleuda in einer spannenden Stichwahl durch. Der 58jährige Maleuda hat einen Doktorgrad in Agrarwissenschaften. Seit 1981 Abgeordneter der Volkskammer, steht er der DBD erst seit 1987 vor. Möglicherweise bringt ihm das Vorteile bei seiner Wahl. Gerlach hat sich zwar früh zu Reformen bekannt. Doch ist er seit 1967 Vorsitzender der Blockpartei LDPD und sitzt sogar schon seit 1960 als stellvertretender Staatsratsvorsitzender sozusagen im Vorhof der Macht.
09:00 Uhr: Volkskammerpräsident tritt zurück
Nach wochenlangen Protesten gegen seine Person zieht sich Horst Sindermann (SED) von seinem Amt als Präsident der Volkskammer zurück. Damit wird die Wahl eines neuen Parlamentspräsidenten notwendig. Zur Wahl stellen sich Manfred Gerlach von der LDPD und Günther Maleuda, Vorsitzender der Demokratischen Bauernpartei (DBD).
Der 74jährige Kommunist Sindermann hat 1961 als Chefagitator der Partei die in der DDR gebräuchliche offizielle Bezeichnung der Berliner Mauer als "antifaschistischer Schutzwall" erfunden. 1973 zum Vorsitzenden des Ministerrates gewählt, wechselt er 1976 mit der Personalrochade, die Erich Honecker die umfassende Herrschaft - also neben dem Amt des Generalsekretärs auch die des Staatsratsvorsitzenden und des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates - sichern soll, ins Amt des Volkskammerpräsidenten. Der zwischenzeitliche Staatsratsvorsitzende Willi Stoph übernimmt von Sindermann das weniger bedeutende Amt des Ministerpräsidenten.
12. November: Schießbefehl an der Mauer aufgehoben.
21:00 Uhr: Überwiegende Mehrheit der Bundesdeutschen für Anerkennung der bestehenden polnischen Westgrenze
Einer Umfrage des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig zufolge glaubt lediglich ein Drittel der Befragten, dass die neue Führung der SED das Vertrauen der DDR-Bevölkerung zurückgewinnen wird. Fast zwei Drittel halten das für unwahrscheinlich.
Auch das ZDF-Politbarometer veröffentlicht neueste Umfrageergebnisse. Danach glaubt etwa die Hälfte der Bundesbürger an eine Wiedervereinigung in den nächsten Jahren. In der heiklen Frage der polnischen Westgrenze sprechen sich 78 Prozent für die Oder-Neiße-Linie, also die jetzige Grenze zwischen der DDR und Polen aus.
Bislang hat nur die DDR die im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 festgelegte deutsch-polnische Grenze völkerrechtlich anerkannt. Auch die Bundesrepublik erkennt im Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 die Oder-Neiße-Linie als "unverletzliche" Westgrenze Polens an - allerdings unter dem Vorbehalt einer Änderung im Rahmen eines endgültigen Friedensvertrages. Im Wendeherbst 1989 wächst in Polen die Furcht, ein wiedervereinigtes Deutschland könnte sein neu gewonnenes politisches Gewicht in Europa zu einer Revision seiner Ostgrenze einsetzen.
Durch die Oder-Neiße-Linie ist etwa ein Viertel des deutschen Staatsgebietes in den Grenzen von 1937 abgetrennt. Bis 1950 sind etwa 90 Prozent der deutschen Bevölkerung dieser Gebiete in das verbliebene Deutschland geflohen. In der Bundesrepublik üben seither die Vertriebenenverbände einen nicht unerheblichen Einfluss auf politische Entscheidungen aus, was sich zum Beispiel in der extremen Ablehnung des Bundeskanzlers Willy Brandt und seiner Ostpolitik und in der ambivalenten Haltung der Unionsparteien in der Frage der polnischen Westgrenze spiegelt. Offiziell wird diese zwar seit 1970 anerkannt. Doch mit dem Hofieren der Vertriebenenverbände werden immer wieder revisionistische Hoffnungen geschürt.
Geklärt wird die Frage in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, die 1990 zur deutschen Einheit führen. Die Alliierten machen ihre Zustimmung zur deutschen Einheit auch von der Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als endgültige deutsche Ostgrenze abhängig. Resititutionshoffnung bleiben der politischen Auseinandersetzung dennoch erhalten, da der Vertrag zwar den endgültigen Grenzverlauf zwischen Deutschland und Polen regelt, die Frage der Besitzverhältnisse aber ausspart.
18:00 Uhr: Konzert für Berlin
Die Westberliner Philharmoniker veranstalten ein spontanes Sonderkonzert, das im Fernsehen übertragen wird.
In der Deutschlandhalle in West-Berlin findet ein elfstündiges Rockkonzert mit namhaften Gruppen aus beiden Teilen des Landes statt. Etwa 50.000 Fans aus Ost und West feiern ihre Stars. Der Eintritt zu der vom SFB in nur zwei Tagen organisierten Veranstaltung ist frei. Ursprünglich als Konzert vor dem Reichstag geplant, wird es aus Sicherheitsgründen in die Deutschlandhalle im Berliner Westen verlegt.
Das Line-Up vereint so unterschiedliche Künstler und Bands wie Pankow, BAP, Melissa Etheridge, Die Zöllner, Silly, Marius Müller-Westernhagen, Die Toten Hosen, Nina Hagen, die Puhdys, Nena und andere.
Als Joe Cocker, der extra seine Tournee unterbricht und nach Berlin eingeflogen wird, seinen Hit "With A Little Help From My Friends" darbietet, singen im Backgroundchor Heinz-Rudolf Kunze, Udo Lindenberg, Konstantin Wecker, Ulla Meinecke und Tamara Danz von Silly.
Ein emotionaler Höhepunkt ist der Auftritt Udo Lindenbergs, der den Text eines seiner bekanntesten Lieder den aktuellen Ereignissen anpasst: „… Entschuldigen sie, ist das der Sonderzug aus Pankow? Wir müssen mal eben da hin; mal eben nach West-Berlin. Man glaubt es ja kaum, es ist ja alles wie ein schöner Traum – doch keine Angst vor’m Erwachen, wir werden jetzt so weiter machen! …“
16:00 Uhr: Politbüro beruft Sonderparteitag ein
In den vergangenen Tagen - auch unter dem Druck der Ereignisse - hat es in der SED-Spitze kontroverse Diskussionen zum weiteren Vorgehen und zu einer Reaktion mit Signalwirkung gegeben. Während das Politbüro bislang eher die Einberufung einer Parteikonferenz - es wäre die vierte in der Geschichte der SED - präferiert, wächst an der Basis die Forderung nach einem Sonderparteitag. Letzterer ist in der Geschichte der SED ohne Beispiel. Da auf einer Parteikonferenz nur Teile der Führung, auf einem Parteitag aber die gesamte Führung neu gewählt wird, hat sich das Politbüro bislang dagegen gesträubt, dem Wunsch der Basis nachzugeben. Drei Tage nach dem Fall der Mauer - dem offensichtlichsten Ausdruck seiner gescheiterten Politik - stimmt das Politbüro der SED nun doch der Umwandlung einer Parteikonferenz Anfang Dezember in einen Sonderparteitag zu.
In den Bezirken Erfurt, Karl-Marx-Stadt, Halle, Magdeburg und Rostock sind derweil neue 1. Sekretäre der Bezirksleitungen gewählt worden.
14:00 Uhr: Modrow verlässt Dresden
Etwa 50.000 SED-Genossen verabschieden auf einer Kundgebung in Dresden den 1. Sekretär der Bezirksleitung Hans Modrow. Er soll in Berlin die neue Regierung der DDR führen. Begleitet vom Ruf "Reformen ja, Chaos nein - Hans, wir werden mit dir sein!" unterstreicht die Basis nochmals die Forderung nach einem Sonderparteitag. Diesen wünscht auch die Parteibasis in Leipzig. Auf einer Kundgebung von SED-Mitgliedern ist auf Transparenten zu lesen: "Haltung statt Spaltung!" und "Ich will Genosse bleiben, darum die Schuldigen vertreiben."
13:30 Uhr: Neue Jugendorganisation der Ost-CDU
Neben der Dominanz der SED scheint auch die der Jugendorganisation FDJ gebrochen. Nachdem schon am Freitag (10.11.) eine Urabstimmung an der Humboldt-Universität zu Schaffung eines unabhängigen Studentenrates mit einer krachenden Niederlage der FDJ endete - 85 Prozent der Studenten hatten sich für eine unabhängige Vertretung ausgesprochen - bekommt die "Kampfreserve der Partei" durch weitere neue Organisationen Konkurrenz.
Mit der Christlich-Demokratischen Jugend (CDJ) formiert sich eine der CDU nahe stehende Jugendorganisation. Sie versteht sich als antifaschistisch, dem Frieden, der Schaffung von Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung verpflichtete Organisation.
13:00 Uhr: Wirtschaftskrise in der DDR
An der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst diskutieren DDR-Ökonomen über die wirtschaftlichen Folgen der Maueröffnung.
12:00 Uhr: Schießbefehl aufgehoben
Es wirkt angesichts der jüngsten Ereignisse beinahe surreal, aber bis jetzt galt an der innerdeutschen Grenze und an der Mauer noch der Schießbefehl. Seit 1961 sind ihm allein an der Mauer 136 Menschen zum Opfer gefallen. Nun gibt Verteidigungsminister Heinz Keßler die Aufhebung der menschenverachtenden Order bekannt.
Die Grenztruppen seien ab sofort aufgefordert, "alles zu tun und mitzuhelfen, dass der nunmehr eingeleitete Reiseverkehr ordentlich und reibungslos verläuft." Des Weiteren hätten sie "alles in ihren Kräften Stehende zu tun, damit die allgemein anerkannte fixierte Staatsgrenze von niemandem verletzt wird und dass die für diesen Zweck eingerichteten Grenzanlagen von niemandem zerstört werden dürfen." Der Gebrauch oder Einsatz von Schusswaffen bleibt ab sofort untersagt.
Alle Sperrgebiete an der Mauer und an der innerdeutschen Grenze sind aufgehoben. Damit besteht zum ersten mal seit Jahrzehnten wieder freier Zugang zu allen Ortschaften in den Grenzgebieten. Eine Wanderung auf den Brocken im Harz ist nun zum Beispiel wieder problemlos möglich.
11:30 Uhr: Neues Forum Dresden will sich zur Wahl stellen
Die Dresdner Gruppe des Neuen Forums kündigt an, sich als politisch unabhängige Vereinigung zur Wahl stellen zu wollen. Nach erfolgter Zulassung wird man eigene Kandidaten aufstellen. Pfarrer Hanno Schmidt, Gründungsmitglied des Neuen Forums, berichtet in der Sächsischen Zeitung auch von einer Begegnung mit dem designierten Ministerpräsidenten Hans Modrow. Man sei darüber eingekommen, dass zunächst die Krise in der DDR überwunden werden müsse und man dann - auf dem sozialistischen Fundament - eine neue, farbenfrohe Gesellschaft aufbauen könne.
Derweil gibt Bezirksgerichtsdirektor Stranovsky bekannt, dass sich im Bezirk Dresden kein Teilnehmer an den Demonstrationen von Anfang Oktober mehr in Haft befindet. Er fügt hinzu, dass wohl zu spät erkannt worden sei, dass das Leben bestehende Gesetze längst in Frage gestellt hat.
11:00 Uhr: Krankenhäusern fehlt das nötige Personal
Im Leipziger Gewandhaus findet wieder das traditionelle Sonntagsgespräch mit Kurt Masur statt. Währenddessen herrscht im Leipziger Krankenhaus St. Georg, wie an vielen Orten im Land, aufgrund der Flüchtlingswelle Personalnotstand. In Dresden wenden sich Prominente an die Einwohner der Stadt. Die "normalen Lebensprozesse in der Stadt" seien zunehmend in Gefahr geraten. Durch die Massenabwanderung "sinken auch die realen Möglichkeiten, unser Dresden zum Besseren umzugestalten."
10:00 Uhr: Bitte um alliierte Zurückhaltung
In einem Telefonat ruft der Stab der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte in der DDR die Oberkommandos der amerikanischen, britischen und französischen Streitkräfte auf, "sich aus den Ereignissen herauszuhalten." Die Verantwortlichen der westlichen Streitkräfte versichern umgehend ihre Zurückhaltung.
09:00 Uhr: Erster Grenzübergang am Potsdamer Platz offen
In der Nacht haben Grenztruppen im Osten und Polizei im Westen die Sperranlagen abgebaut und die Bauarbeiten gesichert. Mehrere Betonplatten werden herausgenommen und der Boden planiert. Am Morgen kann ein neuer Grenzübergang am Potsdamer Platz - nur 500 Meter südlich des Brandenburger Tores - geöffnet werden. West-Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper und Ost-Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack übergeben den neuen Übergang, durch den der Druck auf die Mauer am Brandenburger Tor rasch abnimmt.
11. November: Grenzer besetzen die Mauer am Brandenburger Tor.
22:37 Uhr: Kommunikation gesichert
Zwischen den beiden Polizeipräsidien von Ost- und West-Berlin besteht nun eine direkte Telefonverbindung. Eine Stunde später kann auch direkter Funkverkehr aufgenommen werden.
19:00 Uhr: SED-Kreissekretär begeht Selbstmord
Der 1. Kreissekretär der SED in Perleberg (Bezirk Schwerin) ist, wie erst jetzt offiziell mitgeteilt wird, "infolge großen seelischen Drucks durch die gegenwärtigen politischen Ereignisse am 7. November freiwillig aus dem Leben" geschieden. Es ist der dritte Selbstmord eines SED-Kreissekretärs innerhalb von zwei Wochen.
17:57 Uhr: Erneut Massenandrang am Brandenburger Tor
Auf der Westseite des Brandenburger Tores haben sich am Nachmittag wieder 20.000 bis 30.000 Menschen versammelt. Polizeipräsident Schertz nutzt die neuen Kommunikationswege, um die Ost-Berliner Kommandeure zu bitten, die auf der Panzermauer postierten Grenzsoldaten vorübergehend abzuziehen. Er könne deren Sicherheit nicht länger garantieren. Währenddessen schließt die West-Berliner Polizei ihren Sperrriegel und schützt auch die nördliche Hälfte des Betonwalls mit Mannschaftswagen. Damit werden alle Versuche, die Mauerkrone zu erklimmen, endgültig unterbunden.
16:30 Uhr: Neuer Übergang an der innerdeutschen Grenze
Auch an der innerdeutschen Grenze hat der Besucherandrang zu chaotischen Szenen geführt. Obwohl die DDR-Grenzer schnell dazu übergegangen sind, die Besucher nahezu unkontrolliert ins Bundesgebiet reisen zu lassen, staut sich der Verkehr am Übergang Helmstedt (A2) zwischenzeitlich auf 40 Kilometer. Neue Übergänge sollen auch hier geschaffen werden. Bei Eckertal zwischen Bad Harzburg (BRD) und Stapelburg (DDR) im Harz wird der erste neue Grenzübergang geöffnet.
16:00 Uhr: Neues Forum warnt vor Ellenbogengesellschaft
Das Neue Forum warnt die Menschen in der DDR, sich durch die neu gewonnene Reisefreiheit nicht von der Forderung nach einem politischen Neuaufbau der Gesellschaft ablenken zu lassen. Die Bürger hätten mit ihren spontanen und furchtlosen Willensbekundungen im ganzen Land eine friedliche Revolution in Gang gesetzt, das Politbüro gestürzt und die Mauer durchbrochen. Jetzt sollen sie sich nicht durch Reisen und schulden erhöhende Konsumspritzen ruhig stellen lassen. "Wir werden für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen keine Gesellschaft haben, in der Schieber und Ellenbogentypen den Rahm abschöpfen." Solche klugen und weitsichtigen Warnungen verhallen im allgemeinen Freudentaumel. Das Tor zum Westen und seiner Glück versprechenden Konsumwelt steht weit offen. Für kritische Zwischentöne ist in der Euphorie des Mauerfalls kein Platz.
Währendessen drückt Walter Momper seine Unzufriedenheit mit der Bundesregierung aus. Bonn würde berlin bei der Bewältigung der Besucherströme allein lassen. Der Kanzler verstehe nicht, was sich in der DDR abspiele. Die Menschen in der DDR würden sich nicht für die Wiedervereinigung interessieren. Auch wenn Kohl mit der neu gewonnenen Identität der DDR-Bürger nichts anfangen könne, habe er sie als Realität zu akzeptieren. Dass Kohl sich nicht sofort mit Krenz treffen wolle, stößt bei Momper auf Unverständnis. Dreißig Tage würden so ins Land gehen, ohne dass praktische Schritte unternommen würden.
15:30 Uhr: Kohl will sich mit Krenz treffen
In einem Telefonat mit Bundeskanzler Kohl erklärt SED-Generalsekretär Krenz, die DDR habe "Vorleistungen" erbracht, durch die eine "gute Atmosphäre" für die Klärung von Problemen im ökonomischen Bereich und auch im Reiseverkehr entstanden sei. Diese Dinge können man nicht allein lösen. Kohl begrüßt die Öffnung der Grenze. Auf die Wünsche seines Gesprächspartners reagiert jedoch zurückhaltend. Gleichwohl wird ein Spitzentreffen der beiden Staatschefs noch für 1989 verabredet. Es soll in der DDR, aber nicht in Ostberlin stattfinden. Kanzleramtschef Seiters soll in den nächsten Tagen mit Vertretern der DDR-Regierung zusammentreffen, um die Begegnung vorzubereiten.
15:00 Uhr: Grenzübergänge an der Bernauer Straße und an der Jannowitzbrücke offen
Für den Massenandrang von Besuchern aus der DDR sind neue Grenzübergänge geöffnet worden. Seit Vormittag macht ein Mauerdurchbruch an der Bernauer Ecke Eberswalderstraße den Weg nach Wedding frei. Zu tausenden strömen die Menschen aus dem bevölkerungsreichen Prenzlauer Berg in den Westen. In Mitte wird ein Übergang an der Jannowitzbrücke geschaffen. Der U-Bahnhof, seit 1961 geschlossen, wird wieder für den Besucherverkehr geöffnet. Währenddessen wird beschlossen, den innerstädtischen Nahverkehr auszubauen. Zusätzliche Busse und Bahnen sollen eingesetzt werden.
14:30 Uhr: MfS hebt Alarmbereitschaft auf
Auch in der MfS-Zentrale wird die ständige Anwesenheitspflicht und Einsatzbereitschaft aller Mitarbeiter aufgehoben. Der stellvertretende Minister Mittig hebt den Mielke-Befehl vom Vortag auf.
14:00 Uhr: Polizeipräsident trifft Grenzkommandeur
Am Grenzübergang Friedrich-/Zimmerstraße setzt sich der West-Berliner Polizeipräsident Georg Schertz mit Oberst Günter Leo, dem stellvertretenden Kommandeur der Berliner Grenztruppe an einen Tisch. Mit dem Treffen - so vor wenigen Stunden noch undenkbar - wird das Zusammenwirken beider Sicherheitsorgane nach den Worten von Leo "auf eine ganz neue Stufe gestellt."
Der besonnene, aber beherzte und konsequente Einsatz der West-Berliner Polizei am Brandenburger Tor habe "zur Entspannung der dort zugespitzten Situation" geführt. Schertz bittet, im beiderseitigen Interesse eine telefonische Direktleitung zwischen beiden Polizeipräsidien zu schalten, um das polizeiliche Einsatzverhalten durch ständigen Kontakt besser abstimmen zu können. Zudem sollte der Übergang Invalidenstraße verbreitert und als Ventil ein Grenzübergang für Fußgänger an beiden Seiten des Brandenburger Tores eröffnet werden.
Das Gespräch findet in "betont freundlicher und offener Atmosphäre" statt und schafft die notwendige Vertrauensbasis, um die sich am Nachmittag wieder verschärfende Lage zu beherrschen.
13:45 Uhr: Gorbatschow bittet Kohl, Umsicht walten zu lassen
Unmittelbar im Anschluss an eine Sondersitzung des Bundestages teilt Bundeskanzler Kohl am Telefon Sowjetchef Gorbatschow mit, dass er den Beginn der Reformen in der DDR begrüße und ihrer Durchführung eine ruhige Atmosphäre wünsche. Jegliche Radikalisierung lehne er ab. Kohl versichert, er habe kein Interesse an einer Destabilisierung der Lage in der DDR.
Gorbatschow fordert den Kanzler nachdrücklich auf, der "Wende" der SED Zeit zu lassen und ihr nicht durch ungeschicktes Handeln Schaden zuzufügen. Es müsse unter allen Umständen verhindert werden, dass "die Entwicklung durch ein Forcieren der Ereignisse in eine unvorhersehbare Richtung, ins Chaos gelenkt" werde. Gorbatschow bittet Kohl, dass "sie ihre Autorität, ihr politisches Gewicht und ihren Einfluss nutzen werden, um auch andere in dem Rahmen zu halten, die der Zeit und ihren Erfordernissen entspricht."
Kohl und sein Berater Horst Teltschik atmen nach dem Gespräch erleichtert auf. Gorbatschow hat keine Drohungen oder Warnungen ausgesprochen, sondern nur die Bitte, Umsicht walten zu lassen. Teltschik wird in sein Tagebuch notieren: "Nun bin ich endgültig sicher, daß es kein gewaltsames Zurück mehr geben wird." Eine Wiederholung des 17. Juni 1953 wird immer unwahrscheinlicher.
13:30 Uhr: Gysi mahnt Reisegesetz an
In der Berliner Zeitung mahnt Gregor Gysi, die provisorische Reiseregelungen schnell in rechtverbindliche Gesetze umzuwandeln. Die gegenwärtige Zwischenregelung hält der Rechtsanwalt für problematisch. Ausnahmeregelungen ohne Rechtsgrundlage können nicht nur "im positiven Sinne für die Bürger angeordnet" werden. Theoretisch könnten sie auch zum Nachteil des Bürgers ausgelegt werden.
13:00 Uhr: Besucheransturm am ersten Wochenende nach dem Mauerfall
Seit Donnerstag sind an den Grenzübergängen und bei den Dienststellen der Volkspolizei mehr als vier Millionen Visa ausgestellt worden. Die Züge zum Übergang Helmstedt an der innerdeutschen Grenze sind zu 200 Prozent ausgelastet. Währenddessen konstatiert der Verkehrsfunk in West-Berlin resignierend: "Stehender Fußgängerverkehr auf dem Tauentzien." Wie viel Menschen in die Zweimillionenstadt einreisen- ob 500.000 oder eine Million - kann niemand mehr zählen. Der Autoverkehr in der Innenstadt ist zusammengebrochen, mehrere U-Bahnlinien auch. Lange Schlangen bilden sich vor Sparkassen, Banken und Ämtern, wo viele DDR-Bürger ihr Begrüßungsgeld abholen.
12:10 Uhr: "Erhöhte Gefechtsbereitschaft" wird aufgehoben
Streletz wird vom Chef der Grenztruppen über die Normalisierung der Lage am Brandenburger Tor informiert. Mit Unterstützung der West-Berliner Polizei sei es gelungen, die Mauer von den Besetzern zu räumen. Kurz darauf erteilt Keßler - unter Rücksprache mit Krenz - die Weisung die "Erhöhte Gefechtsbereitschaft" aufzuheben. Die Artillerieregimenter beginnen, ihre schweren Waffen zu entmunitionieren. Die übrigen Truppenteile gehen in das normale Dienstregime zurück.
12:00 Uhr: Panik unter den Soldaten
Der stellvertretende Verteidigungsminister Horst Brünner erklärt in einem Rundfunk Interview in Radio DDR I, die Armee stünde nicht unter "Erhöhter Gefechtsbereitschaft" - Ausbildung und militärisches Leben würde sich "nach normalem Regime" vollziehen. Bei den beiden sehr wohl seit 24 Stunden unter Gefechtsbereitschaft stehenden Regimentern, lösen die Äußerungen Panik und Unverständnis aus. Die Soldaten, die befürchten müssen, dass ihr Einsatz einen Bürgerkrieg auslösen wird, erleben, dass ein führender Repräsentant des Ministeriums Medien und Volk belügt und versucht, sich aus der Verantwortung zu ziehen.
11:00 Uhr: Keßler erwägt Armeeeinsatz
Generaloberst Host Stechbarth, Chef der Landstreitkräfte der NVA, erhält einen alarmierenden Anruf seines Verteidigungsministers. Keßler erklärt: "Man hat die Mauer besetzt!" und fragt nach, ob Stechbarth zwei Regimenter nach Berlin marschieren lassen kann. Der weist Keßler auf die unabsehbaren Folgen von Truppenbewegungen durch Berlin hin: "Habt ihr euch die Konsequenzen überlegt?"
Das Kommando der Landstreitkräfte kommt schnell zu dem Schluss, dass angesichts überfüllter Straßen und dem unbeschreiblichen Verkehrschaos in Berlin, schon bei der Anfahrt der beiden Regimenter Auseinandersetzungen zu befürchten sind. Militärhandlungen scheinen in dieser Lage keinen Sinn zu machen.
Im Verteidigungsministerium werden derweil die Leiter der wichtigsten Abteilungen darüber informiert, dass seit gestern die 1. Motorisierte Schützendivision in Potsdam und das Luftsturmrgiment-40 in Lehnitz in "Erhöhter Gefechtsbereitschaft" stehen. Streletz sieht die "Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit dieser Maßnahme" von der Mehrheit im Ministerium in Frage gestellt. Die Spitze des Ministeriums ist gespalten.
10:30 Uhr: Kommunikation gewünscht
Die erfolgreiche Kooperation von DDR-Grenztruppen und West-Berliner Polizei am Brandenburger Tor hat eine erste Vertrauensbasis zwischen den Einsatzleitung in Ost und West geschaffen. Um weiteren ernsten Gefahren weniger spontan und zufällig begegnen zu können, ist der Aufbau stabiler Kommunikationswege dringend erforderlich.
Seit der sowjetischen Blockade West-Berlins 1948 sind die direkten Verbindungen zwischen den Polizeibehörden beider Stadthälften gekappt. Die Alliierten verfügen allerdings noch über intakte Telefonverbindungen. Und so hat am Morgen die britische Befehlszentrale in Absprache mit der sowjetischen Botschaft die Erlaubnis für die West-Berliner Polizei erwirkt, den Mauerstreifen überhaupt betreten zu dürfen.
Nach Abschluss des Einsatzes übermittelt die Senatskanzlei dem DDR-Außenministerium den Wunsch des Polizeipräsidenten, weitere Maßnahmen am Brandenburger Tor abzustimmen. Am Übergang Invalidenstraße wird Kontakt aufgenommen und - in Abstimmung mit den westlichen Alliierten - ein Spitzentreffen zwischen dem Polizeipräsidenten von West-Berlin und dem Kommandeur des Grenzkommandos Mitte vereinbart.
09:30 Uhr: Loch in die Mauer gerissen
Während die Abriegelung des Betonwalls am Brandenburger Tor noch läuft, gelingt es einer kleinen Gruppe, ein frei gemeißeltes etwa drei Quadratmeter großes Segment mit einem Jeep aus der Mauer herauszureißen. Nachdem die West-Berliner Polizei ankündigt, bei weiteren Beschädigungen der Mauer Festnahmen durchzuführen, beginnt sie mit Helm, Schild und Schlagstock einzuschreiten. Die Beamten sind im Umgang mit Hausbesetzungen und dergleichen erfahren und können die private Abrissaktion schnell beenden. Das Mauersegment wird wieder aufgerichtet und von Ost-Berliner Seite zurückgezogen, in die Mauer eingepasst und verschweißt.
09:00 Uhr: Stasi und NVA beraten Ergebnisse der ZK-Tagung
Wie nach Tagungen des ZK der SED üblich, finden heute Versammlungen von SED-Mitgliedern in Betrieben, Einrichtungen und staatlichen Institutionen statt. Dort sollen die richtungweisende Rede des Generalsekretärs und die wegweisenden Beschlüsse des ZK-Plenums "erläutert" und "ausgewertet" werden. Auch im MfS findet eine Parteiaktivversammlung statt. Das einleitende Referat hält nicht mehr Noch-Minister Erich Mielke, sondern Krenz-Spezi Wolfgang Herger. Die Ablösung Honeckers und der Anteil des MfS - in Person Mielkes - daran wird noch einmal ausgeführt. Anschließend werden Vorwürfe laut, die Partei habe die Stasi in den letzten Wochen im Stich gelassen. Offenbar laufend wird Herger während der Sitzung über die "außerordentlich komplizierte Lage" am Brandenburger Tor informiert. West-Berliner "Provokateure" seien im Begriff, die Mauer einzureißen. Maßnahmen seien eingeleitet. Man hoffe, die "Vernunft auf der anderen Seite" werde siegen.
Auch im Ministerium für Nationale Verteidigung ist am Morgen die neue Situation kontrovers diskutiert worden. Armeegeneral Heinz Keßler, Verteidigungsminister der DDR, und seine beiden Stellvertreter Generaloberst Fritz Streletz und Generaloberst Horst Brünner werden mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. Man wirft ihnen "Anmaßung von Privilegien" und "Streben nach persönlichen Vorteilen" vor allem aber die Kopf- und Führungslosigkeit in der Nacht des 9. November vor. Immer wieder verlassen Keßler und Streletz den Raum, was ihnen den Vorwurf einbringt, sich der kritischen Diskussion entziehen zu wollen. Tatsächlich werden sie über die kritische Lage am Brandenburger Tor informiert. Da angeblich ein "Sturm auf das Brandenburger Tor" bevorstehe, wird die Sitzung abrupt abgebrochen. Der Sozialismus sei in Gefahr. Jetzt sei keine Zeit, weiter zu diskutieren. "Jeder an seinen Platz!"
08:05 Uhr: Räumung der Mauer beginnt
Viele Besetzer und Schaulustige haben den Ort der Eskalation inzwischen verlassen. Mit Wasserwerfern werden die Menschen auf der mauer nicht direkt bespritzt, sondern nass gerieselt. Dreihundert unbewaffnete Grenzsoldaten entern mit Holzleitern die Mauerkrone am Brandenburger Tor. Teils behutsam, teils mit Gewalt werden die letzten Mauerbesetzer zum Sprung in den Westen gedrängt. Trotz Stein- und Flaschenwürfen behalten die Grenzer ihre Nerven. Als die Mauer geräumt ist, fahren fünfzehn Mannschaftswagen der West-Berliner Polizei vor und sichern Stoßstange an Stoßstange die Rückeroberung des Betonwalls durch die DDR-Grenztruppen ab. Ein erneutes Besteigen des Mauerrondells ist nicht möglich.
08:00 Uhr: West-Berliner Polizei bietet Unterstützung an
Das DDR-Außenministerium nimmt Kontakt zum West-Berliner Senat und über die sowjetische Botschaft zu den West-Alliierten auf. Währenddessen schlägt der West-Berliner Polizeipräsident Schertz den DDR-Grenztruppen vor, die Mauerkrone am Brandenburger Tor mit friedlichen Mitteln zu räumen und anschließend mit Posten besetzt zu halten. Von West-Berliner Seite werde man flankierende Sicherheitsmaßnahmen einleiten und zur Entschärfung beitragen.
07:30 Uhr: Alarm am Brandenburger Tor
Als es Mauerspechten fast gelingt das südlich an die Panzermauer angrenzende Mauersegment herauszulösen und eine Bresche in die Mauer zu reissen, löst die Volkspolizei Alarm aus. Drei Hundertschaften des Stadtkommandanten marschieren auf . Die Grenztruppen führen zusätzliche Reserven heran. Der Einsatz der Wasserwerfer wird vorbereitet.
00:30 Uhr: Grenztruppen drohen mit Polizeigewalt
Die Berliner, die zu tausenden auf der Mauerkrone am Brandenburger Tor feiern, werden per Lautsprecher aufgefordert, den Handlungsraum der Grenztruppen zu verlassen. Andernfalls erfolge in zehn Minuten der Einsatz polizeilicher Mittel. Auch die West-Berliner Polizei fordert zum Verlassen der drei Meter breiten Panzermauer auf. Die Grenztruppen scheuen aber vor einem Einsatz von Gewalt zurück. Stattdessen räumen sie mehrfach den Vorraum des Brandenburger Tors und übergeben die Mauerspringer der Volkspolizei, die diese über die Grenzübergänge nach West-Berlin abschiebt.
00:00 Uhr: Grenztruppen erhöhen Präsenz
Die Grenztruppen am Brandenburger Tor erhöhen ihre Präsenz. Sechs Lastwagen mit Armeeangehörigen fahren vor. Ein Wasserwerfer wird "zur Demonstration" auf die Höhe des Brandenburger Tors vorgezogen. Kurze Zeit später wird ein zweiter Wasserwerfer in Stellung gebracht.
10. November: Trabbis so weit das Auge reicht.
22:30 Uhr: „Die Mauer muss weg!“
Die berauschenden Ereignisse des Tages und wohl auch einige alkoholische Getränke zeitigen auf der Panzermauer am Brandenburger Tor ihre Wirkung. In die Jubelstimmung mischen sich auch aggressive Töne und Schmährufe. Mit Vorschlaghämmern und Meißeln wird versucht, dem Ruf „Die Mauer muss weg!“ Taten folgen zu lassen.
Etwas weiter südlich, Richtung Potsdamer Platz, beginnen einige Übermütige, die Mauer aufzumeißeln und ihre Rohrauflagen zu demontieren. Zunehmend nervös beobachten die DDR-Grenzsoldaten die Szenerie. Die NVA-Einheiten bleiben in „Erhöhter Gefechtsbereitschaft“, für die MfS-Mitarbeiter gilt nach wie vor DDR-weit „Dienst bis auf Widerruf.“
Den Pariser Platz haben die Grenztruppen wieder geräumt. In den Osten springende Berliner werden aufgefordert, über die Mauer auf die Westseite zurückzugehen. Feuerwerkskörper werden in Richtung Brandenburger Tor abgefeuert. Gelegentlich fliegen geleerte Flaschen in Richtung Osten.
Ein Major der Grenztruppen am Checkpoint Charlie richtet einen förmlichen Protest an die West-Berliner Polizei. Sachbeschädigungen würden vorgenommen, Brandflaschen geworfen. Die Grenztruppen würden sich massiv bedroht fühlen. Die West-Berliner Beamten sollen "gegen diese Störungen" vorgehen, "um die bisher erreichten Regelungen nicht zu gefährden."
Gleichzeitig bauen die Grenztruppen eine Einschüchterungskulisse auf. Schutzhunde werden herangeführt. Die Truppen verstärken demonstrativ ihre Präsenz. Sollte irgendjemand in der Führung der DDR einen Anlaß oder Vorwand suchen, die Grenzöffnung gewalttätig rückgängig zu machen - die kritische Lage am Brandenburger Tor bietet sich geradezu dafür an.
21:00 Uhr: Kohl berichtet Thatcher und Bush über fröhliche Stimmung in Berlin
Zurück im Bundeskanzleramt in Bonn berichtet Kohl der britischen Premierministerin und dem Präsidenten der USA von den Ereignissen und seinen Eindrücken von Berlin. Insbesondere Margaret Thatcher steht den Entwicklungen skeptisch gegenüber. Auch wenn sie die Freude der Menschen in Berlin teilt, ist für sie ein wiedervereintes Deutschland nicht wünschenswert. Am Telefon hat sie Michail Gorbatschow wenige Stunden zuvor mitgeteilt, Mitterand wegen seiner Unterstützung der Idee einer Wiedervereinigung getadelt zu haben. Kohl wird in den nächsten Monaten viel diplomatisches Geschick beweisen müssen, um die britische Besatzungsmacht von den Vorzügen eines geeinten und friedlichen Deutschland im Zentrum Europas zu überzeugen.
18:30 Uhr: Sowjetische Soldaten bleiben in den Kasernen
Lagebesprechung in der sowjetischen Botschaft in Ost-Berlin. Der Oberkommandierende der Westgruppe der sowjetischen Truppen, General Boris Wassiljewitsch Snetkow, befiehlt seinen 350.000 Soldaten, in den Kasernen zu bleiben. Er folgt damit der durch Schewardnadse übermittelten Moskauer Handlungsdirektive, keine Aktionen zu unternehmen. Botschafter Kotschemassow weist die Truppen an, zu erstarren und in Sicht zu gehen.
18:05 Uhr: Glienicker Brücke offen
Zwischen Potsdam und West-Berlin wird der erste neue Grenzübergang geöffnet. Die Glienicker Brücke war bislang eher für den spektakulären Austausch von Agenten während des Kalten Krieges bekannt.
17:30 Uhr: SED-Kundgebung im Ost-Berliner Lustgarten
Egon Krenz propagiert das gerade erst vom ZK beschlossene Aktionsprogramm der Partei. Die neue Reiseverordnung zeige, dass man es mit der Politik der Erneuerung ernst meine „und dass wir allen die Hand geben, die mit uns gemeinsam gehen wollen."
17:00 Uhr: Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus
Bundeskanzler Helmut Kohl hat seinen Besuch in Polen abgebrochen, um am Abend vor dem Schöneberger Rathaus in West-Berlin auf einer Kundgebung zu sprechen. Dort tritt er gemeinsam mit Willy Brandt, Walter Momper und Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf. Während seiner Rede vor etwa 40.000 Menschen wird Kohl von West-Berlinern gnadenlos ausgepfiffen. Kohl betont die Einheit der Nation, erteilt aber radikalen Parolen und Stimmen eine Absage. Er fordert die Deutschen auf, „besonnen zu bleiben und klug zu handeln.“
Als Kohl weiterhin ausgepfiffen und ausgebuht wird, springt Momper ihm bei. Dass sich ausgerechnet der Chef eines rot-grünen Senats für ihn einsetzt, ist Kohl ausgesprochen peinlich, auch weil Momper von den Berlinern bejubelt wird. Als müssten sie die peinliche Situation ins Groteske steigern, stimmen die Politiker das Deutschlandlied an. Falsch intoniert wird der schiefe Gesang noch zusätzlich von den Pfiffen und dem Gejohle des Publikums begleitet.
16:30 Uhr: Neue Grenzübergänge werden geschaffen
An der Berliner Mauer beginnen Abrissarbeiten, um für die Besucherströme neue Übergänge zu schaffen. Im DDR-Fernsehen erklärt der noch amtierende Innenminister Friedrich Dickel, der Ministerrat habe auf einer Sondersitzung die Schaffung von sechs zusätzlichen innerstädtischen Grenzübergängen in Berlin bis zum 14. November beschlossen:
Jannowitzbrücke (11. November ., 8.00 Uhr), Eberswalder Str. (11. November, 8.00 Uhr), Puschkinallee (11. November, 13.00 Uhr), Potsdamer Platz (12. November, 8.00 Uhr), Wollankstraße (13. November, 8.00 Uhr), Stubenrauchstr. (14. November, 8.00 Uhr).
Am Berliner Außenring, der West-Berliner Grenze zum Bezirk Potsdam, werden vier weitere Grenzübergänge geschaffen: Glienicker Brücke (10. November, 18.00 Uhr), Mahlow (10. November, 8.00 Uhr, erweitert für Kfz), Falkenseer Chaussee (13. November, 18.00 Uhr), Teltow (14. November, 8.00 Uhr, Philipp-Müller-Allee, jetzt Lichterfelder Allee).
16:30 Uhr: Sowjetunion betrachtet Grenzöffnung als Angelegenheit der DDR
Der sowjetische Außenminister Edward Schewardnadse erklärt vor der internationalen Presse die Ereignisse in der DDR zu einer ureigenen Angelegenheit ihrer neuen Führung und ihres Volkes. Er „wünscht ihnen dabei vollen Erfolg.“ Die „Grenz- und Reiseregelung“ sei eine „richtige und kluge, eine weise Entscheidung.“ Sein Pressesprecher Gennadi Gerassimow spricht von einem „souveränen Akt der Regierung der DDR.“ Um die Stabilität zu wahren, sollten sich weder der Westen noch die Sowjetunion einmischen.
16:15 Uhr: Lothar de Maizière wird CDU-Chef
Der Hauptvorstand der Ost-CDU wählt den Rechtsanwalt Lothar de Maizière zum neuen Vorsitzenden. Der 49jährige hat sich als Verteidiger von Wehrdienstverweigerern einen Namen gemacht. Als Vizepräses der Evangelischen Kirche stellt er die seit langem belastete Verbindung zwischen der CDU der DDR und der Kirche wieder her. Seit 1987 ist er stellvertretender Vorsitzender des Berliner Rechtsanwaltskollegium, dem sein persönlicher Freund Gregor Gysi vorsteht. Im Dezember 1990 werden Vorwürfe bekannt, die ihn als IM der Stasi belasten. Ein Jahr später, nachdem sich die Vorwürfe bestätigen, endet seine politische Laufbahn.
16:00 Uhr: Opposition fordert "Runden Tisch"
Die sogenannten "Kontaktgruppe" der DDR-Oppositionellen trifft sich in der Tieckstraße in Ost-Berlin. In einer gemeinsamen Erklärung fordert sie die Einsetzung eines "Runden Tischs". Wie zuvor schon in Polen und Ungarn sollen Vertreter aller gesellschaftlichen Gruppen gemeinsam einen Weg aus der Krise finden. Die bisherigen Macht- und Verantwortungsstrukturen seien dazu nicht in der Lage.
In den Verhandlungen müssten Voraussetzungen für eine Verfassungsreform und für freie Wahlen geschaffen werden. Teilnehmen sollen neben den in der Volkskammer vertretenen Parteien und den neu entstandenen demokratischen Gruppierungen und Parteien auch unabhängige Vertreter der Werktätigen sowie Vertreter der Kirchen und der Künstlerverbände.
Der Aufruf ist von der Initiative für Frieden und Menschenrechte, der Vereinigten Linken, den Sozialdemokraten, der Initiativgruppe zur Gründung einer Grünen Partei und den Bürgerbewegungen Demokratie Jetzt und Demokratischer Aufbruch unterzeichnet.
15:45 Uhr: Volkskammer soll Korruption untersuchen
Günter Wendland, Generalstaatsanwalt der DDR, schlägt der Volkskammer die Einsetzung eines parlamentarischen Ausschusses zur Untersuchung von Korruption und Amtsmissbrauch vor. Bürger und Kollektive würden schon seit längerem in wachsendem Maße gegen Funktionäre aller Ebenen schwerwiegende Vorwürfe erheben. Namentlich genannten Personen werde neben Privilegien auch die persönliche Bereicherung, ungerechtfertigte Vorteilsgewährung oder Vergeudung von Volksvermögen vorgeworfen. Funktionsmissbrauch und Korruption scheint ein grundlegendes Problem der DDR-Planwirtschaft zu sein.
15:30 Uhr: Kritisches Buch wird nun auch in der DDR veröffentlicht
Wie der Verleger Roland Links, Leiter des Kiepenheuer-Verlags Leizig, mitteilt, wird Rolf Henrichs "Der vormundschaftliche Staat" nun auch in der DDR erscheinen. In seinem Buch hatte Henrich scharfe Kritik an der Staatsbürokratie und dem Mangel an Meinungsfreiheit in der DDR geübt. Die Schrift war im Frühjahr in der Bundesrepublik veröffentlicht worden. Henrich, ein Mitbegründer des Neuen Forums, hatte seine Kritik mit dem Ausschluss aus der SED und einem Berufsverbot bezahlt.
15:15 Uhr: FDGB-Spitze kündigt Rücktritt an
Die erst vor wenigen Tagen ins Amt gehobene Annelis Kimmel erklärt, der Bundesvorstand des FDGB werde am 29. November geschlossen zurücktreten. Dem Gewerkschaftsbund der DDR soll damit ein Neuanfang ermöglicht werden.
14:15 Uhr: Die Menschen tanzen am Brandenburger Tor
Tausende Berliner aus Ost und West halten die Panzermauer am Brandenburger Tor besetzt – eine für die DDR-Sicherheitsorgane unerträgliche Situation. Wiederholten Aufforderungen der West-Berliner Polizei, die Mauerkrone zu verlassen, wird nicht Folge geleistet. Der Regierende Bürgermeister von West-Berlin Walter Momper und der frühere Bundeskanzler Willy Brandt haben sich unter die Menschen gemischt. Auch ihr Versuch, die Menschen zu bewegen. von der Mauer herabzusteigen, bleibt erfolglos. Für Brandt sind die Ereignisse besonders bewegend. Mit Tränen in den Augen erlebt er, wie die zu seiner Zeit als Regierender Bürgermeister errichtete Mauer fällt.
14:00 Uhr: Krenz und Gorbatschow tauschen sich aus
Sowjetchef Gorbatschow erklärt Egon Krenz, die DDR habe aus seiner Sicht alles richtig gemacht. So müsse es weitergehen – energisch und unbeirrt. Krenz antwortet, man müsse endlich lernen in einer zivilisierten Welt zu leben.
Auch an Bundeskanzler Kohl wendet sich der sowjetische Staatschef. Er bittet ihn, eine Destabilisierung der Situation nicht zuzulassen. Erklärungen, die sich unversöhnlich „gegenüber der realen Existenz zweier deutscher Staaten“ zeigen, könnten den Prozess der Demokratisierung und Erneuerung in der DDR untergraben. Die Frage, ob Meldungen, wonach Einrichtungen der sowjetischen Streitkräfte angegriffen werden, der Wahrheit entsprächen, verneint der Bundeskanzler entschieden. Dahingehende Berichte sind der sowjetischen Führung vom MfS über den KGB zugetragen wurden – vermutlich um ein militärisches Eingreifen zu provozieren. Gorbatschow entscheidet sich, den Darstellungen Kohls Glauben zu schenken.
Auch den Regierungschefs der alliierten Westmächte übermittelt Gorbatschow seinen Wunsch, eine Destabilisierung der Lage im Zentrum Europas, zu vermeiden. Wichtig sei es, die Nachkriegsrealitäten – also die Existenz zweier deutscher Staaten – zu respektieren und Chaos zu vermeiden.
13:00 Uhr: MfS in Alarmbereitschaft
Auch das MfS wird in Alarmbereitschaft versetzt. Noch-Stasi-Chef Erich Mielke erteilt allen Angehörigen des Ministeriums bis auf Widerruf den Befehl, „in den Diensteinheiten bzw. Einsatzobjekten zu verbleiben."
12:00 Uhr: Krenz informiert über „Panik und Chaos“
Die Diskussion über ein Aktionsprogramm der SED zur Beilegung der wirtschaftlichen Krise mündet in einem wilden Streit über die persönliche Verantwortung von ZK-Mitgliedern für das ökonomische Desaster. ZK-Mitglieder, die nicht im Wirtschaftsbereich tätig sind, lehnen die Übernahme jeglicher Schuld rundheraus ab. Karl Kayser, Generalintendant der Städtischen Theater Leipzig, sieht sein Lebenswerk zerstört. Er brüllt in die Runde, man habe ihn jahrelang belogen.
Schließlich unterbricht Krenz die Debatte, um Berichte zur aktuellen Lage im Land zu verlesen. Arbeiter verlassen die Betriebe, wichtige Werke haben aufgehört zu produzieren. Der verstärkte Abkauf hochwertiger Konsumgüter wird gemeldet. Bürger, die im Besitz von Forumschecks sind, würden deren Rückumtausch in DM fordern. Der DDR drohe der Ausverkauf. Im Bezirk Schwerin werden starke Bewegungen auf den Sparkonten registriert.
Die Beunruhigung unter den Parteigenossen sei groß. Viele hätten mit Unverständnis auf die beschlossenen Reisemöglichkeiten reagiert. Niemand kann die ökonomischen Auswirkungen der Ereignisse einschätzen. Von den Grenzübergängen in Thüringen wird starker Andrang gemeldet. Zum Teil würden sich die PKW auf 3 km stauen.
Die Genossen Hans Modrow und Günter Schabowski werden beauftragt, mit den Vorsitzenden der Blockparteien Verhandlungen aufzunehmen, die in die unmittelbare Bildung einer handlungsfähigen Regierung zu münden haben. Hektisch wird noch das Aktionsprogramm der SED beschlossen und eine Parteikonferenz einberufen. Die ZK-Sitzung wird gegen 13 Uhr abgebrochen. Die langjährigen Mitglieder Günter Mittag und Joachim Hermann - am 17. Oktober schon aus dem Politbüro geworfen - werden auch aus dem ZK ausgeschlossen.
11:30 Uhr: Armee wird in Alarmbereitschaft versetzt
Das Kommando der NVA-Landstreitkräfte wird vom Verteidigungsministerium angewiesen, die 1. Mot-Schützendivision in Potsdam und das Luftsturmregiment-40 in Lehnitz in „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ zu versetzen. Beide NVA-Eliteeinheiten sind im Stadtkampf ausgebildet und mit modernster Kriegstechnik ausgerüstet. Panzer und Artillerie werden gefechtsbereit gemacht, Munition auf LKWs verladen. Rekruten erhalten eine Schellausbildung an der MP.
11:00 Uhr: Ansturm auf das Begrüßungsgeld
Vor vielen Sparkassen bilden sich lange Schlangen, denn jeder DDR-Bürger erhält 100 DM Begrüßungsgeld.
10:45 Uhr: Das Neue Deutschland verliert kein Wort zum Mauerfall
Dem "Neue Deutschland", Zentralorgan der SED, ist der Mauerfall auf der Titelseite seiner Ausgabe vom 10. November kein Wort wert. Vielmehr wird auf einen "Offenen Gedankenaustausch zwischen Egon Krenz und Johannes Rau" hingewiesen und auf eine "Parteikonferenz der SED" im Dezember 1989.
10:00 Uhr: Krenz erklärt sich zum Mauerfall
Der Generalsekretär sieht sich zu einer Stellungnahme veranlasst. Seit der Nacht ist der Druck, der bisher auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war, „auf unsere Grenze gerichtet.“ Der Druck sei nicht zu halten gewesen sein. Eine militärische Lösung habe man ausgeschlossen. Nur das besonnene Verhalten der Grenzsoldaten, „unserer Genossen vom MdI, vom MfS“, habe schlimmeres verhindert. Als hätten sie den Erst der Lage nicht erkannt, verlesen anschließend der stellvertretende Stasi-Chef Rudi Mittig und Ex-ZK-Sekretär Kurt Hager ihre vorbereiteten Beiträge. Mittig versichert die Einsatzbereitschaft des MfS. Hager warnt vor der Gefahr einer Konterrevolution und beschwört seine Erfahrungen mit der machtbewussten Reaktion der SED auf die Ereignisse vom 17. Juni 1953. Damals hatte man einen Volksaufstand blutig niedergeschlagen.
09:00 Uhr: ZK diskutiert über Ursachen der wirtschaftlichen Krise
Der dritte Beratungstag des Zentralkomitees der SED beginnt mit einer weiteren Niederlage für Krenz. Die erst vor zwei Tagen zurückgetretenen und dann wieder neu gewählten Mitglieder des Politbüros werden wegen ihrer Verantwortung für die katastrophale Lage im Land von der Basis nicht akzeptiert. Hans-Joachim Böhme, Hans Chemnitzer, Werner Walde und Inge Lange erklären ihren Rücktritt. Anschließend wird die Debatte über die Ursachen der wirtschaftlichen Krise hitzig fortgesetzt.
08:45 Uhr: Schuldzuweisungen im Politbüro
Katerstimmung im SED-Politbüro. Egon Krenz fregt: „Wer hat uns das eingebrockt?“ Schabowski, der von Vielen als Schuldiger gesehen wird, empört sich. Die Genossen würden so tun, „als hätte ich mir das Stück Papier irgendwo geklaut sozusagen, und hätte das verlesen." Längere Debatten bleiben ihm erspart, da wenige Minuten später die ZK-Tagung wieder aufgenommen wird.
08:30 Uhr: Moskau ist verstimmt
Der sowjetische Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow führt ein aufgeregtes Gespräch mit Egon Krenz. Die Führung in Moskau sei über Agenturberichte und Fernsehbilder von den Ereignissen in Berlin in Kenntnis gesetzt worden. Man sei empört. Krenz’ Einwurf, es sei doch alles mit Moskau abgestimmt gewesen, wird von Kotschemassow brüsk zurückgewiesen. Es sei jetzt dringent notwendig, dass sich Krenz gegenüber Gorbatschow erklärt und seine Handlungsweise begründet. Dies sei insbesondere wichtig, damit Gorbatschow offiziell von der Regierung der DDR über alle Maßnahmen informiert wird.
Krenz setzt sofort ein Telegramm auf. Größere Menschenansammlungen an den Grenzübergängen hätten eine kurzfristige Entscheidung erzwungen. Da schwerwiegende politische Folgen mit unüberschaubaren Ausmaßen zu befürchten waren, hätte man sich entschieden, den Bürgern die Ausreise nach West-Berlin zu gestatten. Das Viermächteabkommen über Berlin sei davon nicht betroffen, da die Reisegenehmigung für West-Berlin schon gegolten habe. Etwa 60.000 Bürger hätten in der Nacht die Grenze passiert, etwa 45.000 seinen wieder in die DDR zurückgekehrt. Wahrheitswidrig, aber beruhigend, fügt Krenz hinzu, seit 6 Uhr würden die Kontrollen wieder durchgeführt.
08:15 Uhr: DDR-Spitze berät weiteres Vorgehen
Leitende Mitarbeiter der Sicherheitsapparate, des Ministerrates und des ZK bilden auf Befehl von Egon Krenz eine „operative Führungsgruppe.“ Sie soll die unter den gegenwärtigen Bedingungen komplizierte sicherheitspolitische Situation der DDR beherrschen und „auf jede weitere Zuspitzung der Lage kurzfristig und angemessen reagieren. Zunächst werden gar eine erneute Schließung der Mauer und der Einsatz der Armee erörtert. Die Beteiligten sind sich aber schnell einig, dass dies angesichts der Ereignisse kaum ein gangbarer Weg ist.
07:00 Uhr: Trabis so weit das Auge reicht
An den Berliner Grenzübergängen scheitert der in der Nacht angekündigte Versuch, wieder zu einem kontrollierten Reiseverkehr zurückzukehren. Der Massenandrang, mit dem die Übergänge seit der Nacht überflutet werden, reißt nicht ab. Auffälligstes Symbol des Mauerfalls sind neben den Menschenmassen ganze Kolonnen von Trabis auf den Straßen West-Berlin.
Lange Schlangen bilden sich an den Sparkassen, Banken und Ämtern, wo die DDR-Bürger ihr Begrüßungsgeld in Höhe von 100 DM ausgezahlt bekommen. Wer Ost-Mark gegen Westgeld eintauschen will, wird brutal mit dem ganzen Ausmaß der wirtschaftlichen Misere in der DDR konfrontiert. Der Umtauschkurs liegt bei zehn zu eins. Ein in der DDR ganz auskömmliches Monatseinkommen von 1.000 Ost-Mark schmilzt in den West-Berliner Wechselstuben auf bescheidene 100 DM zusammen.
Währenddessen bilden sich überall in der DDR vor den Volkspolizeikreisämtern lange Schlangen. Anders als vorgesehen werden die Visa in den Personalausweis gestempelt. Reisepässe sind nicht mehr erforderlich.
02:30 Uhr Partymeile Kudamm
Die meisten Ost-Berliner zieht es zum Kudamm. Der ist mittlerweile voll und bis in den Morgen eine einzige Partymeile. Angela Merkel ist nicht mehr dabei. Sie hat ihren neuen West-Bekanntschaften „Danke schön“ gesagt und auf den Dienstbeginn am nächsten Morgen, 7:15 Uhr, in Adlershof, Zentralinstitut für Physikalische Chemie, Fachbereich Theoretische Chemie verwiesen.
02:00 Uhr: Grenzpassage mit Personalausweis wird offiziell gestattet
Während der ganzen Nacht ist die politische und militärische Führungsspitze der DDR nicht in Erscheinung getreten. Radio DDR I verbreitet jetzt folgende Erklärung des Innenministeriums. Als „Übergangsregelung“ kann die Grenze bis zum nächsten Morgen, 8 Uhr, unter Vorlage des Personalausweises passiert werden. Die Wirklichkeit ist auch über diesen Beschluss längst hinweggegangen.
01:30 Uhr: Die ersten Mauerspechte sind zu hören
Tausende Ost- und West-Berliner überwinden die Mauer am Brandenburger Tor. Über den Pariser Platz marschieren sie durch das Tor. Auf der Mauer wird vor Freude getanzt. Tausende haben den Betonwall besetzt. Das Klopfen der ersten Mauerspechte hallt über den Platz. Mit Hämmern und Meißeln wird die einst tödliche Grenze bearbeitet. Mauerbrocken werden zum beliebten Souvenir. Der Kurfürstendamm wird zum Ziel der meisten Besucher aus dem Osten der Stadt und verwandelt sich bis in die frühen Morgenstunden in eine Partymeile.
01:15 Uhr: Eine Gasse für die Trabbis an der Invalidenstraße
Es staut sich, nichts geht mehr. Walter Momper kämpft für eine Gasse, damit die Trabbis durchrollen können. Die kommt zustande. Die Menschen klopfen begeistert auf die Dächer der Autos. Die West-Berliner Polizei warnt über Lautsprecher: „Klopft nicht so doll auf die Dächer der Autos, die gehen sonst kaputt.“
01:10 Uhr: Treffpunkt Brandenburger Tor
Etwa 300 Personen bewegen sich Unter den Linden auf das Brandenburger Tor zu. Am Pariser Platz klettern Menschen über den Sperrzaun und flanieren ungestört über den Platz zum Brandenburger Tor. Den Grenzsoldaten wird befohlen, sich zurückzuziehen und in Sicherheit zu bringen. West-Berliner springen von der Mauer in den Ostteil. Wildfremde Menschen umarmen sich unter dem Brandenburger Tor, das seit 28 Jahren weder für Ost- noch für West-Berliner erreichbar war. Viele weinen.
01:00 Uhr: Walter Momper an der Invalidenstraße
Walter Momper kommt zum Grenzübergang Invalidenstraße und wird mit „Walter, Walter“-Rufen begrüßt. Er stellt sich auf einen Tisch, wo normalerweise Grenzschützer Pässe kontrollierten und spricht von einer „historischen Nacht“. Er ruft zu Besonnenheit auf und fordert die West-Berliner auf, den Weg für die DDR-Bürger nicht zu versperren.
00:20 Uhr: NVA-Grenzregimenter in „Erhöhter Gefechtbereitschaft“
Auch die NVA-Spitze wartet auf entsprechende Befehle. Alle Handlungsvarianten – auch die militärische – werden vorbereitet. Für die 12.000 Soldaten der Berliner Grenzregimenter wird „Erhöhte Gefechtsbereitschaft“ ausgelöst. Als keine weiteren Befehle erfolgen, beschließen die Kommandeure der Grenzregimenter, die Maßnahmen auf eigene Verantwortung einzustellen.
00:15 Uhr: Mauer am Brandenburger Tor wird erklommen
Tausende West-Berliner sind mittlerweile zur Westseite des Brandenburger Tors gekommen. Eine größere Personengruppe hat wieder die Mauerkrone erklommen. Diesmal lässt sie sich nicht mehr vertreiben. Auf der Ostseite drängen einige hundert Leute gegen die Rollgittertore.
00:10 Uhr: Merkel geht in den Westen
Auch Angela Merkel ist an der Bornholmer Straße angekommen. Sie schiebt sich in den Westen. Neben ihr läuft eine ältere Dame mit Enkelkind, das quengelt und keine Lust hat. Merkel will ihre Tante in Hamburg anrufen, hat aber kein Westgeld. Sie zieht weiter in diese besondere Nacht, landet in einer Wohnung mit vielen anderen. Man kennt sich nicht, stößt aber an mit Dosenbier.
9. November 1989: Der Tag des Mauerfalls.
00:00 Uhr: Checkpoint Charlie ist offen
Seit einigen Minuten ist auch der Grenzübergang an der Sonnenallee offen. Ein unüberschaubare Menge schiebt sich in den Westen. Nachdem die Grenzer am Checkpoint Charlie von den Grenzöffnungen in der Bornholmer Straße und in der Sonnenallee gehört haben, sind sie ratlos. Schließlich entscheidet ihr Kommandant: „Lasst sie doch einfach rüber.“ Der jubelnden Menge ruft er hinterher: „Kommt aber alle wieder.“
23:55 Uhr: Sowjetischer Gesandter verzichtet auf Meldung nach Moskau
In der sowjetischen Botschaft ringt der stellvertretende Botschafter Igor Maximytschew mit sich, ob er Moskau über den Grenzdurchbruch informieren soll. Aus Furcht, Vorgesetzte könnten zu unbedachten Reaktionen neigen, nimmt er davon Abstand.
23:30 Uhr: „Wir fluten jetzt! Wir machen alles auf!“
Am Grenzübergang Bornholmer Straße wird die Lage für die Kontrolleure immer bedrohlicher. Tausende Menschen haben sich eingefunden und drücken auf den Grenzübergang. Die seit knapp zwei Stunden praktizierte Ventillösung hat sich als unklug erwiesen. Einige Bürger dürfen ausreisen, andere nicht. Das Gedränge nimmt zu. Einige Bürger schieben den Drahtgitterzaun vor dem Grenzübergang beiseite. Die Grenzwächter bangen um ihr Leben. Schließlich teilt der verantwortliche Oberstleutnant Harald Jäger seinem Vorgesetzten Oberst Rudi Ziegenhorn im MfS mit: „Es ist nicht mehr zu halten, wir müssen die GÜST aufmachen. Ich stelle die Kontrollen ein und lasse die Leute raus.“ Die Schlagbäume werden geöffnet.
Tausende überglückliche, lachende und weinende Menschen strömen unkontrolliert durch das Nadelöhr, überrennen die Kontrolleinrichtungen. Personalausweise spielen beim Grenzübertritt keine Rolle mehr. Auf der Bornholmer Brücke werden sie von auf West-Berliner Seite Wartenden begeistert begrüßt. Allein hier passieren bis 0:15 Uhr schätzungsweise 20.000 Menschen die Grenze. Bis Mitternacht sind alle Berliner Grenzübergänge offen.
23:00 Uhr: An der Bornholmer Brücke spitzt sich die Situation zu
Die heimliche und widerrechtliche Ausbürgerung einiger reisewilliger DDR-Bürger bereitet den Grenzern an der Bornholmer Brücke schon Probleme. Die ersten Rückkehrer drängen auf der Westseite auf ihre Wiedereinreise und wollen sich nicht nach West-Berlin zurückweisen lassen. Manche Ehepaare sind nur „mal gucken“ gegangen und wollen nun zu ihren schlafenden Kindern zurück. Gleichzeitig wächst die Menschenmenge auf der Ostseite. Sie ruft: „Tor auf! Tor auf!“ und „Wir kommen wieder, wir kommen wieder!“
Der Übergang in der Sonnenallee ist inzwischen mit Trabbis verstopft. Bis Mitternacht stauen sich die PKW über einen Kilometer über die Baumschulenstraße bis zur Köpenicker Landstraße.
22:50 Uhr: Ausgeschwitzt!
Angela Merkel und ihre Freundinnen haben die Sauna verlassen und gehen „Zur alten Gaslaterne“ in der Lilli Henoch Straße noch einen Absacker trinken. Ein Radio läuft. Erst jetzt bekommen sie mit, was in der Stadt los ist.
22:45 Uhr: Krise am Checkpoint Charlie
Der Grenzübergang Checkpoint Charlie, an dem sich 1961 die Berlinkrise zu einem dramatischen Höhepunkt hochspielte, liegt im gut überwachten Diplomatenviertel. Auf der Ostseite haben sich bisher nur einige hundert DDR-Bürger eingefunden. Ganz anders sieht es auf der Westseite aus. Dort haben sich mehr als 3.000 Bürger eingefunden, um die ersten DDR-Bürger, die über die Grenze kommen, zu begrüßen. Die Grenzer sind mit der Situation völlig überfordert. Vom Westen rufen die Menschen: „Lasst uns rein!“ Vom Osten erklingt es: „Lasst uns raus!“
22:42 Uhr: ARD-Tagesthemen öffnen die letzten Schleusen
Wegen der Ausstrahlung des DFB-Pokal-Achtelfinales beginnen die ARD-Tagesthemen heute etwas später als gewohnt. Moderator Hanns Joachim Friedrichs eröffnet mit einer gut gemeinten Übertreibung: "Guten Abend, meine Damen und Herren. Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab, aber heute Abend darf man einen riskieren: Dieser neunte November ist ein historischer Tag: die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind, die Tore in der Mauer stehen weit offen."
Historisch ist der Abend gewiss, doch die Grenzübergänge sind weiterhin geschlossen, wie eine Liveschalte zum Grenzübergang Invalidenstraße beweist. Doch manchmal hilft auch Autosuggestion. Denn die an diesem Abend in den Medien verbreitet Fiktion löst einen Massenansturm auf die Grenzübergänge aus. In weniger als einer Stunde wird sie Realität.
Dem noch vor dem geschlossenen Grenzübergang in der Invalidenstrasse ausharrenden ARD-Reporter Robin Lautenbach schildern schließlich einige West-Berliner, an der Bornholmer Brücke hätten DDR-Bürger ohne Komplikationen und nur mit dem Personalausweis die Grenze passiert. Selbstverständlich ist ihnen nicht bekannt, dass die dort praktizierte Ventillösung die Ausbürgerung der DDR-Bürger bedeutet.
22:40 Uhr: Am Brandenburger Tor sammeln sich West-Berliner
Wieder haben einige Personen die Mauerkrone am Brandenburger Tor erklommen. Diesmal werden sie von der West-Berliner Polizei erfolgreich aufgefordert herunterzukommen . Zwischenzeitlich haben sich auf der Westseite etwa 500 West-Berliner versammelt. Einige beginnen mit Hämmern die Mauer zu beschädigen. Auf der Ostseite haben sich etwa 60 Personen eingefunden. Die Stimmung gegenüber den Vopos ist entspannt. Die Leute freuen sich über die neuen Reiseregelungen.
22:28 Uhr: Aktuelle Kamera korrigiert Meldungen
In den DDR-Medien wird ein letzter Versuch unternommen, die Entwicklung zu bremsen. In der Spätausgabe der Aktuellen Kamera intoniert der Sprecher bedeutungsschwanger und mit beschwörender Stimme: „ALSO: die Reisen müssen beantragt werden.“ Er ergänzt mit dem Hinweis, die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen haben „morgen um die gewohnte Zeit geöffnet.“ Reisen könnten erst erfolgen, „nachdem sie beantragt und genehmigt worden sind.“
22:05 Uhr: Berliner Senat berät die neue Lage
Dieter Schröder, Chef der West-Berliner Senatskanzlei, hat den Senat zu einer Sondersitzung einberufen. Thema sind vor allem die zu erwartenden Verkehrsprobleme.
Währenddessen versucht der sowjetische Botschafter in Ost-Berlin jemanden in Moskau zu erreichen – erfolglos. Gorbatschow schläft schon. Der Botschafter geht auch zu Bett.
22:00 Uhr: Krenz lässt den Dingen freien Lauf
Nach Abschluss des ZK-Plenums zieht sich Egon Krenz in sein Arbeitszimmer im ZK-Gebäude zurück. Er ist verärgert. Mehrere von ihm vorgeschlagene Kandidaten für das Politbüro sind im Zentralkomitee der SED durchgefallen. Da informiert ihn Stasi-Chef Erich Mielke über die Vorgänge an der Grenze. Krenz entscheidet sich: „Wir lassen den Dingen freien Lauf.“ Der Staatschef der DDR entzieht sich damit einer klaren Weisung. Auch Mielke äußert sich am Abend nicht mehr. Weder das MfS, noch die NVA oder die Führung der Grenztruppen werden an diesem Abend einen Befehl zur Öffnung der Mauer erhalten. An diesem neuralgischen Punkt hat die DDR keine handlungsfähige oder zur Verantwortung bereite Regierung.
21:53 Uhr: DDR I unterbricht sein Programm
Auch die Fernsehverantwortlichen in Adlershof sind über die Vorgänge an der Grenze alarmiert. Der französische Spielfilm „Komba – Gott der Pygmäen“ wird unterbrochen, um die Pressemitteilung zum Beschluss des Ministerrates vollständig zu verlesen. Vier Minuten später wird der Film erneut unterbrochen, um die Meldung noch einmal zu verlesen. Eine weitere halbe Stund später wird die Ausstrahlung des Spielfilms abgebrochen, um die „AK ZWO“ vorzuziehen.
21:40 Uhr: Auch in der Sonneallee wagt man die Ventillösung
Auch am Grenzübergang in der Sonnenallee beginnt man jetzt, einigen Bürgern die Ausreise zu genehmigen. Als eine Mutter mit ihrer 18jährigen Tochter die Grenze von Treptow nach Neukölln passieren will, kommt es zu einem Familienstreit. Ein Zollbeamter hat den beiden erklärt: „Sie können rüber, müssen dann aber drüben bleiben.“ Während die Mutter lieber umkehren will, drängt es die Tochter in den Westen. Schließlich interveniert ein weiterer Zollbeamter: „Sie dürfen wiederkommen.“
21:34 Uhr: US-Präsident Bush gibt ein Statement ab
In Washington (15:34 Uhr Ortszeit) halten US-Präsident George Bush und Außenminister James Baker eine Pressekonferenz ab. Über Agenturmeldungen haben sie von den Ereignissen in Berlin gehört. Beide interpretieren die Neuigkeiten zurückhaltend, um Sowjetchef Michail Gorbatschow nicht zu brüskieren. Der Fall der Mauer – das ist allen klar – bedeutet die Niederlage der Sowjets im Kalten Krieg.
Auch die Regierungen in London und Paris werden überrascht und fürchten Gorbatschows Reformkurs könnte durch unkontrollierbare Entwicklungen gefährdet sein.
21:30 Uhr: Ventillösung an der Bornholmer Brücke
Endlich erhalten die Passkontrolleure von ihren Vorgesetzten einen Befehl, um den Druck aus der immer bedrohlicheren Situation zu nehmen. Als Ventillösung sollen sie besonders aufmüpfigen Bürgern die Ausreise gestatten. Den „Provokateuren“ wird mit einem Stempel im Personalausweis – halb über dem Lichtbild – ein „Visum“ erteilt. Tatsächlich werden diese Bürger, ohne ihr Wissen, ausgebürgert. Die Wiedereinreise in die DDR soll ihnen verweigert werden. Von allen anderen, denen die Grenzpassage gewährt wird, werden die Namen notiert.
Diese Lösung hat, abgesehen von den widerrechtlichen Ausbürgerungen, einen entscheidenden Nachteil. Es werden immer nur kleine Grüppchen durch die Grenzanlagen geschleust. Jene, die weiter warten müssen, verlangen nun umso energischer: „Tor auf!“
21:30 Uhr: Kohl wird informiert
Seit dem Nachmittag befindet sich Bundeskanzler Helmut Kohl auf Staatsbesuch in Polen. Das ihm zu Ehren gegebene Staatsbankett in Warschau endet in diesen Minuten. Erst jetzt erfährt Bundeskanzler Kohl von den Ereignissen in Ost-Berlin.
21:05 Uhr: Bonn singt
Als der CSU-Abgeordnete Karl-Heinz Spilker die Nachricht im Deutschen Bundestag in Bonn verliest, stehen die Abgeordneten spontan auf und stimmen die Nationalhymne an.
21:03 Uhr: Erste West-Berliner klettern auf die Mauer
Einige wagemutige West-Berliner klettern auf die Panzermauer am Brandenburger Tor. Der unmissverständlichen Aufforderung der DDR-Grenzer, wieder herunter zu springen, kommen sie aber sofort nach. Etwa 50 Minuten später wiederholt sich der Vorgang auf ähnliche Weise.
21:00 Uhr: Tausende fordern an der Bornholmer Straße den Grenzübertritt
An der Bornholmer Straße fordert die Menschenmenge inzwischen lautstark die Öffnung des Schlagbaums. Sie skandieren: „Wir wollen rüber.“ Angesicht mehrerer tausend Ausreisewilliger erscheint den Verantwortlichen der Einsatz der wenigen Schusswaffen schon aus Selbsterhaltungstrieb aussichtslos. Der Rückstau der Autos auf der Bornholmer Straße reicht schon über einen Kilometer bis zur Schönhauser Allee zurück. Auch die Seitenstraßen sind verstopft. Oberstleutnant Jäger löst „stillen Alarm“ aus. Alle 50 bis 60 erreichbaren Passkontrollmitarbeiter werden einbestellt.
20:45 Uhr: Volkspolizei lässt passieren
Generaloberst Karl-Heinz Wagner, als stellvertretender Innenminister für die Volkspolizei zuständig, wird vom Innenministerium über die Reaktionen auf die Schabowski-Pressekonferenz informiert. Wagner hält es für völlig abwegig, aus dem Stand sämtliche Straßen und Wege zur Berliner Mauer sperren zu lassen. Er erteilt der Volkspolizei den Befehl, Bürger der DDR mit Personalausweis passieren zu lassen. Damit nimmt er die Vopos aus einer sich unter Umständen anbahnenden Konfrontation mit Ausreisewilligen heraus und verlagert den Entscheidungsdruck auf die Grenzübergangsstellen und ihre Mitarbeiter, also das MfS.
20:30 Uhr: Einige hundert Menschen am Grenzübergang Bornholmer Straße
An der GÜST (Grenzübergangsstelle) Bornholmer Straße verlieren die Kontrolleure allmählich den Überblick. In kürzester Zeit haben sich schon mehrere hundert Menschen im Bereich der Vorkontrolle versammelt. Der Übergang befindet sich in unmittelbarer Nähe des Bezirks Prenzlauer Berg, einer Hochburg der Literaten- und Künstlerszene. Hier treffen sich in Kneipen, Cafés und anderen Orten so genannte „feindlich-negative und dekadente Elemente“, aber auch viele Arbeiter.
Nachdem die Ersten nur „mal gucken gehen“ wollen, haben sich ihnen bald Viele angeschlossen, die nach den ersten Meldungen noch unsicher waren. Major Manfred Sens, diensthabender Offizier der Grenztruppen, und Oberstleutnant Harald Jäger, stellvertretender Leiter der Passkontrolle, finden sich in einer ungemütlichen Position wieder. Sie müssen den Ausreisewilligen mitteilen, sie hätten keine Weisung, die Ausreise zu gestatten und sie auf den nächsten Tag vertrösten.
In den GÜST arbeiten drei Sicherheitsorgane zusammen. Für die militärische Sicherung und die Verhinderung von Grenzdurchbrüchen sind die Grenztruppen der NVA zuständig. Sach- und Personenkontrolle übernimmt der Zoll. Sicherung, Kontrolle und Überwachung des gesamten Reiseverkehrs liegt dagegen in den Händen der Stasi, die die Passkontrolleure stellt. Die Volkspolizei ist lediglich für die Sicherung des unmittelbaren Vorfelds der Grenze, des so genannten „freundwärtigen Hinterlands“ zuständig.
20:20 Uhr: Erste Grüppchenbildungen vor den Berliner Grenzübergängen
Die Polizei berichtet von mittlerweile 80 Ost-Berlinern, die sich an den Grenzübergängen eingefunden haben und die höfliche Aufforderung von Volkspolizisten im Vorfeld der Grenze, nach Hause zu gehen, nicht befolgen. In der Sonnenallee haben sich fünfzehn, in der Invalidenstraße 20 Leute versammelt. Am Grenzübergang in der Bornholmer Straße warten schon 50 Menschen. Der Zustrom wächst ständig.
Viele kommen aus Neugier von zu Hause oder aus der Kneipe, manche zu Fuß, mit der Straßenbahn oder per Auto. Die Nachricht verbreitet sich in Windeseile. Kneipen entvölkern sich. Manche, die sich schon schlafen gelegt haben, treibt es noch mal auf die Straße.
20:15 Uhr: Pokalsieg des VfB gegen den FC Bayern verpufft
Es sollte pünktlich losgehen, doch daraus wurde nix. Die Achtelfinal-Partie im DFB-Pokal VfB Stuttgart gegen FC Bayern beginnt später, weil die ARD-Tagesschau an diesem Tag etwas länger dauert und das Spiel live im Ersten läuft. Stuttgart gewinnt sensationell 3:0 – nur interessierte das an diesem Abend kaum jemanden. Es ist bisher der einzig wirklich glorreiche Moment der Schwaben im Pokal – noch dazu gegen die Bayern.
Auch der 1. FC Köln, 1989 noch eine Spitzenmannschaft, spielt und verliert beim 1. FC Kaiserslautern 1:2.
20:15 Uhr: Später DEFA-Klassiker
Der Film soll die DDR verändern. Als aber die erste Vorstellung endet, ist das Land schon nicht mehr wiederzuerkennen. Heiner Carows „Coming Out“ über Homosexualität in der DDR feiert im Kino International Premiere.
20:00 Uhr: Tagesschau meldet „DDR öffnet Grenze“
Die Hauptnachrichtensendung der ARD platziert die Reiseregelung als Top-Meldung an erster Stelle. Reporter Erhard Thomas krönt den Bericht mit der Aussage: „Also auch die Mauer soll über Nacht durchlässig werden.“
19:58 Uhr: Merkel in der Sauna
Angela Merkel kommt in die Sauna. Dort trifft sie sich mit einer festen Runde von zehn Frauen. Die nennen sie „Sauna-Angela“
19:45 Uhr: ZK-Plenum behandelt Staatsverschuldung
Die immer noch nicht beendete ZK-Tagung treibt auf einen dramatischen Höhepunkt zu, als der Abteilungsleiter für Finanzen, Günter Ehrensperger, erklärt, die DDR habe seit spätestens 1973 über ihre Verhältnisse gelebt. „Wenn wir aus dieser Situation herauskommen wollen, müssen wir 15 Jahre mindestens hart arbeiten und weniger verbrauchen als wir produzieren.“ Von der Pressekonferenz, ihrer Resonanz in den Medien und auch von dem einsetzenden Ansturm auf die Grenzübergänge haben die ZK-Mitglieder nichts mitbekommen.
19:40 Uhr: Ost-Berliner beschwert sich bei der Volkspolizei
Im Präsidium der Deutschen Volkspolizei in der Keibelstraße beschwert sich ein Bürger telefonisch über ein nicht sofort erteiltes Visum, was - seiner Meinung nach – in krassem Gegensatz zu den Ausführungen Schabowskis stünde, denen zufolge die neuen Reiseregelungen doch "ab sofort" in Kraft träten. Nach einem Rückruf im Innenministerium wird dem Mann beschieden, über das Visum werde erst am nächsten Tag entschieden.
19:35 Uhr: Momper stellt die Berliner auf den Ansturm ein
Seit Wochen plant der West-Berliner Senat, wie die Stadt mit dem bald möglichen Ansturm von Besuchern aus der DDR umgehen soll. Da die Verabschiedung eines neuen Reisegesetzes erst für Dezember erwartet wird, ist man über die Meldungen vom Abend überrascht und verunsichert.
Trotz seiner Freude über Schabowskis Mitteilung ist Walter Momper ob des zu erwartenden Besucherandrangs auch besorgt. Als er in der Abendschau im Sender Freies Berlin sagt: "Nun ich glaube, man darf für alle Berlinerinnen und Berliner sagen, es ist ein Tag, den wir uns lange ersehnt haben, seit 28 Jahren. Die Grenze wird uns nicht mehr trennen", treten ihm Tränen in die Augen.
Trotz der auf sie zukommenden Belastungen appelliert Momper an die West-Berliner, die Landsleute aus der DDR mit offenen Armen zu empfangen. Diese wiederum bittet Momper, mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt zu kommen.
19:33 Uhr: Demo in West-Berlin gegen den langen Donnerstag
Beschäftigte vom KaDeWe und Wertheim demonstrieren gegen längere Öffnungszeiten am Donnerstagabend.
19:30 Uhr: Aktuelle Kamera informiert
Ohne nähere Erklärungen aus der Politik erhalten zu haben, geht die Aktuelle Kamera kurz auf die Top-Meldung ein. „Privatreisen nach dem Ausland“ könnten „ab sofort ohne besondere Anlässe beantragt werden.“
19:25 Uhr: Schabowski macht sich auf den Heimweg
Schabowski bekommt vom Sturm, den er ausgelöst hat, nichts mit. Er fährt nach Hause.
19:22 Uhr: Alkoholverbot im Kanzleramt
Eduard Ackermann, Pressesprecher von Helmut Kohl, kommt in die Runde im Bonner Kanzleramt und berichtet von den jüngsten Agenturmeldungen mit dem Verweis, dass heute die Mauer aufgeht. Ex-Kanzleramtschef Schäuble knurrt ungläubig: „Als ich hier noch Chef war, war Alkohol am Arbeitsplatz verboten.“
19:20 Uhr: Leipziger wollen Fahrkarten in die BRD erwerben
An den Verkaufsschaltern der Reichsbahn auf den Bahnhöfen in Leipzig und Altenburg sammelt sich eine rasch anwachsende Zahl von Kunden, die ohne Nachweis des erforderlichen Sichtvermerks in ihren Reisepässen Fahrkarten in die Bundesrepublik zu erwerben wünschen. Die für die Bahnhöfe zuständige Transportpolizei meldet dies sofort der Volkspolizei, die ihrerseits wiederum das Innenministerium informiert. Zu ihrer Verwunderung erhalten die Behörden lediglich die Anweisung, nicht einzugreifen und weitere Erklärungen des Ministeriums abzuwarten.
19:17 Uhr ZDF hält sich noch zurück
Die ZDF-Nachrichtensendung „Heute“ bringt die Nachricht erst als sechste Meldung. Die Redaktion folgt damit den ersten, noch zurückhaltenden Agenturmeldungen.
Im Axel-Springer-Haus an der Kochstraße, direkt an der Mauer, wird das „Goldene Lenkrad“ verliehen. Ehrengast ist Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper. Bruno Waltert, Chefredakteur der Berliner Morgenpost informiert ihn über die Neuigkeit. Momper und Waltert sehen sich die Video-Aufzeichnung der Pressekonferenz an. Anschließend fährt Momper zum SFB.
Etwa zur selben Zeit verlässt Angela Merkel ihre Wohnung. Sie hat ihre Sauna Sachen gepackt und zieht los Richtung Thälmann-Bad.
19:04 Uhr: DDR-Nachrichtenagentur ADN überrumpelt
DDR-Regierungssprecher Wolfgang Meyer und ADN-Generaldirektor Günter Pötschke fallen angesichts Schabowskis Ausführungen aus allen Wolken. Sie hatten vor, sich an die Sperrfrist (10.11., 4 Uhr früh) zu halten. Nun weisen sie die Nachrichtenagentur an die Pressemittelung des Ministerrates 19:04 Uhr unkommentiert zu veröffentlichen. Danach hüllt sich ADN für die nächsten Stunden in Schweigen.
19:01Uhr: Schabowskis Erklärung wird zur Top-Meldung des Tages
Die internationalen Nachrichtenagenturen überschlagen sich mit Eilmeldungen. AP erklärt: „DDR öffnet Grenze“, DPA legt 19:41 Uhr mit „Die DDR-Grenze … ist offen.“ Schabowskis Äußerungen enthalten einen Interpretationsspielraum, den die Journalisten nun aus Ermangelung präziser Informationen zu füllen beginnen.
19:00 Uhr: Die unsichtbare Seite der Stadt
Noch ahnt wohl niemand, dass es mit der Unsichtbarkeit bald vorbei sein wird, aber im Haus am Kleistpark laden die Organisatoren der Ausstellung „Stadtfotografie Berlin und Amsterdam“ zu einer Diskussionsveranstaltung unter dem Titel: „Die unsichtbare Seite der Stadt“ ein.
18:57 Uhr: Panik am Grenzübergang Bornholmer Straße
Oberstleutnant Harald Jäger, Vize-Leiter des Grenzübergangs, sieht Schabowskis Pressekonferenz im DDR-Fernsehen und brüllt: "Was ist das für geistiger Dünnschiss?" Wie soll „ab sofort“ denn gehen, fragt er sich. Sein Vorgesetzter im MfS, Ziegenhorn, wiegelt ab: „Das ist alles Quatsch."
Zur selben Zeit, nur wenige hundert Meter entfernt: Angela Merkel telefoniert mit ihrer Mutter Herlind. Beide sind verblüfft.
18:53 Uhr: „Ab sofort, unverzüglich!“
Nachdem er fast eine Stunde lang einschläfernde Worthülsen verbreitet hat, kommt Günter Schabowski doch noch auf die neue Reiseregelung zu sprechen. Auf Nachfrage eines Journalisten, wann die Regelung denn in Kraft trete, stammelt der schlecht informierte und seit Tagen übernächtigte Schabowski seine berühmtesten Worte: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“ und schiebt nach weiteren Wortmeldungen nach: "Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen."
Die verständlicherweise ob der Top-Meldung elektrisierte Weltpresse versucht noch Schabowskis bruchstückhaften Ausführungen richtig zu deuten, als der Mann, der mit seinen beiläufig dahin gestammelten Worten das Ende der DDR eingeläutet hat, den Saal bereits verlässt. Direkt im Anschluss gibt Schabowski dem NBC-Chefreporter Tom Brokaw ein vorab vereinbartes Exklusiv-Interview. Noch während er mit Brokaw spricht und ihm bestätigt, dass jeder DDR-Bürger die Grenze an einem Punkt seiner Wahl überschreiten kann, lässt sich Schabowski erneut den Zettel mit der Beschlussregelung reichen und erklärt dann, die Regelung betreffe nur die ständige Ausreise und nicht etwa Tourismus.
Brokaw, der das Interview aufgrund der improvisierten und unsicheren Antworten des SED-Funktionärs als surreales Erlebnis in Erinnerung behält, weist sein Publikum vor Ausstrahlung des Gesprächs darauf hin, der konfuse Schabowski sei wohl „noch damit beschäftigt, die neue Politik zu begreifen.“
Unmittelbar nach der Pressekonferenz begibt sich Schabowski völlig übermüdet auf den Heimweg nach Wandlitz. Von der Resonanz, die seine Aussagen in den Medien erzeugen, bekommt er nichts mit.
Tom Brokaw steht kurze Zeit später vor dem Brandenburger Tor, wo NBC am Vortag eine Direktleitung nach New York aufgebaut hat. Vor fast menschenleerer Kulisse berichtet er live nach Amerika: "Tom Brokaw an der Berliner Mauer. Dies ist eine historische Nacht. Die ostdeutsche Regierung hat soeben erklärt, dass die ostdeutschen Bürger von morgen früh an die Mauer durchqueren können – ohne Einschränkungen."
Eine Tonabschrift von Schabowskis legendärer Erklärung finden Sie hier.
18:50 Uhr: Der Sandmann muss ausweichen
Weil Schabowskis Presekonferenz live auf DDR 1 übertragen wird, muss das Sandmännchen ins zweite Programm ausweichen. Pittiplatsch und Schnatterinchen ist das schnuppe.
18:40 Uhr: Ende eines Arbeitstages
Schönhauser Allee 104, Angela Merkel kommt nach Hause. Sie schaltet den Fernseher ein und verfolgt die Pressekonferenz.
18:15 Uhr: Wie umgehen mit den Übersiedlern?
Bonner Kanzleramt, Schmidt-Rottluff-Zimmer: Kanzleramtschef Rudolf Seiters und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble treffen sich mit den Fraktionschefs im Deutschen Bundestag. Thema: Wie umgehen mit den Übersiedlern?
18:00 Uhr: Internationale Pressekonferenz mit Günter Schabowski
Im Internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße in Ost-Berlin beginnt die Pressekonferenz mit Günter Schabowski zu den Ergebnissen des ZK-Plenums. DDR-Fernsehen und Hörfunk übertragen live. Langatmig und inhaltsfern referiert Schabowski über Diskussionen im ZK zu Wahlmodus und Zielsetzung einer für Dezember angekündigten Parteikonferenz.
17:45 Uhr: Einspruch des Justizministeriums gegen die neue Reiseverordnung
Kurz vor Ablauf der Einspruchsfrist im Umlaufverfahren des Ministerrates der DDR verweigert das Justizministerium der Beschlussvorlage seine Zustimmung – und es hat triftige Gründe. Zwei Juristen im Ministerium sind vier – aus rechtsstaatlicher Sicht offenkundige – Probleme ins Auge gesprungen.
Die Vorlage enthält keine Möglichkeit zur Beschwerde oder juristischen Nachprüfung im Versagungsfall. Feste Bearbeitungsfristen sind nicht vorgegeben – „kurzfristig“ sei zu auslegungsfähig. Versagungsgründe "in besonderen Ausnahmefällen" sind nicht definiert. Schließlich sei es nicht möglich, die vorhergehende Reiseverordnung „nicht mehr anzuwenden.“ Diese müsse förmlich aufgehoben werden.
Der Widerspruch erregt im Sekretariat des Ministerrates einige Aufregung. Während die Beamten noch prüfen, wie sie ihn erledigen könnten, wird die Beschlussvorlage von Schabowski auf der Pressekonferenz bekannt gegeben. Durch die nachfolgenden Ereignisse erübrigt sich der Vorgang.
17:30 Uhr: Krenz händigt Schabowski seinen „Zettel“ aus
An diesem Tag fungiert ZK- und Politbüromitglied Günter Schabowski als Sprecher der Zentralkomitees. An der Sitzung des ZK hat er nur teilweise teilgenommen, da er als neuer für Medien zuständiger ZK-Sekretär „viel mit den Journalisten zu regeln“ hat. Auch als der Entwurf zur Reiseregelung im Plenum behandelt wird, hält sich Schabowski gerade nicht im Tagungssaal auf.
Nach alter Planung sollte die ZK-Tagung zu diesem Zeitpunkt schon beendet sein. Für 18 Uhr ist eine Pressekonferenz im Internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße angesetzt. Schabowski meldet sich bei Krenz ab und erkundigt sich vor seinem Abgang noch nach mitteilenswerten Neuigkeiten für seinen Pressetermin. Krenz händigt ihm den Verordnungstext aus.
Bei dessen Vorstellung im Plenum, hat Krenz den Beschluss noch mit den Worten „Wie wir’s machen, machen wir’s verkehrt“ angekündigt. Nun will er Schabowski angeblich zugeraunt haben, der Text sie ein „Weltnachricht“ und ein „Knüller.“ Gegen diese Darstellung aus Krenz’ und Schabowskis Erinnerung spricht Schabowskis weiteres Vorgehen an diesem Abend. Tatsächlich mischt er die Vorlage unbesehen in seine Unterlagen und notiert sich in seinem handschriftlichen Fahrplan, den Text erst „kurz vor Schluss“ zu verlesen.
17 Uhr: Becker verliert
Die Siegesserie von Boris Becker reißt. Der Weltranglistenzweite verliert beim Grand-Slam-Turnier in Stockholm gegen den Schweden Jan Gunnarssohn im Achtelfinale mit 3:6 5:7. Es ist nach 82 Tagen, zwei Turniersiegen und 13 siegreichen Einzeln die erste Niederlage für den 21-Jährigen.
16 Uhr: Sprechstunde in Neukölln
Bürgersprechstunde mit Bezirksbürgermeister Frank Bielka im Rathaus Neukölln. Thema: Steigende Mieten.
15:45 Uhr: Krenz verliest im ZK die Beschlussvorlage zum Reisegesetz
Der Generalsekretär der SED verliest im ZK den Entwurf zur Reiseregelung, der ihm als Beschlussvorlage des Ministerrates einschließlich Pressemitteilung von Willi Stoph übergeben wurde. Das Papier trägt die Überschrift: „Beschluss zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die CSSR.“
Darin legt der Ministerrat fest: „Ab sofort treten folgende zeitweilige Übergangsregelungen“ in Kraft: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen […] beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“ Die zuständigen Behörden werden angewiesen, „Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen“ und „Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin (West) erfolgen.“
Die beigefügte Pressemitteilung soll am 10. November veröffentlicht werden. Dort ist von einer „bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung durch die Volkskammer“ in Kraft gesetzten „Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR ins Ausland“ die Rede. Nachdem einige Genossen bemängeln, die Begriffe „zeitweilig“ und „Übergangsregelung“ könnte den Druck der Leute noch verstärken, werden sie aus dem Wortlaut gestrichen.
Anschließend wird die Vorlage angenommen. Krenz ordnet beiläufig an, die Regelung durch den Regierungssprecher „gleich“ bekannt zu geben und hebt damit die Sperrfrist bis zum 10. November auf. Das Vorgehen spiegelt das jahrzehntelang eingespielte Selbstverständnis des ZK. Mit seiner Zustimmung gilt der Ministerratsbeschluss als angenommen, obwohl das Umlaufverfahren erst 18 Uhr als abgeschlossen gilt.
Die Debatte im ZK wird fortgesetzt, auf die Reiseregelung geht keiner der nachfolgenden Redner mehr ein. Die ganze Tragweite des Beschlusses scheinen sie nicht zu erkennen. Möglicherweise ist ihnen auch entgangen, dass der Beschluss zwar die „ständige Ausreise“ betrifft, in der Pressemitteilung aber auch nur von „Reisen“ die Rede ist, die nun „ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt […] und kurzfristig genehmigt werden können“ und zwar „unverzüglich.“
15:30 Uhr: Ängste überwinden
In der Urania hält Dr. Thomas K. einen Vortrag der für den Abend noch wichtig werden könnte: „Ängste und ihre Überwindung“
15:00 Uhr: Innenministerium und MfS feilen an der Reiseverordnung
Privatreisen sollen weiterhin an die Erteilung eines Visums gebunden bleiben. Damit soll der unmittelbare Druck auf die Grenze genommen und auf die Dienststellen der Volkspolizei gelenkt werden. Visa werden für maximal 30 Reisetage erteilt und besitzt eine Gültigkeit von höchstens sechs Monaten. „Sofortreisen“ sollen ausdrücklich genehmigt werden.
15:00 Uhr: Staatsbesuch in Polen
Bundeskanzler Kohl trifft in Warschau ein.
14:30 Uhr: Krenz trifft Rau
Die ZK-Tagung legt eine reguläre Pause ein. SED-Generalsekretär Krenz nutzt die Zeit, um den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau zu empfangen. Der schenkt dem Staatsratsvorsitzenden anlässlich einer Ausstellung Bildband mit dem bezeichnenden Titel „Zeitzeichen.“
14:00 Uhr: Unfall in Tempelhof
Ein achtjähriges Mädchen wird beim Überqueren der Germaniastraße in Tempelhof von einem Lastwagen erfasst. Sie erleidet schwere Kopfverletzungen und kommt ins Krankenhaus.
14:00 Uhr: Innenminister nimmt Vopos gegen Demonstranten in Schutz
Innenminister Friedrich Dickel verteidigt das zum Teil restriktive Vorgehen der Volkspolizei bei den Demonstrationen im Oktober. Zahlreiche Demonstranten wurden vorübergehend „zugeführt“ und eingesperrt, nicht wenige misshandelt. Laut Dickel wurden die Polizisten von den Demonstranten bewusst provoziert. Es gebe da eine Grenze „und diese Grenze muss geschützt werden.“
13:30 Uhr: Modrow kritisiert Krenz
Der zukünftige DDR-Ministerpräsident Hans Modrow – bisher SED-Bezirkschef von Dresden – wirft der neuen Parteiführung unter Egon Krenz vor, durch „Abwarten und Zaudern“ den Vertrauensverlust der SED in den vergangenen Tagen weiter beschleunigt zu haben. Ihren Platz habe die SED aber „mitten im Dialog des Volkes“ zu suchen. Die Wende, stellt Modrow klar, „ist von der Straße ausgegangen.“ Eine Partei, die ihre Fehler nicht anerkennt, verliert die Kraft zur Führung.
13:00 Uhr: Sorge um Arbeitsplätze in West-Berlin
Es ist wolkig, der Wind nimmt zu - Südwest Stärke 4. Die Sonderkommission „Arbeitsplätze für Berlin“ tritt erstmals zusammen und der Regierende Bürgermeister von West- Berlin, Walter Momper, fordert: „Berlin muss wieder denken wie eine Stadt mit normalem Hinterland.“
12:30 Uhr: Beschlussvorlage zum Reisegesetz im Umlaufverfahren des Ministerrates
Wie Herger mit Stoph abgesprochen hat, geht die Beschlussfassung zum neuen Reiserecht in das Umlaufverfahren des DDR-Ministerrates. Die 44 Minister werden gebeten, die Beschlussvorlage bis 18 Uhr im Umlaufverfahren zu bestätigen.
Gemäß der Geschäftsordnung des Ministerrates brauchen die Minister zur Zustimmung nichts zu tun, denn im Umlaufverfahren heißt Schweigen Einverständnis. Sollten bis 18 Uhr keine Einwände erfolgen, gilt die Vorlage als angenommen.
Allerdings sind am 9. November 29 Minister in ihren Büros nicht zu erreichen, da sie an den Beratungen des ZK teilnehmen. Und so sind sie an diesem Nachmittag im Begriff, ohne die Vorlage zu kennen, einen weitreichenden Ministerratsbeschluss zu fassen.
12:00 Uhr: SED-Politbüro beschließt neue Reiseverordnung
Egon Krenz erhält im Zentralkomitee von dem zwei Plätze neben ihm sitzenden Wolfgang Herger, im ZK zuständig für Sicherheitsfragen, das Papier mit dem Beschlussentwurf zum Reisegesetz gereicht. Herger hatte schon zwei Tage zuvor auf die Regelung des gesamten Reiseverkehrs gedrungen, im alten Politbüro dafür aber keine Mehrheit errungen. Im neuen Politbüro sind die Bremser nicht mehr vertreten, den neuen Mitgliedern ist die Vorgeschichte der Reiseregelung nicht bekannt.
In der üblichen halbstündigen Raucherpause während der Plenarsitzung des ZK zieht sich das kleinere Politbüro in einen Nebenraum zurück. Krenz informiert über den Druck, den die Genossen aus der CSSR auf die DDR in Bezug auf das Reiserecht ausüben. Anschließend liest er die Beschlussfassung vor, die noch von der amtierenden Regierung abgewickelt werden soll und die schon mit der Sowjetunion abgestimmt sei.
Hans Modrow, designierter aber noch nicht gewählter neuer Ministerpräsident, ist in Gedanken schon bei seiner nach der Pause anstehenden programmatischen ZK-Rede. Die Einzelheiten der Reisebestimmungen scheinen ihm geregelt. Er geht nicht davon aus, dass der Vorgang "eine spontane Situation“ erzeugen könnte. Die Anwesenden stimmen der Vorlage zu. Am Nachmittag soll sie vom Ministerrat bestätigt werden.
Etwa die Hälfte der 17 Mitglieder des frisch gewählten Politbüros ist anwesend. Wer fehlt, ist Günter Schabowski.
11:20 Uhr: Alarm am Groß-Glienicker See
Im Groß-Glienicker See mangelt es aus ungeklärter Ursache an Sauerstoff. Um den Fischen das Überleben zu sichern, hat die Umweltverwaltung eine Firma beauftragt, das Wasser zu belüften.
11:00 Uhr: Schalck-Golodkowski ersucht erneut um ein Treffen Kohl - Krenz
Alexander Schalck-Golodkowski verlässt die ZK-Tagung, um telefonisch bei Kanzleramtsminister Seiters um ein Gespräch zwischen Kohl und Krenz zu ersuchen. Für den Fall, dass das ZK der SED die drei vom Bundeskanzler am Vortag im Bundestag genannten Voraussetzungen für eine vertiefende wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Bonn und Ost-Berlin erfüllen würde, könnten die beiden deutschen Regierungschefs kurzfristig in konstruktive Verhandlungen treten.
10:30 Uhr: Sorge vor Stau am Kudamm – im Dezember
Die Senatsverkehrsverwaltung hält es für möglich, dass vielleicht schon Mitte Dezember rund 300.000 Besucher aus der DDR nach West-Berlin kommen und erwägt deshalb die Sperrung des Kurfürstendamms für Kraftfahrzeuge an verkaufsoffenen Sonnabenden. Zwar sei kurzfristig keine amtliche Anordnung zu befristeten Sperrungen geplant, doch wolle man sich morgen (10.11.) mit Vertretern der Berliner Wirtschaft treffen, um das Problem vorsorglich zu erörtern, teilte der Sprecher der Verkehrsverwaltung, Wolfgang Göbel, mit.
10:00 Uhr: ZK der SED setzt seine Tagung vom Vortag fort
Im Gebäude des SED-Zentralkomitees wird das 10. Plenum fortgesetzt. Im Spitzengremium der Partei wird diskutiert, wer für die unübersehbare Krise der SED eigentlich verantwortlich sei. Für Parteichef Egon Krenz liegt die Verantwortung bei den Medien, die bislang ganz auf der Linie der Partei lagen, sich nun aber als Sprachrohr der Demonstranten gerieren und der Opposition ein Podium bieten.
Christa Hermann, 1. Sekretärin der SED-Kreisleitung im vogtländischen Reichenbach, dagegen klagt die Parteiführung an, sie belogen zu haben. Sie sei, wie auch viele andere Genossen, über die wahre Lage des Landes nicht richtig informiert worden.
09:00 Uhr: Keine Schulstrafen mehr für Ossietzky-Schüler in Pankow
Die Schulstrafen für Ost-Berliner Jugendliche, die an der Carl-von-Ossietzky Oberschule in Pankow im September vergangenen Jahres Militärparaden kritisiert hatten und der Schule verwiesen wurden, sind nun endgültig aufgehoben worden. Nach einer von DDR-Zeitungen verbreiteten Erklärung des amtierenden Volksbildungsministers Fuchs werden die Schüler rehabilitiert und können an der Schule ihr Abitur machen. Unter den Schülern ist auch Philip Lengsfeld, der Sohn von Vera Lengsfeld, der heute für die CDU im Bundestag sitzt.
08:30 Uhr: Neue Reiseregelungen werden getroffen
Im Innenministerium der DDR in der Mauerstraße werden im Auftrag des Politbüros neue Ausreiseregelungen entworfen. Schnell ist man sich einig, dass künftig alle Einschränkungen bei der ständige Ausreise aus der DDR wegfallen sollen. Um die DDR zu erhalten, sollen die Reisewilligen Bürger aber nicht länger zur ständigen Ausreise gezwungen werden. Die Beamten regeln daher nicht nur den Ministerratsbeschluss zur Ausreise, sondern auch das Recht auf Besuchsreisen. Diese müssen allerdings weiterhin beantragt werden.
Da nur etwa vier Millionen Bürger einen Reisepass besitzen, müssen alle anderen diesen erst beantragen und sich die bis zur Ausstellung üblichen Wartezeiten von bis zu sechs Wochen gedulden. Ein sofortiger Aufbruch aller DDR-Bürger soll damit verhindert werden. Die Formulierungen „können beantragt werden“ und „werden kurzfristig genehmigt“ sollen den Behörden den nötigen Handlungsspielraum sichern.
In den nächsten Tagen ist aber mit einem Ansturm der Bevölkerung auf die Genehmigungsbehörden – die Kreisämter der Volkspolizei – zu rechnen. Das Papier – „Beschlußvorschlag zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die CSSR“ – wird an MfS und MdI zur Abstimmung und Bestätigung vorgelegt.
Um die zuständigen Dienststellen und die Mitarbeiter des Pass- und Meldewesens einweisen und auf den Ansturm vorbereiten zu können, wird eine Sperrfrist für die Bekanntgabe des Beschlusses festgelegt. ADN soll verpflichtet werden, die Pressemittelung nicht vor dem 10. November, 4:00 Uhr früh, herauszugeben. Dieser Termin wird im Text der Presseerklärung nicht schriftlich fixiert, da dies den üblichen Gepflogenheiten widerspricht und überflüssig erscheint.
07:30 Uhr: Diamantene Hochzeit in Tegel
Gratulation. Das Fest der Diamantenen Hochzeit feiern heute die Eheleute Marie und Herbert Siegmund in Tegel. Sozialstadtrat Willimsky wird für das Bezirksamt später im Lauf des Tages gratulieren.
07:20 Uhr: Sorgen beim Reisebüro-Generaldirektor der DDR
Der oberste Reisedirektor der DDR macht sich Sorgen. Denn die DDR ist nach den Worten des Reisebüro-Generaldirektors Dannat weder organisatorisch noch finanziell auf die nach Inkrafttreten des neuen Reisegesetzes zu erwartende Reisewelle vorbereitet. In einem Interview der „National-Zeitung" sagte Dannat, das Angebot müsse besonders auf dem Gebiet der Kurzreisen erheblich erweitert werden. So seien bereits „Tagesfahrten per Fähre von Saßnitz nach Malmö oder Zweitagesfahrten Saßnitz—Malmö—Lundt" sowie Fahrten nach Hamburg – Lübeck, Nürnberg und Frankfurt/Main ins Auge gefaßt.“
07:16 Uhr: Sonnenaufgang
Sonnenaufgang über Berlin. Es ist bewölkt, sieben Grad – aber trocken. Noch. Und der Wind? Weht aus West bis Südwest.
07:10 Uhr: Wertheim ist dicht
Das Wertheim-Kaufhaus in Steglitz bleibt bis zum späten Vormittag geschlossen – Betriebsversammlung.
8. November 1989: SED-Politbüro tritt zurück.
20:00 Uhr: Demonstrationen für freie Wahlen
Am Abend wird wieder an vielen Orten demonstriert. In Neubrandenburg versammeln sich 25.000 Menschen. In der Textilarbeiterstadt Limbach-Oberfrohna im Bezirk Karl-Marx-Stadt gehen 15.000 Bürger auf die Straße. In Frankfurt/Oder demonstrieren 2.500 Menschen. Sie demonstrieren für freie Wahlen und Reisefreiheit.
19:00 Uhr: Christa Wolf bittet die Menschen, zu bleiben
Im Namen zahlreicher Künstler und Oppositioneller verliest Christa Wolf im DDR-Fernsehen einen dramatischen Appell an alle ausreisewilligen DDR-Bürger. Sie sollen ihre Entscheidung überdenken und im Land bleiben. Die DDR könne ihnen „kein leichtes, aber ein nützliches Leben“ versprechen, „keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen.“ Man stehe erst am Anfang eines grundlegenden Wandels. Doch unter Mithilfe aller könne eine „wahrhaft demokratische Gesellschaft“ gestaltet werden. Die Bürger sollten Vertrauen zu und zu allen, die bleiben wollen fassen, um zu verhindern, dass dieser Traum „wieder im Keim erstickt wird.“
Unterzeichnet ist der Aufruf von Christa Wolf, Ulrich Plenzdorf, Stefan Heym, Volker Braun, Ruth Berghaus, Christoph Hein, Kurt Masur, Bärbel Bohley (Neues Forum), Erhard Neubert (Demokratischer Aufbruch), Uta Forstbauer (Sozialdemokratische Partei), Hans-Jürgen Fischbeck (Demokratie Jetzt) und Gerhard Poppe (Initiative Frieden und Menschenrechte). Der Appell erscheint am nächsten Morgen, dem 9. November 1989, auf der ersten Seite des SED-Zentralorgans Neues Deutschland.
18:00 Uhr: Schabowski erläutert Rücktritt und Neubesetzung des Politbüros
In seiner Funktion als neu gewählter ZK-Sekretär für Medien hält Günter Schabowski seine erste Pressekonferenz als Sprecher des Zentralkomitees. Er informiert die Internationale Presse über den am morgen erfolgten Rücktritt des Politbüros. Sechs Politbüromitglieder sind wieder in das Gremium gewählt worden.
Andere – Hermann Axen, Horst Dohlus, Kurt Hager, Günter Kleiber, Werner Krolikowski, Erich Mielke, Erich Mückenberger, Gerhard Müller, Alfred Neumann, Horst Sindermann, Willi Stoph und Harry Tisch – seien ausgeschieden. Drei weitere Kandidaten sind bei der Wahl durchgefallen.
Dafür ist neben Wolfgang Herger, Wolfgang Rauchfuß und Gerhard Schürer auch der Dresdener SED-Bezirkschef und Hoffnungsträger Hans Modrow ins Politbüro gewählt worden. Modrow ist auch der einzige Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten. „Wir sind erst am Anfang des Prozesses der Erneuerung“ zieht Schabowski zum bisherigen Verlauf der Tagung Resümee.
17:00 Uhr: SED-Basis wünscht Erneuerung der Partei
In Ost-Berlin demonstrieren 15.000 Mitglieder der SED-Parteibasis vor der dem Gebäude des ZK. Zum Protest aufgerufen hat die SED-Organisation der Akademie der Wissenschaften. Mit scharfen Worten wird mit der alten Parteiführung abgerechnet. Manch einer sieht sich „vor dem Scherbenhaufen“ jahrelanger Parteiarbeit. Deutlich artikuliert sich der Wille der Basis zur vollständigen Erneuerung durch einen Sonderparteitag. Umso mehr sind die Mitglieder verärgert, dass sich die Partei „einfach nicht zum Vorwärtsgang entschließen will.“
Das gesamte ZK müsse neu gewählt werden. Ohne die Erneuerung der Partei sei, davon sind die Anwesenden überzeugt, die Erneuerung des Landes nicht möglich. Ein Lehrer meint, jeder müsse sich fragen, „was er gegen die Deformation der Partei unternommen hat.“ Für eine andere Rednerin geht es in diesen Tagen vor allem darum, den Sozialismus „vor dieser Welt zu legitimieren, ihm überhaupt eine Überlebenschance, eine Daseinsberechtigung zu geben.“
Markus Wolf und Hans Modrow - letzterer am morgen selbst als Feigenblatt in das Spitzengremium gewählt - sprechen dem "provisorischen alten - neuen Politbüro" die Führungslegitimation ab und verleihen sie den SED-Demonstranten. Modrow ist vor allem bestrebt, Krenz die Kompetenz zur Führung abzusprechen und sich selbst als den neuen Mann zu präsentieren. Krenz selbst spricht später auch. Er muss gestehen: "Diese Art der Fortsetzung der ZK Tagung" sei "auch für ihn etwas Neues." Mit einer kämpferischen Ansprache versucht er, die Basis für sich einzunehmen.
16:30 Uhr: Schalck-Golodkowski drängt auf Arbeitsgespräch Krenz - Kohl
Als Koautor des Aktionsprogramms der SED, das dem Plenum des ZK am Vormittag zur Beratung vorgelegt wurde, weiß Alexander Schalck-Golodkowski, dass die Bonner Bedingungen für eine engere Zusammenarbeit mit der DDR-Führung durchaus während der ZK-Sitzung erfüllt werden können.
Angesichts des stetig zunehmenden Drucks von der Straße ist die SED-Spitze eher bereit, politische Konzessionen als Verhandlungsmasse der Bundesregierung anzubieten, als sie ohne Bonner Gegenleistung an die DDR-Opposition zu verschenken.
Allerdings ist Eile geboten. Schalck-Golodkowski versucht telefonisch Kanzleramtsminister Seiters für eine Zwischenlandung des Bundeskanzlers auf seinem Rückflug vom Besuch in Polen zu gewinnen. Kohl könnte zu einem „mehrstündigem Arbeitsgespräch“ mit Krenz zusammentreffen. Nach Rücksprache mit dem Bundeskanzler, hält Seiters dies für nicht möglich.
15:00 Uhr: DDR-Reisbüros können immer weniger Reisen anbieten
Das Touristikprogramm der DDR kann der Ausreisewelle nichts entgegensetzen. Das ohnehin schon immer unzureichende Angebot an freien Reisemöglichkeiten, wird sich noch verschlechtern. Nur 1,7 Millionen Reisen können pro Jahr den knapp 16 Millionen DDR-Bürgern angeboten werden. Da die Partner in der CSSR, Bulgarien, Ungarn, Rumänien und der UdSSR – wohin nahezu der gesamte Auslandstourismus geht - stets steigende Preise diktierten, werde das Angebot in Zukunft eher schrumpfen.
14:00 Uhr: CSSR ist über Massenflucht der Ostdeutschen verstimmt
In den vergangen Tagen haben mehr als 40.000 Menschen die DDR über die tschechoslowakische Grenze zur BRD verlassen. Die Regierung der CSSR und das ZK der Kommunistischen Partei fordern die DDR ultimativ auf, die Ausreise von DDR-Bürgern direkt und nicht länger über das Territorium der CSSR abzuwickeln.
DDR-Botschafter Helmut Ziebart wird vom stellvertretenden Außenminister der CSSR Sádovský einbestellt. Zahlreiche Eingaben und Anfragen würden das Unverständnis der Bevölkerung Nord- und Westböhmens und anderer Landesteile über das Vorgehen der DDR-Regierung belegen. Tatsächlich nimmt durch die Massenabwanderung der Druck der eigenen Bevölkerung auf die tschechoslowakische Regierung zu. Diese verweigert sich bislang einer Reformpolitik.
13:00 Uhr: Stasi in die Produktion
Die empfindlichen Lücken, die die Ausreisewelle in die Volkswirtschaft der DDR reißt, sollen jetzt auch Mitarbeiter des Sicherheitsapparates füllen. Die NVA stellt 600 gelernte Lokomotivführer, Fahrdienstleiter und Rangierer vom Wehrdienst frei, um sie zivilen Aufgaben im Verkehrswesen zuzuführen.
Das MfS kommt einer seit Wochen auf Demonstrationen gestellten Forderung nach. Der Wirtschaft werden 385 Mitarbeiter zur Verfügung gestellt
12:30 Uhr: Kohl bietet wirtschaftliche Hilfe nur im Tausch gegen Demokratisierung an
Debatte zur Lage der Nation im Deutschen Bundestag. Bundeskanzler Kohl trägt seine Forderung an die DDR-Regierung öffentlich vor. Verzichtet die SED auf ihr Machtmonopol, werden unabhängige Parteien zugelassen und freie Wahlen verbindlich zugesichert, ist er bereit, „über eine völlig neue Dimension unserer wirtschaftlichen Hilfe zu sprechen.“
Kohl macht sich mit den Bedingungen, die er Ost-Berlin für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit stellt, die Forderungen der Volksbewegung in der DDR zu Eigen. Der Taktiker Kohl kann in den Verhandlungen als Anwalt der DDR-Bürger auftreten. Wie weit die Kooperationsmöglichkeiten gehen können, hängt auch von den Reaktionen der Sowjetunion und der westlichen Partner ab.
Grundsätzlich sind sich im Bundestag Regierung und Opposition einig, die Reformpolitik in der DDR zu unterstützen. Während die konservativ-liberale Koalition aber beginnt, die staatliche Einheit in Betracht zu ziehen, betont Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel (SPD) das Selbstbestimmungsrecht der DDR-Bürger. Keine der politischen Gruppierungen in der DDR rede derzeit von Wiedervereinigung. Vielmehr sei derzeit in der DDR und im gesamten Ostblock die "Wiedergeburt" des "demokratischen Sozialismus" zu beobachten, der bald auch auf Westeuropa ausstrahlen werde.
Antje Vollmer von den Grünen fügt hinzu, ausgerechnet jetzt von Wiedervereinigung zu sprechen hieße, den Menschen im Osten "eine eigene DDR-Identität" abzusprechen und "das Scheitern der Reformbewegung zu postulieren und vorauszusetzen." Das Gerede von der Wiedervereinigung sei "historisch überholter denn je."
10:00 Uhr: Gesamtes SED-Politbüro tritt zurück
Erstmals in seiner Geschichte ist das Politbüro zu Beginn der dreitägigen ZK-Tagung zurückgetreten. Egon Krenz wird als Generalsekretär wiedergewählt und unterbreitet dem ZK Vorschläge für das neu zu wählende Politbüro. Zwar werden einige führende Funktionäre der Honeckerzeit in den Ruhestand geschickt. Ansonsten aber setzt Krenz mehrheitlich die früheren Träger des Systems.
In einer programmatischen Rede rechnet er erneut mit seinem politischen Ziehvater und Vorgänger Erich Honecker ab. Alternative Vorstellungen in der Wirtschafts-, Medien- und Jugendpolitik hätten nicht durchdringen können. Mit Diskussionen zur internationalen Politik hätte man sich dem Verdacht ausgesetzt, die Gesamtpolitik in Frage zu stellen.
Am Ende hätte es bei Honecker Anzeichen politischer Arroganz gegeben, „Entscheidungen, die kollektive, besonnene Beratung erfordert hätten, entstanden aus spontaner, oftmals aus persönlicher Verärgerung.“ Honecker sei der Blick für das Leben „verloren gegangen.“ Nachdem er auch nach den Ereignissen vor und nach dem Republikgeburtstag keine Schlussfolgerungen zu ziehen bereit gewesen ist, habe ihn das Politbüro am 17. Oktober von seinen Funktionen entbinden müssen.
09:00 Uhr: Neues Forum wird zugelassen
Das Innenministerium korrigiert eine frühere Einschätzung. Für eine Vereinigung wie das Neue Forum könne durchaus eine gesellschaftliche Notwendigkeit bestehen, solange in dieser "die Verfassung der DDR als Grundlage des politischen Handelns ausdrücklich anerkannt wird." Da in der Verfassung der DDR die Alleinherrschaft der SED verankert ist, soll auf diese Weise eine Disziplinierung der Opposition erreicht werden. Das Ministerium bestätigt daher die Anmeldung der Bürgerinitiative. Die Zulassung des Neuen Forums wird seit Wochen auf allen Demonstrationen im Land gefordert.
Die Initiativgruppe des Neuen Forums kündigt nach der offiziellen Anmeldebestätigung weitere Gründungshandlungen an. Mit der Legalisierung des Neuen Forums steht nun auch anderen oppositionellen Gruppen und Parteien die Möglichkeit offen, an einer "tief greifenden und dauerhaften Umgestaltung in der DDR" mitzuwirken. Dies schließt auch eine Verfassungsänderung ein, die das verfassungsrechtliche Machtmonopol der SED aufhebt. Im Selbstverständnis der Opposition kann also der Disziplinierungsversuch der SED langfristig genutzt werden, um ihren Führungsanspruch auszuhöhlen.
08:30 Uhr: Neuwahlen gefordert
Auch aus den Gewerkschaften werden jetzt Neuwahlen gefordert. Die IG Bau-Holz, eine der 16 Einzelgewerkschaften des FDGB, betont die Notwendigkeit eines neuen Wahlgesetzes. Darüber soll nach Ansicht von LDPD-Chef Manfred Gerlach per Volksentscheid abgestimmt werden. Im Parteiorgan Der Morgen spricht sich Gerlachs Vize Hans-Dieter Raspe für die Streichung des in der Verfassung verankerten Führungsanspruchs der SED aus.
08:00 Uhr: Presse kritisiert ZK der SED
Von dem am Vormittag beginnenden ZK-Plenum werden weitreichende Reformen und personelle Veränderungen erwartet. Die offen zu Tage tretenden Widersprüche zwischen Parteiführung und Basis werden auch in der Presse behandelt. So kritisiert die Berliner Zeitung die bisherigen Fehlentscheidungen. Die Vorstellung, ein einziges Gremium könne entscheiden, worin die Interessen des Volkes und sein Glück bestehen, müsse der Vergangenheit angehören.
Die Bedürfnisse und Interessen der Menschen müssten von unten nach oben und demokratisch ermittelt werden. Dafür könnten auch das Neue Forum und andere gesellschaftliche Bewegungen das notwendige Forum bieten. Das politische System der DDR müsse sich auch daran messen lassen, wie effektiv gesellschaftliche Konflikte erkannt und gelöst werden können und inwieweit es in der Lage sei, einen Konsens herzustellen.
7. November: DDR-Ministerrat tritt zurück.
20:00 Uhr: Massenabwanderung reißt empfindliche Lücken in der DDR
Allein heute sind fast 20.000 DDR-Bürger in den Westen übergesiedelt. Am Grenzübergang Schirnding an der bayerisch-tschechischen Grenze melden sich pro Stunde 300 DDR-Übersiedler. Die Folge ist ein Stau der Aufnahmeverfahren, der in den Lagern zu Wartezeiten von bis zu einer Woche führt.
Die Massenabwanderung führt derweil in der DDR zu empfindlichen Engpässen. In Leipzig werden inzwischen Wehrpflichtige als Bus- und Straßenbahnfahrer eingesetzt, da 40% der Stellen nicht mehr besetzt sind. Da auch viele Ärzte und Krankenpfleger das Land verlassen, arbeiten viele Krankenhäuser schon mit Notfallplänen.
18:30 Uhr: Liberaldemokraten fordern neue Wirtschaftspolitik
Auch die Blockparteien stellen sich neu auf. Die National-Demokratische Partei wählt nach zum Teil kontroverser Debatte den Volkswirtschaftler Günter Hartmann zum neuen Vorsitzenden. Die Liberaldemokraten haben sich mit ihrem Vorsitzenden Manfred Gerlach schon früh zur Reformbewegung bekannt. Sie fordern von der künftigen Regierung einen Kassensturz in der Volkswirtschaft und grundlegende Wirtschaftsreformen.
18:00 Uhr: Rücktritt der Regierung Stoph
Auf seiner ersten Pressekonferenz als neuer - und erster - Regierungssprecher der DDR gibt Wolfgang Meyer den Rücktritt der gesamten DDR-Regierung, des DDR-Ministerrates, bekannt. Rücktrittsforderungen hatte es schon länger - zunächst aus der Opposition, dann auch aus den Blockparteien heraus - gegeben. Zuletzt waren auch Stimmen im Machtzentrum der SED laut geworden. Die Politik der Erneuerung des Generalsekretärs Egon Krenz werde keine Zustimmung finden, solange sie von der alten Regierungsmannschaft exekutiert werden soll.
Mit einem letzten Appell wendet sich die abgetretene Regierung an die Bevölkerung. "In dieser politisch und ökonomisch ernsten Situation" solle sie "alle Kraft dafür einsetzen, dass alle für das Volk, die Gesellschaft und die Wirtschaft lebensnotwendigen Funktionen aufrecht erhalten werden." Bürger, die die Absicht haben, das Land zu verlassen, sollten diese Entscheidung noch mal überdenken. "Wir brauen Jeden."
Bis zur Ernennung eines neuen Kabinetts bleiben die Minister geschäftsführend im Amt. Als ihre letzte Entscheidung schaffen sie den Wehrkundeunterricht an den Schulen ab.
17:00 Uhr: Protest gegen Wahlbetrug in Ost-Berlin
Während drinnen noch das Politbüro tagt, protestieren bis zu 3.000 Bürger vor dem ZK-Gebäude des gegen die Fälschungen bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 1989. Sie verlangen freie Wahlen und "Alle Macht dem Volk - nicht der SED."
16:00 Uhr: Seiters teilt die Bedingungen für Hilfe der BRD mit
Seiters teilt nach Rücksprache mit Kohl dem Unterhändler der DDR, Schalck-Golodkowski, telefonisch die Bedingungen der Bundesregierung für wirtschaftliche Hilfe mit. Materielle und finanzielle Unterstützung wird an die öffentliche Erklärung des Staatsratsvorsitzenden gebunden, dass die DDR bereit ist, die Zulassung oppositioneller Gruppen und die Zusage zu freien Wahlen zu gewährleisten. Dieser Weg wird nur als möglich erachtet, wenn die SED auf ihren absoluten Führungsanspruch verzichtet. Sollte die DDR diese Bedingungen erfüllen, so Seiters, halte der Bundeskanzler „vieles für machbar und alles für denkbar.“
Lesen Sie hier den detaillierten Bericht Schalck-Golodkowskis an Krenz über seine Verhandlungen in Bonn.
15:30 Uhr: Neues Forum fordert generelle und umfassende Reisefreiheit
Die Opposition bezieht zum neuen Reiserecht Stellung. Die vorgeschlagenen Regelungen werden vom Neuen Forum abgelehnt. Stattdessen solle jeder Bürger ein generelles Ausreisevisum nach allen Staaten der Welt erhlten, das alle zwei bis drei Jahre erneuert wird. Eine Befristung der Reisedauer und willkürlich auslegbare Einschränkungen dürfe es nicht geben. Jeder Bürger solle dazu berechtigt sein, jeden Tag die Grenze zu überschreiten, kurzfristig zu Ausstellungen, Veranstaltungen, Feiern und Besuchen fahren zu können.
Wie Berlin an diesem Wochenende das 25. Jubiläum des Mauerfalls feiert, finden Sie hier.
15:00 Uhr: SED-Nachwuchs greift Parteispitze an
Mitglieder der Parteihochschule der SED fordern von dem am nächsten Tag beginnenden 10. ZK-Plenum die Einberufung eines außerordentlichen Parteitags noch für 1989. Dort müsse ein neues Statut und ein neues Parteiprogramm beschlossen werden.
Auch die Parteispitze wird in Frage gestellt. Das ZK solle prüfen, welche Politiker "ihre Verantwortung nicht wahrgenommen, ihre Macht und ihren Einfluss missbraucht und sich dadurch diskreditiert haben." Alle Mitglieder des Politbüros müssten persönlich Rechenschaft über ihre Mitverantwortung ablegen. Die Partei sei im Dialog unglaubwürdig, wenn auf oberster Ebene weiterhin Opportunisten das Sagen hätten. Durch jahrelange Ignoranz und Arroganz habe die SED-Führung die jüngste Krise heraufbeschworen.
14:00 Uhr: Polizeiübergriffe sollen untersucht werden
In der Ost-Berliner Stadtverordnetenversammlung tagt erstmals eine Untersuchungskommission. Sie soll die Übergriffe am 7. und 8. Oktober durch Schutz- und Sicherheitsorgane der DDR aufklären. Marianne Birthler, Beauftragte der Kirchenleitung der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg schlägt vor, die Kommission mit einem unabhängigen Untersuchungsausschuss zusammenzuschließen, der sich in der vergangenen Woche konstituiert hat. In ihm engagieren sich Ärzte, Juristen, Psychologen, Schriftsteller, Kirchenvertreter und Mitglieder verschiedener Basisgruppen.
Nach mehrstündiger Debatte wird die Entscheidung vertagt. Immerhin wird im Roten Rathaus ein Kontaktbüro eingerichtet, wo betroffene Bürger Anzeige erstatten können.
13:00 Uhr: DDR-Außenminister regt Schließung der CSSR-Grenze zur DDR an
Außenminister Oscar Fischer informiert den sowjetischen Botschafter Kotschemassow über die vom Politbüro geplante Ausreiseregelung. Man wolle die CSSR fragen, ob es ihr Entlastung bringen würde, wenn sie die Grenzen zur DDR schließt. Die DDR könne dies nicht noch einmal tun. Das liefe auf eine Machtprobe mit der Bevölkerung hinaus. Des Weiteren sei die Dableib-Kampagne in den DDR-Medien zu verstärken. Eine Unterstützung des Unterfangens durch den Genossen Gorbatschow wäre sehr hilfreich.
12:00 Uhr: Politbüro berät Reisegesetz
Als einen weiteren Tagesordnungspunkt der Politbürositzung nimmt Krenz kurzfristig das soeben von der Volkkammer abgelehnte Reisegesetz auf. Grund sind die anhaltenden Beschwerden der tschechoslowakischen Regierung über die neue, massenhafte Abwicklung der Ausreisebewegung von DDR-Bürgern über ihr Staatsgebiet. Die Partei- und Staatsführung der CSSR fürchtet ein Übergreifen der Unruhen auf die eigenen Leute. Auf allen politischen Kanälen fordert sie von der SED-Spitze, den Ausreisestrom zu stoppen. Sie erwägt anderenfalls, eigene Maßnahmen zur Grenzkontrolle zu ergreifen oder gar, die Grenze zu schließen.
Es wird beschlossen, zumindest die Ausreiseregelung im Entwurf des Reisegesetzes in Kraft zu setzen. Eine entsprechende Beschlussfassung soll in den nächsten Tagen ausgearbeitet werden. Die Regierungen der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik werden über diese Absicht informiert.
Da die Durchführungsverordnung zur ständigen Ausreise noch dem am nächsten Tag beginnenden ZK-Plenum vorgelegt werden und danach „sofort“ in Kraft treten soll, ist große Eile geboten. Mit der Ausarbeitung wird das MfS beauftragt, das in diesen Fragen das formal zuständige Innenministerium steuert. Generalleutnant Gerhard Neiber vom MfS und seine Mitarbeiter arbeiten noch am gleichen Tag einen ersten Entwurf aus, der mit dem Innen- und mit dem Außenministerium abgestimmt wird. Dieser Entwurf sieht vor, dass Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich erteilt werden sollen. Von Privat- oder Besuchsreisen ist in dem Papier noch nicht die Rede.
11:30 Uhr: Volkskammer lehnt neues Reiserecht ab
In der Volkskammer regt sich Widerstand gegen die bisherige Praxis, in der die SED-Spitze den Volksvertretern lediglich zugestand, der Politik der Regierung zuzustimmen. Der Rechtsausschuss des DDR-Parlaments verlangt die sofortige Einberufung der Volkskammer zur Beratung der Lage der Nation. Das Vorgehen des Präsidiums, die Sitzung ungeachtet des Willens von mehr als einem Drittel der Abgeordneten zu verschleppen, wird missbilligt.
Der vorgelegt Entwurf zum neuen Reisegesetz wird vom Verfassungs- und Rechtsausschuss und von der in der Volkkammer vertretenen FDJ entschieden abgelehnt. Auf die vorgesehen Visumspflicht solle grundsätzlich verzichtet werden. Auch die geplante Begrenzung auf 30 Reisetage pro Jahr müsse überdacht und die Frage der Beschaffung von Devisen zur Reisefinanzierung geklärt werden.
10:00 Uhr: Sowjetunion genehmigt oppositionelle Kundgebung am Nationalfeiertag
Zum 72. Jahrestag der Oktoberrevolution findet auf dem Moskauer Roten Platz erstmals eine genehmigte Gegendemonstration zur offiziellen Militärparade statt.
09:00 Uhr: Politbüro will Ausreiseregelung ausarbeiten lassen
Das Politbüro tritt zu seiner regulären diensttäglichen Sitzung zusammen. Hauptthema der auf fünf Stunden angesetzten Beratung ist die am nächsten Tag beginnende 10. Tagung des Zentralkomitees der SED. Umfassende personelle Veränderungen stehen an. Zunächst soll das Politbüro geschlossen zurücktreten. Dann soll Egon Krenz Vorschläge zur Neubesetzung des SED-Führungsgremiums machen. Das Politbüro berät neben diesen Vorschlägen auch sein mehrstündiges Referat zur Lage der DDR.
Nachdem Krenz schon am 3. November in seiner Fernsehansprache den Rücktritt einzelner Regierungsmitglieder angekündigt hat, wird nun die Demission der gesamten Regierung Stoph beschlossen. Am Nachmittag soll dies bekannt gegeben werden. Wolfgang Herger, im ZK für Sicherheitsfragen zuständig, will dem ZK die Zulassung des Neuen Forums vorschlagen. Krenz berichtet über sein Gespräch mit Sowjetchef Gorbatschow. Die Unterredung Schalck-Golodkowskis hält er geheim.
08:00 Uhr: Junge Welt erkennt revolutionäre Situation
Das FDJ-Organ Junge Welt erklärt sich eindeutig für die Reformbewegung. Der Ruf „Wir sind das Volk!“ klinge, so ist in einem Kommentar zu lesen, wie „Ihr nicht!“ Die Demonstranten würden sich damit von jenen „da oben“ abgrenzen, die „auf den Frust von vielen mit Arroganz reagiert“ haben und „auf noch mehr Frust mit noch mehr Arroganz.“
Die Demonstranten würden mit jeder weiteren Demonstration immer wieder bestätigen, dass sie die Wende eingeleitet haben und eben nicht jene da oben. „Und das stimmt. Eine revolutionäre Situation besteht dann, wenn die da oben nicht mehr können und die da unten nicht mehr wollen.“ So, und nicht anders lautet die leninsche Definition einer revolutionären Situation. Und in der ist es für eine Zeitung wie die Junge Welt selbstverständlich, gegen die da oben Stellung zu beziehen.
6. November: Neues Reisegesetz stößt auf einhellige Ablehnung.
22:00 Uhr: Reisefreiheit in die CSSR wird zur Massenflucht genutzt
Wie die staatliche Nachrichtenagentur der DDR ADN mitteilt, sind seit dem frühen Samstagmorgen (4.11.) bis Montagmittag insgesamt 23.200 DDR-Bürger über die offenen Grenzen der Tschechoslowakei in die Bundesrepublik geflohen. Stündlich haben bis zu dreihundert Personen mit ihren Fahrzeugen allein den oberfränkischen Grenzübergang Schirnding passiert.
21:15 Uhr: DDR-Fernsehen fragt: „Ist Leipzig noch zu retten?“
Auf dem alten Sendeplatz von Karl Eduard von Schnitzlers Hetzpropaganda „Der schwarze Kanal“ wird ab sofort das neue Magazin „Klartext“ gesendet. Ein aufsehenerregender Beitrag setzt sich unter dem Titel „Ist Leipzig noch zu retten?“ mit dem katastrophalem Zustand der Leipziger Bausubstanz auseinander. Der Verfall der architektonisch wertvollen Innenstädte wird seit Wochen auf den Bürgerprotesten angeprangert und rückt nun auch in den Fokus der Medien.
19:00 Uhr: Leipziger Montagsdemo lehnt neues Reisegesetz ab
In Leipzig findet die traditionelle Montagsdemo statt. Die Stimmung ist aggressiver als in den letzten Wochen. Die „Internationale“ wird nicht mehr gesungen. Die gerade erst in ihre Ämter aufgerückten Oberbürgermeister Günter Hädrich und SED-Bezirkschef Roland Wötzel werden ausgepfiffen und kommen praktisch nicht zu Wort. Wötzel hatte sich immerhin als einer der „Leipziger Sechs“ für den friedlichen Verlauf der Montagsdemo am 9. Oktober stark gemacht.
„Zu spät, zu spät“ werden sie von Hunderttausenden niedergebrüllt. Transparente wie „SED muss weg“ und „SED – das tut weh“ verdeutlichen die wachsende Ungeduld mit der Staats- und Parteiführung. Diese ist offenkundig unfähig, mit spürbaren Veränderungen die Situation zu entschärfen. Vor allem das am morgen veröffentlichte neue Reiserecht stößt auf einhellige Ablehnung. „Wir brauchen keine Gesetze – die Mauer muss weg!“ ruft die Menge.
Olaf Reiche, ein Redner, der seine Verachtung für die Sicherheitskräfte dadurch unterstreicht, dass er seine komplette Wohnanschrift angibt, drückt die Verbitterung vieler DDR-Bürger aus: „Jetzt sollen wir reisen dürfen, mit dem Bettelsack auf dem Rücken.“ Unter dem Beifall der Demonstranten fordert er unmissverständlich: „Das Reisegesetz muss weg!“
Jochen Läßig vom Neuen Forum erinnert die Demonstranten, dass sie bei aller Euphorie über die seit kurzem praktizierte Redefreiheit, den Blick für die nach wie vor herrschenden Strukturen nicht verlieren sollen. Trotz der angekündigten Reformen haben sich noch keine substanziellen Veränderungen ergeben. Der halbherzige Entwurf zum neuen Reisegesetz zeige deutlich, wie die Bürger weiter in Unmündigkeit gehalten werden sollen.
Tatsächlich trägt der als Entgegenkommen getarnte Entwurf zu einer Verschärfung des Gegensatzes zwischen Bevölkerung und Regierung bei. Statt mit einer beherzten Neuregelung dem Bürger die Glaubwürdigkeit des eigenen Reformansatzes unter Beweis zu stellen, versucht die Regierung zu lavieren und den status quo im Reiserecht trotz Aufweichungen beizubehalten. So stellt es sich zumindest für die Bürger dar, die den Beteuerungen von Krenz & Co. nun noch weniger Glauben schenken.
18:00 Uhr: Neues Forum wird in Karl-Marx-Stadt als politischer Partner akzeptiert
Dresden erlebt seine bis dahin größte Demonstration. Hunderttausende ziehen durch die Stadt. An der Spitze des Zuges marschieren der inzwischen von großen Teilen der Bevölkerung als Reformer akzeptierte SED-Bezirkschef Hans Modrow und Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer.
In Halle fordern 60.000 Menschen den Rücktritt von Modrows Kollegen Hans-Joachim Böhme, der auch dem Politbüro angehört. Der Oberbürgermeister von Karl-Marx-Stadt Eberhard Langer gewinnt dagegen den Beifall von 50.000 Demonstranten, als er erklärt, ohne Weisungen „von oben“ abzuwarten Vertreter des Neuen Forums in die kommunalpolitische Arbeit einbezogen zu haben. SED-Bezirkschef Siegfried Lorenz, Politbüromitglied und Vertrauerter von Staatschef Egon Krenz, erkennt die Bedeutung der Kundgebungen für die „Wende“ an. Er stehe für eine „radikale Erneuerung des Sozialismus“ ein, „in dem wahre Demokratie gebraucht wird wie die Luft zum Atmen.“
13:00 Uhr: Proteste in Dresden zeigen Wirkung
Der Ministerrat der DDR gibt bekannt, auf den Bau eines umstrittenen Reinstsiliziumwerkes in Dresden-Gittersee zu verzichten. Bürgerinitiativen haben seit Monaten gegen das Projekt demonstriert. Für die Umwelt wurden verheerende Folgen erwartet.
In Ost-Berlin ordnet Stasi-Chef Mielke die Vernichtung von Akten an.
12:00 Uhr: Schalck-Golodkowski verhandelt in Bonn
Der Außenhandelsexperte des ZK der SED, Alexander Schalck-Golodkowski, trifft im Auftrag von Egon Krenz in Bonn mit Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble zusammen. Die geheimen Verhandlungen drehen sich hauptsächlich um die Gewährung neuer Kredite in Höhe von 12 bis 13 Milliarden DM. Schalck-Golodkowski bietet erweiterte wirtschaftliche Kooperationen an und stellt eine sukzessive Öffnung der Mauer in Aussicht.
Vor allem aber wird die Bundesrepublik gebeten, sich kurzfristig an der Finanzierung des mit dem neuen Reisegesetz zu erwartenden erweiterten Tourismus der DDR-Bürger zu beteiligen. Schalck-Golodkowski spricht von einer zusätzlichen Investition in einer Größenordnung von 3,8 Milliarden DM.
Obgleich sich Seiters und Schäuble gesprächs- und verhandlungsbereit zeigen, können sie dem Gesandten des SED-Politbüros keine Zusagen machen. Unter dem Eindruck der Ereignisse vom Samstag (4.11.) sind führende Mitglieder der Bundesregierung nicht sicher, ob die gegenwärtige DDR-Regierung noch eine wie auch immer geartete Legitimation zu solchen Verhandlungen besitzt. Fürs erste aber erwartet man klare Aussagen von der ZK-Sitzung in der zweiten Wochenhälfte (8. – 10.11.), die dem eingeschlagenen Kurs der Wende und Erneuerung die notwendige Glaubwürdigkeit verleihen.
10:00 Uhr: Neues Reisegesetz stößt auf breite Ablehnung
In den Medien wird der Entwurf zum neuen Reiserecht vorgestellt. Er sieht lange Bearbeitungszeiten vor. Ausreisevisa müssen stets aufs Neue beantragt werden. Der Gesamtreisezeitraum ist auf dreißig Tage pro Jahr beschränkt. Der Gesetzentwurf nennt "Versagungsgründe", die nicht eindeutig und nachprüfbar definiert sind. Der Behördenwillkür wird damit weiterhin großer Spielraum gelassen.
Der ökonomische Engpass des Staates zwingt das Politbüro, den Bürgern den Erwerb von Reisezahlungsmitteln zu verweigern. Der zu erwartende Umtausch von schwacher DDR-Währung in Westgeld würde die knappen Devisenreserven des Staates rasch auffressen. Der Passus stößt wie auch das restliche Gesetz auf Unverständnis und Ablehnung. Er zwingt die DDR-Bürger, ihre Reisen als Bittsteller anzutreten.
Gregor Gysi, Vorsitzender des Rates der Kollegien der Rechtsanwälte der DDR, nennt den Gesetzentwurf halbherzig und weist ihn als völlig unzureichend zurück.
5. November: Ost-Grüne wollen Partei gründen.
20:00 Uhr: Ost-Grüne wollen mangelndes Umweltbewusstsein bekämpfen
In der Berliner Bekenntniskirche konstituiert sich eine Initiativgruppe zur Gründung einer grünen Partei. Nachdem in den nächsten Wochen die erforderlichen Dokumente an der Basis diskutiert wurden, soll noch vor Jahresende die Parteigründung vollzogen werden. Die Gruppe will nicht nur gegen die eklatanten Umweltverschmutzungen in der DDR vorgehen. Entscheidend sei es vielmehr, gegen ein verseuchtes Bewusstsein vorzugehen, dass sich in dem Glauben an ständig wachsenden Wohlstand ein permanentes wirtschaftliches Wachstum zum Ziel setzt. Gegen diese Art von Utopie, die suggeriere, „der Mensch könne sich willkürlich im Lebenssystem Erde bewegen“, gelte es anzukämpfen und konkrete Alternativen aufzuzeigen.
19:30 Uhr: Fernsehmitarbeiter entschuldigen sich
Die SED-Kreisleitung des Fernsehens konstatiert in der Aktuellen Kamera große Betroffenheit über „unsere Mitverantwortung an der entstandenen Krisensituation in der DDR.“ Weiter heißt es in der Erklärung: „Wir haben es zugelassen, dass unser Medium durch dirigistische Eingriffe missbraucht wurde.“
18:00 Uhr: Demonstrationen
In Gera fordern Demonstranten die Streichung des Führungsanspruches der SED aus der DDR-Verfassung sowie freie Wahlen und die Anerkennung der oppositionellen Gruppen.
14:30 Uhr: Denkmalpfleger beklagen Verwahrlosung der Altstädte
Der Zentralvorstand der Gesellschaft für Denkmalpflege im Kulturbund der DDR brät in Halle dringende Maßnahmen zur Rettung der von Verfall bedrohten historischen Stadtkerne. Ungerechtfertigte Abrisse werden beklagt. In den letzten Jahren habe sich der Staat beinahe ausschließlich auf den industriellen Wohnungsbau konzentriert. Mit vorgefertigten Betonplatten hat man an den Stadträndern landschaftlich unangepasste Schlafsilos hochgezogen. Die architektonisch wertvollen Citybereiche werden dagegen vernachlässigt und drohen zu verrotten. Seit Wochen wird auch dagegen demonstriert.
12:00 Uhr: Reformer rückt in Leipzig an die SED-Spitze
Die SED-Bezirksleitung in Leipzig wählt einen neuen 1. Sekretär, nachdem der bisherige Amtsinhaber Horst Schumann aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten ist. Mit Roland Wötzel rückt einer der „Leipziger Sechs“ an die Spitze. Wötzel hatte am 9. Oktober gemeinsam mit Kurt Masur und vier weiteren Bürgern in einem Aufruf für Besonnenheit und einen friedlichen Dialog geworben. Der Reformer hatte damit maßgeblich für den gewaltfreien Verlauf dieser für den weiteren Verlauf der friedlichen Revolution in der DDR so entscheidenden Montagsdemo beigetragen. Es ist nicht der einzige Wechsel an der Spitze einer SED-Bezirksleitung. Auch Schwerin bekommt mit dem Fachbuchautoren Hans-Jürgen Audehm einen neuen 1. Sekretär.
4. November: Massendemonstration in Ost-Berlin.
19:30 Uhr: Ständige Ausreise aus der DDR "unbürokratisch und schnell" möglich
In der Aktuellen Kamera gibt der stellvertretende Innenminister, Generalmajor Dieter Winderlich, bekannt, dass nunmehr auch Anträge auf ständige Ausreise in der DDR selbst "unbürokratisch und schnell" entschieden und "nur in ausgesprochenen Ausnahmefällen, bei denen es um legitime staatliche Interessen gehe", abgelehnt würden. Das Vertrauen in die DDR-Behörden und den empfohlenen Weg der Antragstellung hält sich indes in Grenzen. Die meisten Ausreisewilligen bevorzugen weiterhin den Umweg über die CSSR. Selbst das Neue Deutschland berichtet, dass die Botschaft der DDR in Prag die Ausreise in die Bundesrepublik nunmehr problemlos ermöglicht. Den etwas weiteren Weg über Ungarn und Österreich sind mitlerweile mehr als 50.000 Menschen gegangen.
18:00 Uhr: Im ganzen Land wird demonstriert
Am Abend gehen die Menschen in 40 weiteren Städten der DDR auf die Straße. In Jena demonstrieren 10.000 Menschen für freie Wahlen. In Suhl nehmen 30 000 Menschen an einer Kundgebung teil. Sie protestieren unter anderem gegen die Errichtung einer neuen Mülldeponie. Die Rollen von MfS und SED werden offen in Frage gestellt. Mehrere tausend Demonstranten ziehen durch Arnstadt. Gefordert wir die Zulassung des Neuen Forums. Im thüringischen Lauscha verlangen 3.500 Menschen die Einsetzung einer Untersuchungskommission, die die Gründe für den Niedergang der Glasbläserkunst aufdecken soll. Zehntausende protestieren in Potsdam, Plauen, Schwerin, Altenburg und Dresden für Pressefreiheit und den Rücktritt der Regierung.
Das Neue Forum in Rostock hat seit heute einen neuen Sprecher. Der Pastor Joachim Gauck hat sich der Bürgerbewegung erst im September angeschlossen, gehört aber im Norden der DDR schon bald zu ihren bekanntesten Gesichtern.
15:00 Uhr: CDU fordert Neuwahlen
Der offenkundige Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 - Egon Krenz verkündet 98,85 Prozent für die Kandidaten der Nationalen Front - gehört zu den auslösenden Ereignissen, die zu den anhaltenden Massenprotesten im Herbst in der DDR führen. Oppositionelle Gruppen können die massiven Wahlfälschungen nachweisen. Angesichts der Ereignisse der letzten Wochen, gewiss aber auch unter dem Eindruck der machtvollen Massendemonstration am Vormittag in Ost-Berlin, fordert die Fraktion der Blockpartei CDU die sofortige Einberufung der Volkskammer. Ein neues Wahlgesetz soll zügig ausgearbeitet und vorgezogene Neuwahlen durchgeführt werden.
14:14 Uhr: Steffie Spira fordert die Regierung zum "Abtreten" auf
Ein spätes Highlight der Großkundgebung ist der Redebeitrag der 81 Jahre alten Schauspielerin Steffie Spira. Die Kommunistin hatte als Brechtdarstellerin große Erfolge gefeiert und war 1947 aus dem Exil in Mexiko in die DDR zurückgekehrt. Zu Beginn ihrer Rede zitiert sie Brecht: "So wie es ist, bleibt es nicht Aus Niemals wird Heute noch!" Unter großem Applaus fordert Spira für ihren Urenkel, er möge "ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde" aufwachsen "und das keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen." Als sie schließlich noch den Rücktritt der "über 60- und 65jährigen", also der Regierung fordert, kennt die Begeisterung keine Grenzen mehr.
Fast alle auf der Großkundgebung am Alexanderplatz gehaltenen Reden können Sie hier nachlesen oder sich hier noch einmal ansehen.
13:57 Uhr: Hein warnt: "Wir haben es noch nicht geschafft"
Auch der Schriftsteller Christoph Hein warnt vor der Euphorie dieser Tage. "Lassen wir uns nicht von der eigenen Begeisterung täuschen!" ruft er den Menschen zu. Es gebe viel zu tun, "und wir haben wenig Zeit für diese Arbeit." Nicht alle Kräfte im Land würden eine neue Gesellschaft wünschen.
Hein erinnert an Erich Honecker, dessen Traum sicher auch eine andere Gesellschaft war. Den aus Faschismus und Stalinismus heraus entstandenen Strukturen habe Honecker sich ebenso wie "viele gute, kluge und ehrliche Menschen unterordnen" müssen. Hein warnt die Bürger, nun nicht neue Strukturen zu schaffen, "denen wir eines Tages hilflos ausgeliefert sind."
Eine demokratische Gesellschaft sei zu schaffen, deren gesetzliche Grundlage einklagbar ist. Schließlich warnt Hein auch vor den "vielen Vätern des Erfolgs", die - "bis hoch in die Spitzen des Staates" - die errungenen Veränderungen für sich reklamieren würden. Die Stadt Leipzig, schlägt Hein vor, sollte zur "Heldenstadt der DDR" ernannt werden.
13:43 Uhr: Müller warnt vor dramatischen Konsequenzen der Wirtschaftskrise
Der bekannte Dramatiker Heiner Müller trübt ein wenig die Stimmung. In Kontrast zu den euphorisierend wirkenden Beiträgen seiner Vorredner, erinnert der schon leicht angetrunkene Müller an die Schwierigkeiten, die das Leben der Bevölkerung nach der friedlichen Revolution nicht leichter machen werden.
"Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken" warnt Müller. "Die Preise werden steigen und die Löhne kaum. Wenn Subventionen wegfallen, trifft das vor allem uns. Der Staat fordert Leistung. Bald wird er mit Entlassung drohen. Wir sollen die Karre aus dem Dreck ziehen." Müller liest aus einem Aufruf zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften vor. Sein pessimistischer Beitrag wird nicht nur freundlich angenommen.
Heiner Müller war immer für eine unbequeme Wahrheit gut. Lesen Sie hier eine Erinnerung an den 1995 verstorbenen Dramatiker.
13:12 Uhr: Christa Wolf: "Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg!"
Für Christa Wolf hat die revolutionäre Bewegung auch die Sprache befreit. "Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei von den Lippen." Die populäre Schriftstellerin Christa Wolf macht vor allem neue Begrifflichkeiten zum Gegenstand ihres Beitrags. Das Wort "Wende" klingt für sie weiterhin nach von "oben" verordneter Veränderung. Sie bevorzugt stattdessen den Begriff "Revolution", denn "Revolutionen gehen von unten aus." Ihren "Traum" beschreibt sie so: "Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!" Den wichtigsten Satz der letzten Wochen - eine schlichte Vorstellung - sollen die Menschen in Zukunft nicht vergessen: "Wir - sind - das - Volk!"
13:02 Uhr: Schorlemmer appelliert an Toleranz und Gemeinsamkeit
Pfarrer Friedrich Schorlemmer, Mitbegründer des Demokratischen Aufbruch, beschwört den Geist der Veränderung. „Atemberaubend“ sei, was im Land passiert. All jenen, die noch gehen wollen ruft er zu: „Hier lohnt es sich, hier wird es spannend. Bleibt doch hier!“ Der begonnene Dialog müsse fortgesetzt werden und spürbare Ergebnisse bringen.
Das Misstrauen des Volkes gegen jene, die jetzt „das weiche Pfötchen“ hinhalten, während Viele „noch die Kralle darunter fürchten“, sei verständlich. Vor allem „das größte innenpolitische Sicherheitsrisiko, die Staatssicherheit“ müsse „radikal abgebaut und vom Volk kontrolliert“ werden. Doch solle man nicht alte Intoleranz gegen neue austauschen, deshalb „bitte keine Rachegedanken!“ Was das Land brauche, sei eine „Koalition der Vernunft“, in der die bisherigen Parteien mit den neuen Bewegungen zusammenarbeiten.
12:54 Uhr: Heym beschwört den aufrechten Gang
Große Begeisterung löst der Auftritt des lange verfemten Schriftstellers Stefan Heym aus. Der als „Nestor unserer Bewegung“ angekündigte 76jährige findet die richtigen Worte. Ihm ist, „als habe einer das Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation.“ Heym spricht seinen Landsleuten Mut zu: „Wir haben in den letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen.“ Sozialismus, erklärt Heym, der immer wieder von orkanartigem Applaus unterbrochen wird, sei ohne Demokratie undenkbar. „Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes.“
12:48 Uhr: Schabowski lässt sich auspfeifen
Unbestreitbar Courage beweist der Berliner SED-Bezirkschef Günter Schabowski. Die Teilnahme des ZK- und Politbüromitglieds konnte die SED den Organisatoren abringen. Unter lauten Buhrufen stellt sich Schabowski einmal mehr dem Volk. Sein Auftritt ruft die lautesten Unmutsbekundungen der Demonstranten hervor. Bevor er sich in die Höhle des Löwen wagt, schlägt ihm der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer aufmunternd auf die Schulter. „Ich steig ja nicht aufs Schafott“ murmelt er, doch dürfte er sich schon so fühlen, als er das Podium betritt und noch vor den ersten Worten gnadenlos ausgepfiffen wird.
„Billigen wir einander die Kultur des Dialogs zu!“ fordert Schabowski – eine Kultur freilich, die er und seine Partei den Bürgern lange genug selbst vorenthalten haben. Schabowski gibt den bekehrten und besserungswilligen Sünder. Er wirbt für den Veränderungsprozess der Partei und die gesellschaftlichen Errungenschaften aus 40 Jahren DDR. Das ZK der SED werde auf seiner am Mittwoch (8.11.) beginnenden Sitzung weitreichende Reformen beschließen. Schabowskis Auftritt kann durchaus persönlichen Respekt abnötigen. Beruhigen, Einlullen oder gar Überzeugen kann er nicht. Die Demonstranten nehmen die Wortmeldung hin – sie sind schon weiter.
12:36 Uhr: Gerlach fordert politischen Neustart
Der Vorsitzende der liberalen Blockpartei LDPD, Manfred Gerlach, fordert die demokratische Erneuerung der DDR und Pluralismus in der Volkskammer. Die Wahrheit sei nie nur im Besitz einer Gruppe. Für die Liberaldemokraten gehe es um Offenheit und völlige Gleichberechtigung im politischen Streit. Um die Ergebnisse der Wende zu sichern und ihre Fortführung zu gewährleisten, sei der Rücktritt der Regierung von entscheidender Bedeutung.
12:24 Uhr: Jens Reich tritt für Zivilcourage ein
Für das Neue Forum tritt der Molekularbiologe Prof. Jens Reich ans Mikrofon. Er wünscht sich die Köpfe frei von Angst, Vorsicht und Kleinmut. Er fordert couragiertes Eintreten für all jene, die schwächer sind als die vermeintliche Obrigkeit. Unter Erinnerung an die zur gleichen Zeit unter ungleich gefährlicheren Umständen aufflammende Freiheitsbewegung der Menschen in Südafrika sagt Reich: „Sie beweisen Todesmut, lasst uns wenigstens Zivilcourage zeigen.“
12:10 Uhr: Markus Wolf bedauert Fehler der SED und hofft auf Erneuerung
Einen ersten Contrapunkt setzt der Auftritt von Markus Wolf. Der Generaloberst a.D. des MfS und Ex-Chef der DDR Auslandsspionage ist bis seinem Ausscheiden aus dem Dienst 1986 eine der bedeutendsten Persönlichkeiten im Sicherheitsapparat der DDR gewesen und nach Erich Mielke die Nr. 2 der Stasi. Zwar ist er seit längerem als Kritiker des DDR-Machtapparates bekannt, doch wird er von den meisten Bürgern des Landes weiterhin mit dem Unterdrückungssystem der DDR in Verbindung gebracht. Dementsprechend wird er während seiner Ausführungen auch immer wieder von den Demonstranten ausgepfiffen.
In seiner Rede geht Wolf hart mit seiner Partei ins Gericht. Die Führung habe in einer Scheinwelt gelebt. Er wünscht sich als Kommunist die grundlegende Erneuerung seiner Partei, da es ihr an klar denkenden, couragierten und konzeptionell kompetenten Köpfen nicht fehle.
11:55 Uhr: Birthler erinnert an polizeiliche Übergriffe am 7. Oktober
Die Pädagogin Marianne Birthler ruft für die Initiative Frieden und Menschenrechte eindringlich das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte am 7. Oktober in Erinnerung. Noch immer sei das geschehene Unrecht nicht aufgeklärt, Betroffen wären nicht rehabilitiert.
11:42 Uhr: Gysi für neues Verhältnis von Politik und Recht
Der Rechtsanwalt Gregor Gysi unterstreicht noch mal die Forderung nach einer Reform des DDR-Strafrechts. Die beste Staatssicherheit sei immer noch die Rechtssicherheit. Machtmissbrauch solle künftig streng geahndet werden. Die Bemerkung: „Das möchte ich Dir lieber nicht am Telefon sagen“ solle der Geschichte angehören. Gysi spricht sich für ein grundsätzlich neues Verhältnis zur Wahrheit aus. Dazu gehöre auch, anzuerkennen, dass sich der unbeliebte Staatschef Egon Krenz am 9. Oktober als Sicherheitsbeauftragter gegen eine chinesische Lösung entschieden haben soll. Krenz verdiene eine Chance, müsse sich aber künftig demokratischer Kontrolle stellen.
11:36 Uhr: Liefers warnt vor Wendehälsen
Jan Joseph Liefers, Schauspieler am Deutschen Theater Berlin, warnt vor dem Versuch führender Funktionäre, Erfolge der Reformbewegung für sich zu beanspruchen. Das Machtmonopol der SED und die von ihr kreierten Strukturen müssten zerstört und von einem demokratischen Sozialismus ersetzt werden. Liefers erinnert sich später, von Ex-Spionagechef Markus Wolf vor seinem Auftritt ein Stück Pflaumenkuchen angeboten bekommen zu haben – in dem Moment habe er gewusst: die DDR ist am Ende.
11:25 Uhr: Ulrich Mühe spricht aus, was alle fühlen: "Es war einfach wunderbar"
Vor dem „Haus des Reisens“ an der nordöstlichen Ecke des Alexanderplatzes ist eine provisorische Rednertribüne auf einem LKW-Hänger gezimmert worden, die in den nächsten Stunden das Zentrum der friedlichen Revolution ist. In einem kurzen Redebeitrag begrüßt die Schauspielerin Marion van de Kamp mit den Worten „Die Straße ist die Tribüne des Volkes“ die Anwesenden. Diese Kundgebung sei keine „Manifestation“, sondern „eine sozialistische Massendemonstration.“ Im Anschluss trägt der Schauspieler Ulrich Mühe den Inhalt der Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR vor. In ihnen werden Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit garantiert.
11:00 Uhr: Kundgebung auf dem Alexanderplatz beginnt
Zum Abschluss der großen Demonstration finden sich etwa eine halbe Million Menschen auf dem Alexanderplatz ein, wo prominente Persönlichkeiten aus Kultur, Gesellschaft und Politik die Gelegenheit erhalten, zu den Demonstranten zu sprechen. Die „Demonstration für Medienfreiheit entsprechend der Inhalte der Artikel 27 und 28 der Verfassung der DDR“ ist seit Wochen vor allem von Mitgliedern der Akademie der Künste der DDR, des Deutschen Theaters Berlin und der Sektion Rockmusik des Komitees für Unterhaltungskunst vorbereitet worden. Unter den Rednern finden sich nicht nur Schauspieler, Schriftsteller und Geistliche. Auch SED- Mitgliedern wie Bezirkschef Günter Schabowski und Ex-Spionagechef Markus Wolf wird das Wort erteilt
Im Tagesspiegel erinnert sich die Schauspielerin Jutta Wachowiak, eine der Mitinitiatoren der Demonstration, an das Ereignisse, wie Sie hier lesen können.
10:00 Uhr: Größte Demonstration in der Geschichte der DDR in Ost-Berlin
Seit den frühen Morgenstunden haben sich die Straßen der Ost-Berliner Innenstadt mit Menschen gefüllt. Der Verkehr ruht vollständig. Schauspieler und Künstler mit grün-gelben Schärpen und der Aufschrift "Keine Gewalt" werden von allen als Ordner akzeptiert. Die Volkspolizei hält sich im Hintergrund. Man ist eine Sicherheitspartnerschaft eingegangen. Unbemerkt von den meisten Demonstranten haben sich massive Kräfte der Nationalen Volksarmee (NVA) vor dem Brandenburger Tor stationiert, um einen Grenzdurchbruch an dieser Stelle zu verhindern.
Fünf Stunden lang ziehen Hunderttausende an Volkskammer, Staatsratsgebäude und ZK-Gebäude vorbei und skandieren den Leitspruch dieser Tage: „Wir sind das Volk.“ Hinter den Fenstern des ZK-Gebäudes halten sich die Mitglieder von Politbüro und ZK versteckt. Unter die Demonstranten hat sich auch eine nicht unerhebliche Masse von „gesellschaftlichen Kräften“ gemischt, die Eskalationen verhindern soll.
Doch die Stimmung, die in diesen Stunden Ost-Berlin beherrscht, ist bei aller Radikalität auch besonnen. Ein Hochgefühl gemeinschaftlicher Entschlossenheit macht überstürzte Reaktionen überflüssig, denn den Teilnehmern - aber auch den Millionen DDR-Bürgern, die das Ereignis wie gebannt im DDR-Fernsehen live verfolgen – wächst die Gewissheit, dass das Regime hinter diesem machtvollen Ausdruck des Freiheitswillens nicht mehr wird zurückkehren können.
Die Atmosphäre ist locker. Die Rufe werden bissiger, die Gesänge lauter. Zahlreiche Transparente dokumentieren den Willen des Volkes aber auch den humorvollen Einfallsreichtum, mit dem die Leute inzwischen ihre Forderungen unterstreichen. "Freiheit, Gleichheit, Ehrlichkeit" und "Glasnost und nicht Süßmost" ist zu lesen. Weitere Aufschriften lauten: "Krenz zu Tisch", "Kein Artenschutz für Wendehälse", "SED allein - das darf nicht sein", Rücktritt ist Fortschritt", "Eine Lüge tötet hundert Wahrheiten", "Wir wollen endlich Taten sehen, sonst sagen wir Auf Wiedersehen" und "Mein Vorschlag für den 1. Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei."
Vor fünf Jahren erinnerte sich Lothar Heinke im Tagesspiegel, wie er den Tag erlebte. Hier können Sie seinen Beitrag noch einmal lesen.
09:30 Uhr: Nicht nur in Berlin wird demonstriert
Während sich die Aufmerksamkeit der Medien und des ganzen Landes auf die Kundgebung in Berlin konzentriert, gehen die Menschen auch andernorts auf die Straße. In Magdeburg zum Beispiel demonstrieren am Vormittag 40.000 Menschen für gesellschaftliche Erneuerung.
09:00 Uhr: Biermann in der DDR noch nicht willkommen
In Berlin wird Wolf Biermann die Einreise nach Ost-Berlin verweigert. Der 1976 aus der DDR ausgebürgerte Liedermacher will auf Einladung des Neuen Forums an der Großkundgebung auf dem Alexanderplatz teilnehmen.
08:00 Uhr: Die Grenzen sind (in der CSSR) offen
Nachdem seit Mitternacht die neue Regelung gilt, dass DDR-Bürger unter Vorlage des Personalausweises von der CSSR in die BRD ausreisen dürfen, stellen sich die bundesdeutschen Grenzübergänge zur Tschechoslowakei auf einen neuen Ansturm von DDR-Flüchtlingen ein. Derweil verlassen die ersten Botschaftsflüchtlinge Prag und fahren mit Sonderzügen in die Bundesrepublik. Bis 17:00 Uhr haben alle das Land verlassen. Tausende Bürger reisen unterdessen in die CSSR. Das Botschaftspersonal der DDR gibt inzwischen direkt auf dem Hauptbahnhof von Prag seinen Landsleuten Hilfestellung zur weiteren Ausreise in die BRD.
3. November: DDR macht die Grenzen auf - über die Tschechoslowakei.
21:00 Uhr: Botschaftsflüchtlinge dürfen ausreisen
Auf seiner Sondersitzung genehmigt das SED-Politbüro auch die direkte Ausreise der etwa 6.000 Botschaftsflüchtlinge in Prag in die Bundesrepublik. Auf "Vorschlag" des tschechoslowakischen Parteichefs Miklos Jakès müssen die Flüchtlinge nicht über DDR-Territorium in die Bundesrepublik ausreisen. Am Abend wird dies den jubelnden Flüchtlingen mitgeteilt.
Mit der Entscheidung des Politbüros der SED am 3. November, den Flüchtlingen in Prag die unreglementierte Ausreise in die BRD zu genehmigen, wird das DDR-Grenzsystem obsolet. Ab sofort kann jeder DDR-Bürger über den Umweg über Prag problemlos in die Bundesrepublik ausreisen. Einer Umfrage zufolge stehen 90% der Bundesbürger den DDR-Übersiedlern mit Sympathie gegenüber.
20:00 Uhr: Egon Krenz bietet umfassende Reformen und hochkarätige Rücktritte an
Wenige Stunden vor der seit Wochen geplanten und von Künstlern und Theaterleuten vorbereiteten Großdemonstration in Berlin, wendet sich Staats- und Parteichef Egon Krenz über Funk und Fernsehen an die Bürger. Hunderttausende werden zu der nun auch offiziell genehmigten Kundgebung auf dem Alexanderplatz erwartet. Der Druck auf die Regierung dürfte nochmals spürbar zunehmen. Mit seiner Erklärung will Krenz den Reformern ein wenig Wind aus den Segeln nehmen und eine Eskalation hin zu einer unkontrollierbaren Situation vermeiden, bei der tausende aufgebrachte Bürger – zum Beispiel mit einem Marsch zum Brandenburger Tor - einen Durchbruch an der Berliner Mauer versuchen könnten.
Krenz kündigt umfassende Reformen und den Rücktritt führender Politiker an. So sollen ein Verfassungsgerichtshof eingerichtet und das politische System und die Verwaltung reformiert werden. Krenz kündigt die Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes und tiefgreifende Wirtschaftsreformen an. Die Kaderpolitik soll demokratisiert, Wahlämter zeitlich begrenzt werden. Auch in der Bildungspolitik verspricht Krenz umfangreiche Änderungen.
Führende SED-Politbüromitglieder würden demnächst ihre Posten frei machen. So sei mit dem Rücktritt der ZK-Sekretäre für Außenpolitik (Hermann Axen) und Ideologie (Kurt Hager) zu rechnen. Auch der Chef der Parteikontrollkommission, Erich Mückenberger, und Vizepremier Alfred Neumann haben ihren Rückzug angekündigt. Am Spektakulärsten ist aber sicher die in Aussicht gestellte Abdankung Erich Mielkes, der als Minister für Staatssicherheit sowohl der zweitmächtigste Mann im Staat als auch die meistgehasste Person der DDR sein dürfte.
Krenz sagt, er nehme die „Unzufriedenheit der Bürger sehr ernst.“ Dass Viele ungeduldig sind, sei verständlich und könne der Sache sogar dienlich sein. Es berge aber auch Gefahren. Entwicklungen, „die sich über Jahre zu einem Knäuel ernsthafter Widersprüche und Krisenerscheinungen angehäuft haben“, könnten eben nicht in wenigen Wochen oder Tagen korrigiert werden. „Unüberlegtes, überhastetes Vorgehen würde letztlich mehr Schaden als Nutzen bringen“ hängt Krenz aber seinem breiten Angebot noch als Warnung an.
18:00 Uhr: Großdemonstration in Dessau
Anfang November hat die Massenmobilisierung bisher ungeahnte Ausmaße erreicht. Zwischen der gewaltigen Montagsdemonstration in Leipzig am 30. Oktober und der Großkundgebung in Berlin am 4. November gehen in zahlreichen kleineren Städten und Gemeinden weit über 1,35 Millionen Menschen auf die Straße. Dabei ist auch eine zunehmende Feindseeligkeit gegen Vertreter des Staates zu verzeichnen. Die Stimmung ist durch „außerordentliche Gereiztheit“ bestimmt. Die Menschen treten den SED-Funktionären zum Teil „hasserfüllt“ gegenüber.
Währenddessen nimmt die Zahl der Menschen zu, die aus der SED austreten. In den Fokus gerät auch immer mehr das MfS. In Sachsen und anderswo bilden sich Initiativen zur Enttarnung und Bestrafung von IM. Auf nicht wenigen Demonstrationen hört man „Stasi-Schläger in den Knast.“ Viele Angehörige und Mitarbeiter von Volkspolizei und MfS gewinnen den Eindruck, dass sie von der SED-Führung um Krenz als Sündenböcke hingestellt werden sollen. Das Ministerium betont daher intern, man habe immer nach den Gesetzen der DDR gehandelt und „die Würde des Menschen entsprechend der Gesetze stets geachtet.“
Am Abend versammeln sich in Dessau über 5.000 Menschen in vier Kirchen zur Fürbittandacht. Anschließend ziehen mehrere Zehntausend Demonstranten mit Transparenten und Kerzen durch die Innenstadt. Schließlich treffen sich auf dem völlig überfüllten Rathausplatz etwa 70.000 Menschen. Es ist die bis dahin größte nichtstaatlich organisierte Kundgebung in der etwas über 100.000 Einwohner zählenden Großstadt. Oberbürgermeisterin Sylvia Retzke und Kreissekretär Dr. Ingo Kurz müssen sich der zum Teil heftigen Kritik der Bürger stellen.
Der unter anderem von dem Busfahrer Rainer Rothe vorgetragene Forderungskatalog umfasst Allgemeines wie die Aufgabe des Führungsanspruchs der SED oder die Absetzung des unbeliebten Wehrkundeunterrichts an den Schulen. Wie bei vielen Demonstrationen im ganzen Land werden aber auch lokale Missstände angeprangert. In Dessau stehen vor allem der Zustand der Alters- und Pflegeheime und der Krankenhäuser der Stadt und die Wahlmanipulationen im Frühjahr im Fokus. Der SED-Stadtschulrat erklärt, der verhasste Staatsbürgerkundeunterricht werde ab sofort ohne Zensuren durchgeführt und auf das bislang im Sportunterricht obligatorische Handgranatenwerfen werde in Zukunft verzichtet.
Der Schauspieler Wolfgang Schilling vertritt das Neue Forum. Wie viele Sprecher kritisiert auch der Psychologe Dr. Jürgen Neubert die SED-Repräsentanten heftig. Er fordert unter anderem die Umwandlung der SED-Bezirksparteischule und des FDGB-Schlosses Großkünau in Seniorenheime. Neubert wird von 1990 bis 1994 die Großstadt in den schwierigen ersten Nachwendejahren als Oberbürgermeister regieren.
16:00 Uhr: KSZE-Umweltkonferenz scheitert
Die erste KSZE-Umweltkonferenz in Sofia geht ohne die Verabschiedung des Schlussdokuments zu Ende. Sie scheitert an der verweigerten Zustimmung Rumäniens.
15:45 Uhr: Politbüro stellt sich auf Großkundgebung in Berlin ein
Das Politbüro beschäftigt sich auf einer Sondersitzung mit der für morgen (4.11.) angekündigten Großkundgebung in Berlin. Alle für die bewaffneten Organe zuständigen Politbüromitglieder und Minister sollen neben Krenz und Stoph die militärische und polizeiliche Einsatzleitung im Innenministerium übernehmen.
Die Führungsstelle der Berliner Parteiorganisation wird ins Präsidium der Volkspolizei verlegt. Alle übrigen Mitglieder des Politbüros sowie sämtlich Mitarbeiter des ZK der SED haben sich im ZK-Gebäude einzufinden. Für alle Ministerien wird Dienstbereitschaft angeordnet.
Den Befehl des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, "Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung in den Bezirken der DDR vom 3. November 1989 (NVR-Befehl Nr. 11/89)" betreffend, finden Sie hier.
15:00 Uhr: Neun von zehn Arbeitern sehen keinen Einfluss auf die Gesellschaft
Der VII. Philosophiekongress in Ost-Berlin endet für die meisten jungen Teilnehmer enttäuschend. Prof. Dr. Martin Buhr von der Akademie der Wissenschaften betont zwar, es sei der letzte Kongress im alten Stil gewesen, doch wird von den jungen Wissenschaftlern für Anfang Dezember ein alternativer Kongress einberufen.
Soziologen stellen die Ergebnisse einer aktuellen Befragung in einem Kombinat vor. Danach fühlen sich zwar nur 38,8 Prozent der Arbeiter an den Entscheidungen im direkten Umfeld ihrer Tätigkeit nicht beteiligt. Auf Betriebsebene sind es aber schon 82 Prozent. An den Entscheidungsprozessen in der Gesellschaft fühlen sich gar 90,1 Prozent nicht beteiligt. Die Ergebnisse der Umfrage durften selbstredend bislang nicht veröffentlicht werden.
14:30 Uhr: Mitterand lehnt deutsche Wiedervereinigung nicht grundsätzlich ab
Die 54. deutsch-französischen Konsultationen in Bonn enden mit einer Pressekonferenz, auf der sich Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterand positiv zur Wiedervereinigung äußert. Er habe keine Angst vor einem geeinten Deutschland, so lange sich ein Vereinigungsprozess im Rahmen der europäischen Einigung bewege und auf dem ausdrücklichen Wunsch des deutschen Volkes in Ost und West beruhe.
14:00 Uhr: Modrow greift an
Die SED-Bezirksleitung unter Hans Modrow veröffentlicht ein Positionspapier, das nicht nur in seinen Reformansätzen über die bisherige Parteilinie hinausgeht, sondern auch als klarer Angriff auf Egon Krenz und seine Regierung gewertet werden muss.
Unter der Überschrift „Was wir wollen und wofür wir uns mit ganzer Kraft einsetzen“ werden zwar die Werte des Sozialismus - wie „Sicherheit und Geborgenheit für Kinder und Alte, Kranke und Schwache“ – betont. Ansonsten aber wird dem Leistungsprinzip das Primat zugewiesen. Schlamperei und Leistungsunwilligkeit wird der Kampf angesagt, Sondervorrechte und Privilegien sollen abgeschafft werden. In diesem Sinne sei auch ein anderer Umgang mit Geld notwendig.
Der neue Sozialismus solle sich an den Bedürfnissen der Menschen, an wahrer Demokratie und dem Erhalt der Umwelt orientieren. „Es hat sich viel angehäuft, was unser Leben belastet und grundlegend verändert werden muss. Dazu braucht unser Land eine neue Führung, die die tiefgreifende Erneuerung des Sozialismus will und auch zielstrebig leiten kann.“
Wie fortgeschritten der Wandel in den DDR-Medien tatsächlich ist, kann man auch daran ablesen, dass das Dresdner Papier von allen zentralen Medien geflissentlich übergangen wird. Die „Wende,“ von der jetzt alle sprechen – sie hat noch einen weiten Weg vor sich.
13:00 Uhr: Oberbürgermeister von Leipzig tritt zurück
Lange Zeit hat er sich einem ernsthaften Dialog mit den Bürgern verweigert. Nach harscher Kritik zieht Leipzigs Oberbürgermeister Dr. Bernd Seidel die Konsequenzen und tritt von seinem Amt zurück. Seidel hatte die Amtsgeschäfte der Stadt seit 1986 geleitet. Sein Nachfolger wird für einige Monate Günter Hädrich.
Auch zwei Gewerkschaftsbosse nehmen ihren Hut. Herbert Bischoff, Vorsitzender der Gewerkschaft Kunst, muss sich von der Basis die „Verletzung innergewerkschaftlicher Demokratie“ und die „Missachtung gewerkschaftlicher Interessenvertretung“ vorwerfen lassen. Gegen Gerhard Nennstiel, dem Vorsitzenden der IG Metall, war am Wochenende massive Kritik erhoben worden, nachdem er unter Verdacht geraten ist, sich aus unlauteren Quellen ein luxuriöses Eigenheim errichtet zu haben.
12:00 Uhr: Prag drängt Ost-Berlin zu einer Lösung der Flüchtlingsfrage
Nur wenige Tage nach Wiederzulassung des pass- und visafreien Reiseverkehrs in die Tschechoslowakei, droht die bundesdeutsche Botschaft in Prag erneut aus allen Nähten zu platzen. Das tschechoslowakische Außenministerium teilt dem Botschafter der DDR in Prag, Helmut Ziebart, mit, dass die CSSR keine Flüchtlingslager für geflohene DDR-Bürger einrichten wird.
Die Regierung in Prag erwartet vielmehr, dass von Seiten der DDR Maßnahmen ergriffen werden, die den weiteren Zustrom von politischen Flüchtlingen beendet. Andernfalls müsse die DDR zu einer Abfertigungspraxis kommen, die es jeden Tag so vielen DDR-Bürgern erlaubt, aus der CSSR in die BRD auszureisen, wie täglich in die BRD-Botschaft neu hinzukommen. Bislang konnte die DDR-Botschaft lediglich 50 Ausreisgenehmigungen pro Tag erstellen.
Ziebart informiert den ZK-Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen, Wolfgang Herger, und Stasi-Chef Mielke auch über die Verwunderung der tschechoslowakischen Genossen, warum die DDR die Ausreisewelle über die bundesdeutsche Botschaft in Prag abwickle und nicht gleich über die Ständige Vertretung der BRD in Ost-Berlin.
Wie in vielen Dingen waren die DDR-Bürger auch bei ihren Fluchtversuchen sehr erfinderisch. Um diese Kreativität einzudämmen, verboten die Behörden auch eigentlich harmlose Freizeitbeschäftigungen. Lesen Sie hier, mit welchen Problemen das Drachenfliegen in der DDR belastet wurde.
11:00 Uhr: Demonstranten aus Dresden müssen ins Gefängnis
Drei Jugendliche werden in Dresden zu mehrjährigen Freiheitsstrafen im Zusammenhang mit den Demonstrationen vor dem Hauptbahnhof der Stadt Anfang Oktober verurteilt.
10:00 Uhr: Die meisten DDR-Bürger müssen weiter auf ein Telefon warten
Seit Jahren wartet die Mehrzahl der DDR-Bürger auf einen Telefonanschluss. Jedes Jahr gehen ungefähr 100.000 Eingaben zu diesem Ärgernis bei Postminister Rudolph Schulze ein. Heute gesteht er ein, dass es noch Jahre dauern wird, die rund eine Million Anträge realisieren zu können. Die Investitionskosten veranschlagt er auf etwa neun Milliarden Mark. Angesichts der wirtschaftlichen Misere, deren Umfang der Bevölkerung weiter verschwiegen wird, scheint dies ein hoffnungsloses Anliegen zu sein.
09:00 Uhr: Neun von zehn Jugendlichen glauben an die Erneuerung der DDR
Mehr als 80 Prozent der Jugendlichen in der DDR gehen laut einer Umfrage des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig davon aus, dass die eingeleitete Erneuerung der Gesellschaft gelingen wird. Lediglich 14 Prozent sehen das eher kritisch. Etwa 92 Prozent befürchten allerdings für die nächste Zeit große wirtschaftliche Probleme in der DDR. Genauso viele Befragte wollen sich aber auch mit aller Kraft für die Erneuerungen einsetzen.
08:00 Uhr: Neues Deutschland entschuldigt sich für falschen Bericht
Das SED-Zentralorgan Neues Deutschland muss sich bei seinen Lesern für eine offenkundige und peinliche Falschmeldung entschuldigen. Am 21. September 1989 wird über einen Koch der Schlafwagengesellschaft MITROPA berichtet, der angibt, in Budapest mit einer Menthol-Zigarette betäubt und über Österreich in die BRD verschleppt worden zu sein. Die Meldung wird republikweit auch von anderen Presseorganen übernommen. Mit ihr soll offensichtlich dem Eindruck entgegengewirkt werden, Bürger der DDR würden das Land aus Enttäuschung oder Verärgerung verlassen. Stattdessen würden sie von Schlepperbanden regelrecht entführt.
Die lahme Propagandalüge kann kaum einen DDR-Bürger überzeugen und dient als Beispiel der gezielten Fehlinformation durch die DDR-Medien. Nun haben Recherchen ergeben, dass die Darstellung frei erfunden wurde und so niemals stattgefunden hat.
2. November: Umweltkatastrophe DDR.
18:00 Uhr: Demonstranten fordern radikale Reformen
Auch an diesem Abend wird im ganzen Land demonstriert. In Erfurt fordern 30.000 Menschen radikale Reformen. In Guben gehen 15.000 Bürger auf die Straße. In Gera und Halle sind es noch mal jeweils 10.000.
17:00 Uhr: BRD-Botschaft in Prag ist schon wieder voll
Wie befürchtet, ist die bundesdeutsche Botschaft in Prag schon zwei Tage nach Wiederzulassung des pass- und visafreien Reiseverkehrs in die Tschechoslowakei wieder mit DDR-Bürgern überfüllt. Bis zum Abend haben sich etwa 1.500 Menschen auf dem Botschaftsgelände eingefunden. Trotz der hoffnungsvollen Zeichen der letzten Wochen glauben sie nicht an die Reformierbarkeit der DDR.
16:00 Uhr: Krenz trifft Mazowiecki
Egon Krenz macht seinen zweiten Staatsbesuch. In der polnischen Hauptstadt Warschau trifft er auf den kommunistischen Staatspräsidenten Wojciech Jaruzelski und Regierungschef Tadeusz Mazowiecki. Letzterer ist der erste nichtkommunistische Ministerpräsident des zumindest formal noch sozialistischen Landes. Krenz erklärt, von den vielfältigen und, wie er findet, spannenden Erfahrungen der Polen mit ihrer „Wende“ lernen zu wollen.
14:00 Uhr: Der Tag der Rücktritte
Mit dem heutigen Tag werden die schon zuvor bekannt gewordenen oder vermuteten Rücktritte von FDGB-Chef Harry Tisch und Volksbildungsministerin Margot Honecker bestätigt. Honecker habe sogar schon am 20. Oktober, also drei Tage nach dem Sturz ihres Mannes im Politbüro, um die Entbindung von ihrem Amt gebeten. Tischs Nachfolgerin Annelis Kimmel wird in einer Krisensitzung des FDGB offiziell ins Amt gehoben. Auf Honecker folgt für einige Tage die frühere Vorsitzende der Pionierorganisation „Ernst Thälmann,“ Helga Labs, ins Amt der Volksbildungsministerin.
Es sind nicht die einzigen Rücktritte des Tages. Auch Gerald Götting und Heinrich Homann, die Vorsitzenden der Blockparteien CDU und NDPD, scheiden aus ihren Ämtern. Beide sind noch stellvertretende Staatsratsvorsitzende. Als langjährige Vorsitzende ihrer Parteien werden sie für die kritiklose Bindung an die SED verantwortlich gemacht.
Korruptions- und Amtanmaßungsvorwürfe werden gegen die SED-Bezirksvorsitzenden aus Suhl und Gera, Hans Albrecht und Herbert Ziegenhahn, erhoben. Unter dem politischen Druck der Massenproteste nehmen auch sie ihren Hut.
Sechs Rücktritte von politischem Spitzenpersonal an einem Tag hat es in der DDR lange nicht gegeben. Es sind Vorboten gewaltiger politischer Beben, die die DDR in den nächsten Tagen in ihren Grundfesten erschüttern werden.
13:00 Uhr: DDR will mit Europäischer Gemeinschaft zusammenarbeiten
In Ost-Berlin trifft EG-Kommissar Martin Bangemann auf Staatschef Egon Krenz. Anschließend kommt er zu Gesprächen mit Wirtschaftspolitikern zusammen. Die DDR signalisiert die Bereitschaft zu einem Handelsabkommen mit der EG. Übereinstimmend will man, wie Bangemann der Presse erklärt, schnell von klassischen Handelsbeziehungen auf staatlicher Ebene zu direkter Zusammenarbeit zwischen Betrieben und der Gründung gemeinsamer Unternehmen kommen.
12:00 Uhr: Egon Krenz dämpft Hoffnung auf Wiedervereinigung
Nach seiner Rückkehr aus Moskau erklärt Egon Krenz, eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten stehe „nicht auf der Tagesordnung.“ Statt derart „unreale Forderungen“ zu stellen, sei es „viel, viel wichtiger“ die europäische Stabilität zu sichern. Der Staats- und Parteichef der DDR behauptet einmal mehr, die SED habe „die Wende eingeleitet“ und beanspruche daher weiter die führende Rolle im Land.
11:00 Uhr: DDR-Opposition für Zusammenarbeit mit reformierter SED bereit
In der West-Berliner Tageszeitung kann sich Ludwig Mehlhorn von Demokratie Jetzt! einen Reformprozess gegen die SED kaum vorstellen. Das verfassungsrechtliche Machtmonopol der SED müsse aufgegeben werden, ihr Führungsanspruch wird dadurch jedoch nicht schwinden. Der Partei müsse aber die Chance eingeräumt werden, sich in einem „längeren, evolutionären Prozess […] innerparteilich hin zu mehr Demokratie zu wandeln.“
Auch Ibrahim Böhme, Vorsitzender der ostdeutschen Sozialdemokraten, gibt in der taz zu bedenken, dass man an den mehr als zwei Millionen Parteimitgliedern der SED nicht vorbei regieren könne. Man müsse anerkennen, dass „in der mittleren Ebene die meisten sachkompetenten Leute zu finden sind, die zum überwiegenden Teil der SED angehören.“ Da keine der Oppositionsgruppen „über eine abgeschlossene, den Perspektiven dieses Landes entsprechende Programmatik“ verfüge, könne man sich einer Reform-SED nicht ohne weiteres verschließen.
Böhme erklärt, die SDP setze sich für Sozialstaatlichkeit in Verbindung mit sozialer Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Verantwortung für ökologische Prozesse sowie eine konsequente Friedenspolitik ein. Bis zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 gilt Böhme als aussichtsreicher Kandidat für das Amt des Regierungschefs aus. Kurz darauf wird seine jahrelange Tätigkeit als IM der Stasi aufgedeckt und beendet seine politische Karriere.
10:00 Uhr: DDR steht vor ökologischer Katastrophe
Die gesamte Presse der DDR beginnt mit der Veröffentlichung von Umweltdaten. Die gravierenden Auswirkungen der SED-Politik auf die Umwelt gehören zu den Hauptthemen aller öffentlichen Proteste und Veranstaltungen. Vor allem in den Industriegebieten haben die extremen Umweltbelastungen und die Verschleierung von Daten bei der Bevölkerung große Sorgen ausgelöst.
Die liberaldemokratische Zeitung Der Morgen berichtet, das 1987 Emissionen von fast fünf Millionen Tonnen Schwefeldioxyd und fast einer Million Tonnen Stickoxiden gemessen worden waren. Seit langem führen Flüsse wie Elbe, Mulde und Saale nur noch eine braune bis kupferfarbene, stinkende Brühe als Wasser, gelegentlich von dreckigem Schaum bekrönt. Schornsteine blasen ihren ungefilterten Qualm in die Atmosphäre, der bei ungünstigem Wind das Atmen in den Städten erschwert.
Doch Smog, wie er in den 1980er Jahren in westdeutschen Städten Alarm auslöst, hat es in der DDR bisher offiziell nicht gegeben.
09:00 Uhr: Polizei von Dresden will Demonstranten künftig unterstützen
In der Sächsischen Zeitung erklärt der Polizeichef des Bezirks Dresden, Generalleutnant Willy Nyffenegger, man habe aus den gewaltsamen Zusammenstößen der Vergangenheit gelernt. Die Volkspolizei werde sich künftig für politische Lösungen und einen fruchtbaren Dialog einsetzen. Für Kundgebungen und öffentliche Aussprachen auf dem Theaterplatz werde man eigene Tontechnik bereitstellen. Grundsätzlich sei man aus den vergangenen Wochen reifer hervorgegangen.
Ex-Spionagechef Markus Wolf spricht sich für eine öffentliche Kontrolle des Sicherheitsapparates durch gewählte Volksvertreter aus.
08:00 Uhr: LDPD fordert Rücktritt der Regierung
In ihrer Zeitung Der Morgen fordert die LDPD den Rücktritt der gesamten Regierung und des Präsidiums der Volkskammer. Als neuer Präsident der Volkskammer wird der LDPD-Vorsitzende Manfred Gerlach vorgeschlagen.
1. November: Sowjetunion kann DDR nicht retten.
19:00 Uhr: Massendemonstrationen im ganzen Land
Zehntausende gehen in Neubrandenburg, Frankfurt (Oder), Freital und Ilmenau auf die Straße. Die Forderungen gleichen denen der vergangenen Tage. Die permanent, Abend für Abend vorgetragenen Forderungen setzen das Regime nachhaltig unter Druck und machen es langsam mürbe.
17:00 Uhr: Krenz verteidigt Honecker
Auf der Pressekonferenz im Anschluss an sein Treffen mit Gorbatschow in Moskau sieht Egon Krenz nichts Kritikwürdiges an seiner engen Verbindung zu Erich Honecker. Sein Vorgänger habe viel Gutes und Bleibendes bewirkt, für das man sich nicht schämen müsse. Aber es gebe Zeiten, da man getrennte Wege gehen müsse.
Auf die Berliner Mauer angesprochen, betont Krenz, die Gründe für ihre Errichtung würden weiterhin bestehen. Die Massendemonstrationen schließlich, die der DDR-Regierung in den letzten Wochen so arg zugesetzt haben, dienen laut Krenz dazu, das Leben in der DDR schöner zu machen. Tatsächlich sind die Ergebnisse der Konsultationen in Moskau für Krenz enttäuschend. Der Vorschlag Gorbatschows, der Bevölkerung der DDR schonend beizubringen, sie müsse sich in Zukunft auf bescheidenere Verhältnisse einstellen, ist angesichts der Situation im Land absurd. Einen Ausweg aus der Misere kann Krenz nur noch in Verhandlungen seines geschickten Mitarbeiters Schalck-Golodkowski mit der Bonner Regierung, beziehungsweise in dessen größtem Trumpf - der Berliner Mauer - suchen.
Zur gleichen Stunde spricht in Berlin Dietmar Keller, Staatssekretär für Kultur von der schweren Schuld der SED, die vor dem Volk abzuarbeiten sei. Der Prozess der Wende erfordere noch weit tiefgreifendere strukturelle Veränderungen.
15:00 Uhr: Philosophen suchen radikalen Bruch mit bisherigen Strukturen
Während der Eröffnungsveranstaltung des VII. Philosophiekongresses in Ost-Berlin gibt Cheftheoretiker Prof. Dr. Erich Hahn zu, die Gesellschaftswissenschaften seien in der Vergangenheit nur dazu genutzt worden, Politik „weltanschaulich zu begründen, ja zu rechtfertigen.“
Eine Gruppe junger Wissenschaftler von der Humboldt Universität stellt ein eigenes Konzept zur Überwindung des administrativ-zentralistischen Sozialismus vor. Dazu müssten unterschiedliche Eigentumsformen und vielfältige Interessengruppen herausgebildet werden. Pluralismus und die Freisetzung individueller Kreativität seien die Voraussetzung wahrer Demokratie.
14:00 Uhr: Bericht über Umweltverschmutzung
Leipzig veröffentlicht erstmals die alarmierenden Werte der Luftmessdaten. Nachdem in Halle ein Kesselwagen mit giftigem Chlor entgleist ist, berichtet darüber auch das DDR-Fernsehen. Aus den ermittelten Daten geht hervor, dass die Luftverschmutzung die zulässigen Werte um ein Vielfaches übersteigt.
Die Sorge der Bevölkerung über die gravierenden Umweltsünden der DDR wird in den nächsten Tagen durch die Veröffentlichung zahlreicher ökologischer Skandale unterfüttert. Umweltschutz gehört bei den Massendemonstrationen inzwischen zu den Hauptforderungen.
13:00 Uhr: MfS überwacht Großdemo
Die Großkundgebung am 4. November in Berlin ruft auch die Stasi auf den Plan. Mehrere Bürgerrechtler – darunter Bärbel Bohley, Ulrike und Gerd Poppe und andere – sind einer vertiefenden Kontrolle und Überwachung ausgesetzt. Der MfS-Plan sieht den zielgerichteten Einsatz von IM sowie die Nutzung sämtlicher technischer und operativer Möglichkeiten vor.
Ziel ist es, herauszufinden, wer an der Demonstration teilnimmt, welche Transparente und Losungen mitgeführt werden sollen und welche technischen Mittel genutzt werden sollen. Planen die Bürgerrechtler die Anwendung von Gewalt – womöglich mit Waffen? Sind Angriffe auf staatliche Objekte oder gegen die Sicherheitsbehörden geplant?
Auch weitere Informationen über geplante Zusammenkünfte und Personen, die Flugblätter, Erklärungen, Transparente und Plakate vorbereitet haben, sind zu erfassen. Während der Demonstration sollen die eingeschleusten IM deeskalierend und beruhigend auf die Teilnehmer Einfluss nehmen.
12:00 Uhr: Sowjetunion kann DDR nicht retten
In einem dreistündigen Gespräch legt Egon Krenz Sowjetchef Michail Gorbatschow die prekäre Lage der DDR-Wirtschaft dar. Er fürchtet, die Wahrheit könne im ZK der SED „einen Schock mit schlimmen Folgen auslösen.“ Gorbatschow reagiert auf die Zahlen erstaunt. Er rät Krenz, auf der nächsten Plenarsitzung des ZK am 8. bis 10. November die Fehler Honeckers bekannt zu machen.
Unmissverständlich erklärt Gorbatschow, die Sowjetunion sei nicht in der Lage, der DDR wirtschaftlich unter die Arme zu greifen. Aufgrund eigener gravierender innenpolitischer Probleme könne man sich lediglich bemühen, die vereinbarten Rohstofflieferungen einzuhalten. Wichtig für die SED-Führung sei es jetzt, einen Weg zu finden, der Bevölkerung schonend mitzuteilen, dass man seit Jahren über die eigenen Verhältnisse lebt. Noch wäre dies Krenz nicht persönlich anzulasten.
Krenz solle mit den neuen Gruppierungen zusammenarbeiten, um zu verhindern, dass diese „auf die andere Seite der Barrikade geraten.“ Auf Krenz’ Wunsch hin, erklärt Gorbatschow, die UdSSR stehe „zu ihrer Vaterschaft“ über die DDR und werde eine Wiedervereinigung nicht zulassen. Kein ernsthafter Politiker in der Welt könne sich ein vereintes Deutschland vorstellen. Wie die britische Premierministerin Margaret Thatcher, der französische Staatspräsident François Mitterrand und Italiens Ministerpräsident Giulio Andreotti sehe Gorbatschow die deutsche Frage als äußerst explosiv. Die „Bewahrung der Realitäten der Nachkriegszeit, einschließlich der Existenz zweier deutscher Staaten“ sei ihnen wichtiger.
Dennoch sei eine Vertiefung der Beziehungen zur Bundesrepublik von größter Bedeutung. Diese Kontakte müsse man kontrollieren und steuern. Bundeskanzler Kohl sei zwar „keine intellektuelle Leuchte“ - sondern ein Kleinbürger, aber ein sehr geschickter Politiker. Auch die Sowjetunion werde versuchen, die BRD enger an sich binden.
Für die bevorstehende Großkundgebung am Samstag (4.11.) befürchtet Krenz den Versuch eines Mauerdurchbruchs. In diesem Falle müsste man den Ausnahmezustand verhängen. Sollte Krenz darauf insistieren, von Gorbatschow grünes Licht für eine eventuell notwendige gewaltsame Lösung zu erhalten, sieht er sich enttäuscht. Der Sowjetchef betont, Krenz könne das Volk nicht als Feind betrachten.
Ein Protokoll des Gesprächs von Krenz und Gorbatschow können Sie hier lesen.
11:00 Uhr: Korruption bei ostdeutschen Gewerkschaften
Die Veröffentlichung eines Korruptionsskandals schlägt hohe Wellen. Wie die Berliner Zeitung, das Organ der SED-Bezirksleitung, berichtet, hat sich der Vorsitzende der ostdeutschen IG Metall, Gerhard Nennstiel, aus Gewerkschaftsgeldern ein luxuriöses, räumlich und finanziell überdimensioniertes Eigenheim bauen lassen. Die FDGB-Tageszeitung "Tribüne" spricht von einer "Rufmordkampagne". Nachdem eine Menge ähnlicher Fälle bekannt wird, schlägt der FDGB radikale Reformen vor.
10:00 Uhr: Erneuter Ansturm auf bundesdeutsche Botschaft in Prag
Mit dem seit heute wieder von Visa- und Passpflicht befreiten Reiseverkehr in die Tschechoslowakei setzt ein erneuter Ansturm auf die Botschaft der BRD in Prag ein. Am Morgen sind bereits 300 DDR-Bürger auf das Botschaftsgelände geflüchtet. Am Wochenende werden weit über tausend weitere Flüchtlinge erwartet. Die DDR-Botschaft kann aber pro Tag nur etwa 50 Anträge auf Ausreisepapiere bearbeiten.
Der West-Berliner Senat bildet währenddessen eine Kommission für Verhandlungen mit den Ost-Behörden. Der bei Neuregelung des DDR-Reiserechts zu erwartende Ansturm von DDR-Bürgern erfordert die Errichtung weitere Grenzübergänge.
09:00 Uhr: Kritik aus der DDR-Wirtschaft
Heinz Warzecha ist Generaldirektor des Werkzeugmaschinenkombinats „7. Oktober“ und einer der bekanntesten Wirtschaftsmanager des Landes. In der Berliner Zeitung kritisiert er das Zustandekommen weitreichender Beschlüsse für die Wirtschaft, ohne das zuvor die tatsächlich Verantwortlichen konsultiert wurden. Derartige Praktiken würden sich im Politbüro auch nach der „Wende“ fortsetzen.
„Hunderte von Millionen Valutamark“ hätten nach seiner Meinung sehr viel wirkungsvoller eingesetzt werden können. Für den „vor wenigen Tagen beschlossenen Import technischer Konsumgüter und Lebensmittel“ seien die „dafür zuständigen Generaldirektoren überhaupt nicht gefragt worden.“
31. Oktober: DDR-Wirtschaftsexperten schlagen vor, die Mauer zu opfern.
20:00 Uhr: Wittenberger Thesenanschlag
Bei Demonstrationen in Weimar, Meißen und Meiningen fordern tausende Demonstranten rasche politische und wirtschaftliche Reformen. In Nordhausen findet erstmals eine große Demonstration statt, die von nun an zu einer festen Einrichtung am Dienstag werden soll. Landkreis und Stadtverwaltung müssen Gesprächsbereitschaft signalisieren. Zuvor hatte es Streit unter Mitgliedern des Neuen Forums gegeben, ob die Kundgebung überhaupt stattfinden soll.
In Lutherstadt Wittenberg findet eine Großdemonstration statt. In Erinnerung an den berühmtesten Bürger der Stadt werden die gebündelten Demokratieforderungen in Form von sieben Thesen an die Rathaustür geheftet.
19:00 Uhr: Egon Krenz hält am Machtmonopol der SED fest
Im Anschluss an die ernüchternde Politbürositzung vom Nachmittag begibt sich Egon Krenz auf seinen ersten Auslandsbesuch als Staatschef der DDR. In Moskau will er Sowjetchef Michail Gorbatschow treffen. Im sowjetischen Fernsehen erklärt er, die sozialistische Gesellschaft in der DDR könne sich nur entwickeln, "wenn die Partei an der Spitze steht." Die SED müsse im Sinne der Erneuerung in allen Bereichen Verantwortung übernehmen. Pluralismus existiere bereits in der DDR - "sozialistischer Pluralismus."
18:30 Uhr: Bildungsministerin Margot Honecker tritt möglicherweise auch zurück
Gerüchteweise hat auch Margot Honecker um Entbindung von ihren Aufgaben gebeten. Die Ehefrau des frühen Staats- und Parteichefs Honecker und Ministerin für Volksbildung, gilt nach Stasichef Erich Mielke als die meistgehasste Person in der DDR. Sie war maßgeblich an der Entscheidung beteiligt, 1988 vier Schüler von der Carl von Ossietzky Oberschule in Ost-Berlin zu werfen. Am Vormittag hat das Ministerium die Wiederaufnahme der Schüler bekannt gegeben. Entscheidender für Honeckers Rücktrittsersuchen dürfte aber der massive Macht- und Vertrauensverlust sein, den sie und ihr Mann in den vergangenen beiden Wochen erleben mussten.
18:00 Uhr: FDGB-Chef Harry Tisch tritt zurück
Nach anhaltender und zum Teil heftiger Kritik von Seiten einzelner Bezirksvorstände und von Einzelgewerkschaften, zieht sich Harry Tisch vom Vorsitz des DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB zurück. Besonders der Dresdner FDGB-Vorstand hat Tisch unter Druck gesetzt. Zahlreiche Austritte würden die Existenz der gesamten Organisation gefährden. Harry Tisch hatte den FDGB seit 1975 geleitet und sich Neuerungstendenzen konsequent widersetzt. Vielen Arbeitnehmern gilt er als Repräsentant der Ära Honecker. Tischs Nachfolgerin wird die Maschinenbauingenieurin und Berliner FDGB Bezirkschefin Annelis Kimmel.
17:00 Uhr: Securitate geht gegen rumänischen Bürgerrechtler vor
Der rumänische Schriftsteller und Dissident Dan Petrescu wird in der Universitätsstadt Iași vom rumänischen Geheimdienst, der Securitate, festgenommen, weil er öffentlich gegen die "Wiederwahl" Ceaușescus protestiert hat. Petrescu gehört zu den wenigen Intellektuellen Rumäniens, die sich seit Jahren öffentlich kritisch gegen das Regime engagieren.
Im Unterschied zu den anderen Ostblockstaaten bildet sich in Rumänien in den 1980er Jahren keine breite Dissidentenbewegung. Viele durchaus kritisch denkende Intellektuelle hegen wenig Hoffnung auf Veränderungen in der stalinistischen Ceaușescu-Diktatur. Die mächtige Securitate verfügt nur über etwa 40.000 Mitarbeiter. Das sind weniger als die Hälfte der Angestellten des MfS, obwohl Rumänien weit mehr Einwohner hat als die DDR. Doch der Geheimdienst arbeitet sehr effizient und kann mögliche Proteste schon im Vorfeld vereiteln.
Auch die Erinnerung an die harten Repressionen, mit denen das Regime in den 1950er Jahren gegen ganze Bevölkerungsgruppen vorgegangen ist, sowie die Kenntnis der unmenschlichen Zustände in den rumänischen Gefängnissen mögen noch einschüchternd wirken. Der plötzliche Zusammenbruch des Regimes zum Jahresende 1989 ist deshalb auch weniger die Folge einer breiten Protestbewegung des Volkes als vielmehr das Ergebnis einer spontanen Revolte verschiedener Bevölkerungsschichten, die sich auf eine für Ceaușescu verhängnisvolle Weise mit einem fehlgeschlagenen Staatsstreich verbindet.
16:00 Uhr: Sputnik geht in einem Monat wieder in den Handel
Im DDR-Jugendfernsehen "Elf99" kündigt Postminister Rudolph Schulze an, dass die Zeitschrift Sputnik am 1. Dezember wieder in den Kiosken verkauft wird. Die kleinformatige, auf Hochglanzpapier gedruckte Zeitschrift bietet eine Zusammenstellung von Artikeln der sowjetischen Presse zu den verschiedensten Themen.
Da sich der Sputnik auch als Sprachrohr der Sowjetunion im westlichen Ausland versteht - und auch dort vertrieben wird - zeichnet er sich durch einen Verzicht auf allzu sozialistische Rhetorik und in den späten 1980er Jahren durch zunehmend systemkritische Berichterstattung aus.
Im Herbst 1988 berichtet der Sputnik über den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und zieht mit der ketzerischen Frage "Hätte es ohne Stalin Hitler gegeben?" Parallelen zwischen beiden Diktatoren. Als in die Betrachtung auch noch Kritik an Leonid Breschnew einfließt, zieht die DDR-Führung die Reißleine. Im November 1988 wird das Blatt auf persönliche Initiative Erich Honeckers aus dem Handel genommen.
15:00 Uhr: Schürer-Kommission schlägt vor, die Mauer zu opfern
Im Politbüro der SED stellt die Schürer-Kommission ihre streng geheime „Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen“ vor. Die dramatische Darstellung der wirtschaftlichen Krise vom 24. Oktober wird nochmals vertieft. Die hohe Verschuldung im westlichen Ausland stellt die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage. Das Land steht kurz vorm Staatsbankrott.
Um ein Moratorium (eine Umschuldung) durch den Internationalen Währungsfond mit all seinen unangenehmen Begleiterscheinungen – Untersuchungen der Kostenentwicklung und Geldstabilität, Forderungen nach Reprivatisierung von Unternehmen und „Einschränkungen von Subventionen, mit dem Ziel sie gänzlich abzuschaffen“ – noch zu verhindern, müssten die Exporte die Importe bei weitem übersteigen. Ein solcher Exportüberschuss sei jedoch unter den gegebenen Bedingungen undenkbar.
Ein sofortiger Verschuldungsstopp würde im Jahr 1990 eine Senkung des Lebensstandards in der DDR um 25 bis 30 Prozent erforderlich machen. Unter dem Eindruck der vergangenen Wochen wäre die DDR dann unregierbar. Als Ausweg schlagen die Autoren eine forcierte Kooperation mit dem kapitalistischen Ausland vor. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Bundesrepublik zu.
Um Bonn für die Erhöhung der bisherigen Kreditlinie um zwei bis drei Milliarden Valutamark hinaus zu erwärmen, solle die DDR-Regierung erklären, dass „durch diese und weitergehende Maßnahmen der ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit DDR-BRD noch in diesem Jahrhundert […] die heute existierende Form der Grenze zwischen beiden deutschen Staaten überflüssig“ werden könnte.
Auch wenn eindeutig die Wiedervereinigung oder Schaffung einer Konföderation ausgeschlossen werden, schlagen Schürer und Co. den Genossen nicht weniger als den Tausch der Mauer gegen wirtschaftliches Überleben vor. Die Mauer scheint, die letzte kreditwürdige Immobilie der DDR zu sein.
Das Politbüro kommt darin überein, dem ZK bei seiner nächsten Sitzung vom 8. bis 10. November die Schlussfolgerungen der Schürer-Kommission nur wohldosiert und in „ausgewogener Form“ vorzustellen. Schürers Vorschlag, die Existenz der Mauer zur Disposition zu stellen, wird aus Rücksicht auf konservative ZK-Mitglieder von Krenz gestrichen.
Lesen Sie hier das komplette Protokoll der ernüchternden ökonomischen Analyse der Schürer-Kommission.
14:00 Uhr: Autoren fordern Demokratisierung der DDR
Mitglieder des Präsidiums des P.E.N.-Zentrums der DDR fordern Reformen und eine Pluralisierung sozialistischer Meinungs- und Organisationsformen.
13:00 Uhr: Politbüro berät neues Reiserecht
Entwürfe für ein neues DDR-Reisegesetz werden dem Politbüro vorgelegt. Die Vorlage von Willy Stoph fällt um einiges restriktiver als der Entwurf von Innenminister Dickel aus. Der Gesamtreisezeitraum wird auf 30 Tage festgelegt. Das orientiert sich „an der Länge eines durchschnittlichen Urlaubs“ und entspräche den „volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten“, wie der Planung der Arbeitskräfte und der Sicherung der Produktion. Wochenendausflüge scheinen jenseits der Fantasie der SED-Bürokraten zu liegen.
Mit einem umfangreichen Katalog an Gründen kann die Ausreise weiterhin versagt werden, zum Beispiel wenn dies zum Schutz der nationalen Sicherheit notwendig wäre oder der Antragsteller Geheimnisträger ist. Noch nebulöser fällt die Ermächtigung des Ministerrates aus, „bei Vorliegen außergewöhnlicher gesellschaftlicher Erfordernisse zeitweilig“ die Erteilung von Reisegenehmigungen generell einschränken zu können.
Dramatisch stellen sich auch die Finanzierungsvarianten dar. Einmal pro Jahr kann die DDR ihren Bürgern anbieten 15 DM gegen 15 Mark der DDR einzutauschen. Schon diese Variante, die DDR-Reisende als Bittsteller in den Westen fahren lässt, reißt trotz zu erwartender Ausgleichszahlungen der Bundesbahn in den Haushalt der DDR ein zusätzliches Loch von rund 400 Millionen Valutamark. Jede großzügigere Variante der Reisefinanzierung würde den Haushalt mit Milliarden Valutamark belasten, die der Staat schlicht nicht zur Verfügung hat.
12:00 Uhr: Ostdeutsche Technik ist museumsreif
In München werden zwei Trabis von Übersiedlern ins Technik-Museum aufgenommen. Währenddessen nutzen DDR-Bürger ihr Besucher-Visum, um mit dem Zug München-Dresden zurückzukehren.
11:00 Uhr: Relegierte Schüler dürfen wieder die Carl von Ossietzky Oberschule besuchen
Im September 1988 verkünden Schüler der Carl von Ossietzky - EOS auf einer Wandzeitung ihre Solidarität mit polnischen Oppositionellen und fordern, die Gewerkschaft Solidarność an der Regierung in Polen zu beteiligen. In einem weiteren Artikel wird die Notwendigkeit von Militärparaden anlässlich der Jahrestage der DDR bezweifelt. Auf einer Unterschriftenliste, die den Verzicht auf solche Militärparaden fordert, tragen sich 38 der 160 Gymnasiasten ein.
Anschließend beginnen an der Schule Diffamierungen, Verhöre und Tribunale. 30 Schüler ziehen ihre Unterschriften zurück. Von den verbliebenen acht Schülern werden vier der Schule verwiesen und zwei an andere Schulen strafversetzt. Zwei erhalten Verweise. Die Vorgänge lösen landesweit Bestürzung aus. Prof. Jens Reich, Gründungsmitglied des Neuen Forums, nennt Kai Feller, Katja Ihle, Benjamin Lindner und Philipp Lengsfeld später „Pioniere der revolutionären Bewegung“.
Lengsfeld ist der Sohn der im Frühjahr 1988 in den Westen abgeschobenen Bürgerrechtlerin Vera Wollenberger (heute wieder Vera Lengsfeld). Ebenfalls in die Vorgänge involviert ist der Sohn eines anderen Prominenten. Carsten Krenz, Sohn des damaligen stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden und inzwischen zum Staats- und Parteichef aufgerückten Egon Krenz, ist Mitschüler der vier der Schule Verwiesenen und vermutlich an den Entscheidungen beteiligt.
Wie das Volksbildungsministerium heute mitteilt, dürfen die vier der Schule verwiesenen Schüler ihr Abitur wieder aufnehmen.
Lesen Sie hier noch einmal zu den Hintergründen der Affäre.
10:00 Uhr: DDR-Innenministerium prüft Antrag auf Zulassung des Neuen Forums
Das Politbüro der SED einigt sich auf „Maßnahmen zur Verhinderung der weiteren Formierung und zur Zurückdrängung antisozialistischer Sammlungsbewegungen.“ Gleichzeitig gibt das DDR-Innenministerium bekannt, den Antrag des Neuen Forums auf Zulassung zu prüfen. Die primäre Handlungsdevise des Regimes bleibt der Versuch, Zeit zu gewinnen.
Noch am 22. September wurde eine Zulassung unter der Begründung abgelehnt, beim Neuen Forum würde es sich um eine "staatsfeindliche Plattform" handeln, die den Bürger über ihre wahre Absichten täuschen wolle. Später wurde die gesellschaftliche Notwendigkeit der Bürgerinitiative in Frage gestellt.
Nachdem auf Unterschriftenlisten mehr als 100.000 Befürworter ihre Unterstützung bekundeten haben, nachdem die Zulassung des Neuen Forums täglich auf fast allen Demonstrationen mit Nachdruck verlangt wird und nachdem der Rechtsanwalt Gregor Gysi konsequent rechtliche Schritte eingeleitet hat, knickt das Innenministerium schließlich ein.
Das Ministerium gibt zudem die Arbeit an einem neuen Mediengesetz bekannt. Ungehinderte Berichterstattung und freier Zugang zu allen Informationen sollen in Zukunft die Arbeit von Journalisten und Fernsehschaffenden erleichtern.
09:00 Uhr: Prominenter Genosse übt Kritik an der SED
Der bekannte Dramatiker Volker Braun ist seit 1960 Mitglied der SED. Seit dem Sturz des Prager Frühling 1968 durchzieht sein Werk eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Sozialismus. Seit längerem von der Stasi überwacht, gehört Braun 1976 zu den Erstunterzeichnern der Protestresolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. Dank taktischen Geschicks bleibt Braun aber von Berufsverboten weitgehend verschont. Trotz seiner bekannten kritischen Haltung - 1982 verlässt er den Schriftstellerverband der DDR - wird er immer wieder mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet, zuletzt 1988 mit dem Nationalpreis der DDR.
In einem heute in der Zeitschrift Wochenpost veröffentlichten Interview wirft Braun seiner Partei vor, ein "Machtorgan" geworden zu sein. Die SED habe den Staatsapparat umklammert, demoralisiert und ausgehöhlt. Wolle sie wieder Autorität gewinnen, müsse die Partei "ungehemmt von Ressortdenken und Angst um den Posten" Demokratie in sich selbst verwirklichen und die Gesellschaft in die Freiheit entlassen.
08:00 Uhr: Manfred Gerlach verteidigt Führungsrolle der SED
In der Jungen Welt bekräftigt die FDJ die Führungsrolle der SED. Ihre Beschlüsse sollen auch zukünftig Ausgangspunkt eigener Beschlüsse sein.
Ebenfalls in der Jungen Welt bekräftigt der LDPD-Vorsitzende und stellvertretende Staatsratsvorsitzende Manfred Gerlach, die Bündnispolitik mit der SED müsse beibehalten werden. Die Arbeiterklasse könne sonst „ihre weltgeschichtliche Mission – die Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung zu befreien – nicht erfüllen.“ Kräfte, die „nicht auf dem Boden der Verfassung“ stünden, die also die führende Rolle der SED in Frage stellten, müssten von der politischen Willensbildung weiterhin ausgeschlossen bleiben.
Ob Gerlach damit die aufkommende Konkurrenz durch das Neue Forum und andere Gruppierungen ausbremsen will, bleibt fraglich. Seiner Avantgarderolle unter den Politikern der Blockparteien tut Gerlach mit dem Interview jedenfalls keinen Gefallen. In den Kreisvorständen der LDPD werden schon weitergehende Forderungen gestellt. Der Kreisverband der LDPD Plauen tritt als erster aus der Nationalen Front aus.
30. Oktober: "Der schwarze Kanal" sendet nicht mehr.
21:45 Uhr: "Der schwarze Kanal" wird trockengelegt
Am Abend wird im DDR-Fernsehen die letzte Ausgabe des Propagandamagazins „Der Schwarze Kanal“ ausgestrahlt. In der Sendung hatte Karl-Eduard von Schnitzler („Sudel-Ede“) fast 30 Jahre (oder 1.519 Ausgaben) lang demagogisch, zynisch und süffisant die politischen Vorgänge in der BRD und die Berichterstattung der West-Medien kommentiert. Zuletzt hatte er sich auch den Vorgängen in der DDR widmen müssen und die Demonstranten als „Schreihälse ohne Kopf“ diffamiert. Die neue Offenheit in den DDR-Medien bekommt keiner deutlicher zu spüren als Schnitzler. Als Prediger des Klassenkampfes und Fossil des kalten Krieges wird er vom zornigen Publikum angegriffen. Weite Kreise der Bevölkerung empfinden seine Kommentare als unglaubwürdig, grotesk und abstoßend.
Sein letzter Auftritt dauert etwa 100 Sekunden lang. Mit einer kurzen Stellungnahme gibt Schnitzler die Einstellung seines Formats bekannt: "Es bedarf also der Kunst, das Richtige richtig und schnell und glaubhaft zu machen. In diesem Sinne werde ich meine Arbeit als Kommunist und Journalist für die einzige Alternative zum unmenschlichen Kapitalismus fortsetzen: Als Waffe im Klassenkampf, zur Förderung und Verteidigung meines sozialistischen Vaterlandes. In diesem Sinne, meine Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe Genossinnen und Genossen - auf Wiedersehen!"
Ein von Schnitzler als "intoleranter Zuschauer aus Nordhausen" bezeichneter Anrufer hat dem DDR-Fernsehen kurz zuvor empfohlen, Schnitzlers Sendung durch eine freie Diskussionsrunde zu ersetzen. Das Format könnte man vielleicht "Der offene Kanal" nennen.
21:30 Uhr: AK Zwo berichtet von den Demonstrationen
Die neue Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens bringt kompakte Berichte von den Demonstrationen und Bürgerrechtsversammlungen. Die wichtigsten Ereignisse des Tages werden zusammengefasst sowie Interviews und Direktschaltungen zu Korrespondenten präsentiert. Die Redaktion scheut sich nicht, DDR-kritische Themen und Meinungen wiederzugeben.
20:00 Uhr: "AHA" - Westreisen möglich aber teuer
In einer Diskussionsrunde in der Jugendsendung "AHA" im DDR-Fernsehen äußert sich Alexander Schalck-Golodkowski zu der Frage, ob Westreisen von DDR-Bürgern finanzierbar sind. Schalck-Golodkowski meint, man dürfe den Bürgern nicht Versprechungen machen, die nicht eingehalten werden können. Devisen, mit denen die angekündigten Reisemöglichkeiten zu finanzieren seien, benötige man auch für wichtige Importe. Man könnte sie eben nur einmal ausgegeben.
Vorsichtig und ohne Zahlen zu nennen, räumt der Wirtschaftsexperte des ZK das Außenhandelsdefizit der DDR ein. Man müsse darüber nachdenken, die aus dem Ruder gelaufene Subventionspolitik zu ändern. Wenn man "alles" subventioniere, stimuliere dies "keinen zu Höchstleistungen." Nur ein "Leistungszuwachs" könne den nötigen Exportüberschuss ermöglichen, um das Außenhandeldefizit auszugleichen und Devisen zu erwirtschaften, mit denen die Westreisen finanziert werden könnten.
Auf unverhältnismäßige Vergünstigungen einiger Führungskader angesprochen, beginnt Schalck-Golodkowski vom "Verantwortungsbewusstsein (...) der Repräsentanten" zu stammeln. Jeder bezahle seine Miete und erfülle seine Verpflichtungen gegenüber dem Staat. "Dass er Bedingungen hat, die zusammenhängen auch mit dem Standort, wo er wohnt, dass dort eine Kaufhalle ist, halte ich für normal." Über die Bedingungen , die mit dem Standort zusammenhängen, an dem die SED-Führungskader wohnen - die Siedlung Wandlitz nahe Berlin - und die benannte "Kaufhalle" werden sich die DDR-Bürger bald vor Ort und im DDR-Fernsehen ein Bild machen können.
19:30 Uhr: Tisch bleibt vorerst FDGB-Vorsitzender
Gegen den Wusch Harry Tischs wird die Entscheidung über den Vorsitz des FDGB nach sechsstündiger kontroverser Diskussion auf den 17. November vertagt. Der Vorstand des Gewerkschaftsbundes beschließt, die Interessen seiner mehr als neun Millionen Mitglieder künftig konsequenter zu vertreten.
18:00 Uhr: Hunderttausende Demonstranten treten in Leipzig herausfordernder auf
Nach den traditionellen Friedensgebeten, an denen sich heute sieben Kirchen beteiligen, ziehen wieder etwa 300.000 Menschen durch die Innenstadt von Leipzig. Verglichen mit der nervösen Anspannung der Teilnehmer an den Montagsdemos vom 9. und 16. Oktober konstatieren Beobachter heute eine beinahe schon gelöste Stimmung. Soviel hat sich in den vergangenen Tagen und Wochen ereignet, dass eine brutale Niederschlagung der Reformbewegung nur schwer vorstellbar ist.
Dennoch sind die Demonstranten sicher, dass nur ihr weiteres Engagement dem Land zu einem dauerhaften Wandel verhelfen wird. Die machtvolle Kundgebung fordert "Reformer an die Macht." Das Machtmonopol der SED soll aufgegeben werden. Oberbürgermeister Dr. Bernd Seidel stellt sich auf dem Karl-Marx-Platz (heute Augustplatz) den Diskussionen und verlangt von der Staats- und Parteispitze unverzüglich notwendige Entscheidungen zur Umgestaltung der DDR.
Erstmals tauchen Plakate mit der Losung "Deutschland einig Vaterland" auf. Insgesamt verhalten sich die Demonstranten "herausfordernder, frecher und provozierender" (Volkspolizei). Sie erheben "schärfere Forderungen" als zuvor. Die Aktuelle Kamera berichtet live aus Leipzig. Die SED-Bezirksleitung kommentiert später: "Aus heutiger Sicht ist eine Zuspitzung bei weiteren Demonstrationen anzunehmen."
In Halle verlangen etwa 50.000 Bürger konsequenten Umweltschutz im höchstbelasteten Industriebezirk der Republik. Auf Transparenten steht die Aufforderung: "Lasst Taten folgen, wir sind dabei." In Schwerin demonstrieren 40.000 Menschen gegen Privilegien und für die Gleichberechtigung aller Parteien. 20.000 Bürger gehen in Karl-Marx-Stadt auf die Straße. Ein Schweigemarsch von 5.000 Menschen zieht durch das thüringische Pößneck.
In Cottbus erklärt sich SED-Bezirkschef Werner Walde vor 20.000 Demonstranten zum Dialog bereit. In Ost-Berlin ist auch die auf den Chefkommentator des DDR-Fernsehens gemünzte Forderung "Schnitzler in die Muppet Show" zu hören. In Dresden fordern Tausende "Schnitzler weg" und in Dessau wird ein "Berufsverbot für Schnitzler" verlangt.
17:00 Uhr: Sowjetunion gibt "Sinatra-Doktrin" aus
Gennadi Gerassimow, Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, erklärt im US-Fernsehen die »Sinatra-Doktrin« zur neuen sowjetischen Maxime: »I did it my way« gelte nun für die Politik eines jeden Landes. Ebenfalls im US-Fernsehen erklärt der Sprecher des ZK der KPdSU, Schischlin, auf die Frage, ob die Berliner Mauer fallen könnte: "Alles hängt von den Deutschen ab" und: "Ich hoffe, dass alles geändert wird." Auch ein Austritt der DDR aus dem Warschauer Pakt sei denkbar. Allerdings müsste das sowjetische Interesse, die Lage in Europa nicht zu destabilisieren, respektiert werden.
16:00 Uhr: Dialog in Dresden wird fortgesetzt
Die Gespräche zwischen der "Gruppe der 20" und Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer werden in Dresden fortgesetzt. Die Gruppe wird als eine neue Form der Bürgerrechtsvertretung akzeptiert. Berghofer spricht sich für eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft ohne Wenn und Aber aus. Zu den bereits vereinbarten Arbeitsgruppen, die eine Beteiligung der Bürger an den Entscheidungen ermöglichen sollen, werden zwei weitere gebildet. Sie sollen sich mit der Schaffung eines zivilen Wehrersatzdienstes und der Einreise und Wiedereingliederung ehemaliger DDR-Bürger befassen.
14:30 Uhr: SED-Theoretiker würden Neues Forum zulassen
Gesellschaftswissenschaftler der SED schlagen die Zulassung des Neuen Forums und anderer Gruppen vor, „damit sie sich gegenseitig schwächen, ihre Kräfte spalten.“ Um ihren Status niedrig zu halten, sei es notwenig, sie nicht als Partei zu genehmigen und ihre Strukturen zu „unterwandern.“
14:00 Uhr: Stasi will Zulassung des Neuen Forums verhindern
Laut MfS-Bericht werden Partei- und Staatsfunktionäre kritisiert, die den Eindruck zu erwecken suchten, sie hätten sich schon immer für Reformen eingesetzt. Sie würden „ihren Mantel nach dem Wind hängen“, um nicht auf Privilegien verzichten zu müssen. Noch immer sind die Dienststellen angewiesen „Rädelsführer, Inspiratoren und Organisatoren“ aufzulisten und ihre Überführung in Isolierungslager vorzubereiten.
Dennoch wird auch im MfS der Umgang mit dem Neuen Forum diskutiert. Eine Legalisierung der Opposition wird abgelehnt. Man setzt auf Zeitgewinn und maximales Verschleppen durch „langwierige juristische Verhandlungen.“ Sollte das Neue Forum doch noch zugelassen werden, könnte man seine basisdemokratischen Strukturen ausnutzen und es durch die zusätzliche Legalisierung „nichtintegrierbarer Gruppen“ von innen zersetzen.
13:30 Uhr: Demokratischer Aufbruch gibt Grundsatzerklärung heraus
Mit einer Presseerklärung werden die Beschlüsse vom Vortag der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Der nun auch formal gegründete Demokratische Aufbruch beschließt, spätestens zum 1. Mai 1990 endgültig eine Partei zu gründen. In einer Grundsatzerklärung gibt die Initiative ihre Ziele bekannt. Gefordert werden die Trennung von Staat und Parteien und die gesellschaftliche Kontrolle des Staates, wirtschaftliche Effektivität und soziale Gerechtigkeit sowie der ökologische Umbau der Industrie.
Die Stasi ist über Gründung und Ziele der Organisation bereits bestens informiert. Ihr eingeschleuster IM hat seinen Führungsoffizier bis 2 Uhr morgens detailliert in Kenntnis gesetzt. Der wertvolle Mitarbeiter namens Wolfgang Schnur hat sich von den Bürgerrechtlern auch gleich zu ihrem Vorsitzenden wählen lassen.
13:00 Uhr: FDGB-Vorsitzender soll zurücktreten
In der Bundesvorstandssitzung des FDGB finden kritische Diskussionen statt. Junge Gewerkschaftler haben im DDR-Fernsehen den Rücktritt des Vorsitzenden Harry Tisch gefordert. Der 62jährige Tisch, der den Gewerkschaftsbund der DDR seit 1975 leitet, stellt die Vertrauensfrage. Die bisherige Arbeit des FDGB müsse kritisch analysiert werden, Vorschlägen gegenüber sei man offen. Auf die heftige Kritik an den Privilegien der Führungsschicht reagiert der FDGB. Zwei bislang hohen Funktionären und offiziellen ausländischen Gästen vorbehaltene Gästehäuser sollen in Zukunft auch normalen Arbeiternehmern als Urlaubsquartier zur Verfügung gestellt werden.
Wie die Bürger der DDR ihren Urlaub erlebten, können Sie hier nachlesen.
12:00 Uhr: SED-Führung entwaffnet Kreissekretäre
In Bautzen erschießt sich der SED-Kreissekretär Helmut Mieth mit seiner Dienstwaffe, nachdem ihn die Vorwürfe aufgebrachter Bürger zwei Tage zuvor in schwere Depressionen gestürzt haben. Auch an anderen Orten kommt es zu tragischen Selbstmorden von SED-Sekretären. Die Parteiführung ordnet daraufhin die Entwaffnung der Kreisfunktionäre und der Sektorenleiter im ZK der SED an.
11:30 Uhr: Rolf Schneider wundert sich über die Bürger der DDR
Der in die BRD übergesiedelte Schriftsteller Rolf Schneider gewinnt den Eindruck, in der DDR würden seit Oktober plötzlich „fast nur noch Opfer des Stalinismus oder langjährige Befürworter von politischen Reformen“ leben.
Schneider gehört 1976 zu den Erstunterzeichnern der Protestresolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. In der Folge werden seine Publikationen in der DDR erheblich eingeschränkt und Schneider sieht sich gezwungen, seinen Lebensunterhalt vornehmlich in Westdeutschland zu verdienen. Im vergangenen Jahr veröffentlichte Schneider seine Autobiographie "Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland", die wir Ihnen hier noch einmal vorstellen.
11:00 Uhr: Prager Demonstranten sollen angeklagt werden
Bei der Kundgebung am Samstag (28.10.) in Prag wurden 355 Personen - davon 17 Ausländer - verhaftet. Gegen 149 von ihnen soll nun Anklage wegen "Störung der öffentlichen Ordnung" erhoben werden. Die Parteizeitung Rude Pravo berichtet von "aggressiven" Demonstranten, die von "ausländischen Provokateuren" angestachelt worden seien. DDR-Bürgern mag diese "Wahrheit" bekannt vorkommen.
Die Jugendzeitung der Kommunistischen Partei, Mlada Fronta, weicht allerdings von der offiziellen Linie ab. Nach ihrer Darstellung hätten die friedlichen Demonstranten ihre Arme mit den Rufen "Wir haben bloße Hände" und "Wir wollen keine Gewalt" über die Köpfe gehalten. Daraufhin seien sie von der Polizei umringt und angegriffen worden.
10:00 Uhr: SED bekommt die Situation im Land nicht unter Kontrolle
In der SED-Führung macht sich Ende Oktober die Erkenntnis breit, den Wünschen und Vorstellungen der Bevölkerung ohne Konzept gegenüberzustehen. Die Massenmobilisierung zum Dialog, mit der man die Menschen von der Straße bekommen will, ist kaum geeignet die diktatorische Alleinherrschaft zu retten.
Der Leipziger Ratsvorsitzende stellt fest, die „sogenannten Dialoge“ hätten zu „keinerlei Beruhigung der Situation“ geführt. Vielmehr würde den beteiligten Funktionären „eine Welle von Hass und Zorn“ entgegenschlagen. Ginge man auf gestellte Forderungen ein, würden „sofort neue gestellt, die am Ende politischen Charakter haben.“
Auch die Außendarstellung der Partei, den Dialog initiiert zu haben, wird von der Bevölkerung nicht nachvollzogen. Vielmehr sei sie durch „Druck von unten“, durch Massenflucht und Demonstrationen gezwungen wurden, ihren totalitären Anspruch aufzuweichen. Auf der Straße wird das Krenz’sche Gesprächsangebot wie folgt beantwortet: „Ulbricht log, Honecker log, Krenz log, Dia-log!“ Für den Abend wird in Leipzig wieder eine machtvolle Montagsdemo erwartet.
08:00 Uhr: Reiche fordert demokratische Wahlen
Für Steffen Reiche (SDP) läuft in einem im Spiegel-Interview die Strategie der SED darauf hinaus, „einiges zu erneuern, um möglichst viel vom Alten zu erhalten.“ Um den Bürgergruppen eine angemessene Beteiligung an den Entscheidungsprozessen zu gewähren, müssten demokratische Wahlen ihren Rückhalt in der Bevölkerung feststellen. Reiche ist überzeugt, dass sich dann die SED in "Opposition zum Mehrheitswillen der Bevölkerung befindet."
Er spricht sich für marktwirtschaftliche Regeln aus, doch sollten Teile der Volkswirtschaft in öffentlicher Verantwortung bleiben, um die soziale und ökologische Verträglichkeit der Wirtschaft zu sichern.
Im Tagesspiegel schrieb 2009 Konrad Elmer-Herzig über die Gründung der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP). Seine Erinnerungen können Sie hier nachlesen.
29. Oktober: Vor dem Roten Rathaus wird der Mauertoten gedacht.
19:40 Uhr: Aktuelle Kamera will wahrheitsgetreu informieren
Der Chefredakteur der Aktuellen Kamera, Klaus Schickhelm, kündigt an, die Bürger künftig schnell und wahrheitsgetreu zu informieren. Dies solle auch die ab Montag (30.10.) ausgestrahlte neue Nachrichtensendung AK Zwo gewährleisten. Ab sofort wollen die Fernsehjournalisten ihren Zuschauern offen in die Augen schauen können. Die neue Offenheit, für die auch das Jugendfernsehen "Elf99" steht, wird mit Berichten von den zahlreichen Kundgebungen und Demonstrationen unterstrichen.
19:30 Uhr: FDJ kritisiert DDR-Regierung
Die Berliner FDJ Leitung ändert ihre Politik. Im DDR-Fernsehen richtet Hans-Joachim Willerding, Vorsitzender der FDJ-Fraktion in der Volkskammer, heftige Attacken gegen die Regierung. Er stellt gar ihre Legitimität in Frage.
16:00 Uhr: Momper und Ehmke sprechen mit der DDR-Opposition
Der Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Walter Momper, und der ehemalige Bundesminister Horst Ehmke (beide SPD) treffen sich mit etwa 20 DDR-Oppositionellen vom Neuen Forum und der SDP. Wie das MfS zu berichten weiß, hält Momper „das Gerede von der Wiedervereinigung“ für eine „große Heuchelei, die jedoch in der BRD immer eine wesentliche Rolle spiele.“ Da die CDU in dieser „gelenkten Kampagne“ die Meinungsführerschaft übernommen habe, könne sich auch die SPD solchen Überlegungen nicht entgegenstellen.
Die Vertreter der Opposition erklären sich derzeit außer Stande, die Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Die Führungsrolle der SED stellen sie daher auch nicht in Frage. Sie fürchten bei einer weiteren Zuspitzung der gesellschaftlichen Widersprüche die Entstehung eines Machtvakuums, durch das "die weitere Entwicklung nicht mehr kontrollierbar sei."
Anschließend treffen sich Momper und Ehmke mit Konsistorialpräsident Manfred Stolpe und Schabowski. Momper bekräftigt seinen Wunsch, bald mit Staats- und Parteichef Krenz zusammenzutreffen.
12:30 Uhr: Demokratischer Aufbruch formiert sich
Im Diakoniewerk "Königin Elisabeth" in Berlin-Lichtenberg treffen sich etwa 200 Vertreter des Demokratischen Aufbruch (DA), um die Gründung der Sammlungsbewegung förmlich nachzuholen. Der Rostocker Rechtsanwalt Wolfgang Schnur wird zum Vorsitzenden gewählt. Was die Anwesenden nicht ahnen: seit 1965 arbeitet Schnur als IM der Stasi. Pfarrer Rainer Eppelmann von der Samaritergemeinde in Berlin-Friedrichshain wird Pressesprecher. Laut Statut vereint der DA Menschen „sozialistischer, sozialdemokratischer, religiöser, liberaler und ökologischer Prägung.“
Der DA setzt sich für die Anwendung marktwirtschaftlicher Prinzipien, den ökologischen Umbau der Industrie und den Schutz sozial Schwacher ein. Er spricht sich für eine gesellschaftliche Kontrolle des Staates und die Förderung privater Klein- und Mittelbetriebe aus. Auch befürwortet man ein „aktives Aufeinanderzugehen der beiden deutschen Staaten“, allerdings unter Beibehaltung der Zweistaatlichkeit. Eppelmann plädiert für eine sozialistische DDR mit Dominanz des Staatseigentums.
Große Zustimmung findet die Umwandlung des DA in eine politische Partei. Die Mehrheit der Delegierten wünscht sich den DA aber – „im Gegensatz zu den Initiatoren“ – nicht als Linkspartei. Eine Zusammenarbeit mit dem Neuen Forum wird angestrebt, allerdings bestehen nach Informationen des MfS persönliche Differenzen zwischen Eppelmann und Bohley.
Wie ein weiteres prominentes Mitglied des DA, Pfarrer Friedrich Schorlemmer aus Wittenberg, später erinnert, befürchten viele DA-Mitglieder, das Neue Forum werde von der SED umarmt und medienwirksam ins Bild gebracht, da es weniger straff strukturiert ist und „ohne Aktionen agiert.“ Der DA strebt dagegen die „Brechung des Machtmonopols der SED“ an.
Der Tagesspiegel veröffentlichte 1999 ein Doppelporträt der Freunde Rainer Eppelmann und Wolfgang Schnur, dass Sie hier noch einmal lesen können.
11:00 Uhr: „Sonntagsgespräche“ in Leipzig und Karl-Marx-Stadt
Auch in den sächsischen Zentren des Reformherbstes finden mehrstündige Diskussionsveranstaltungen statt. In der Karl-Marx-Städter Stadthalle diskutieren SED-Funktionäre mit Vertretern der Blockparteien und dem Neuen Forum. Im Leipziger Gewandhaus wird gefordert, dem größten industriellen Ballungszentrum der DDR mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Nach Berlin zwangsdelegierte Bauarbeiter sollen zurückkommen, um den Verfall der Leipziger Innenstadt aufzuhalten und längst überfällige Arbeiten an der Infrastruktur vorzunehmen. Der schnelle, auf Repräsentation orientierte Aufbau der Hauptstadt habe dem ganzen Land schweren Schaden zugefügt.
In vielen anderen Städten folgen auf die sonntäglichen Gottesdienste Demonstrationen, auf denen unter anderem Pressefreiheit, die Schaffung eines zivilen Wehersatzdienstes und die Zulassung des Neuen Forums gefordert werden.
10:00 Uhr: Kundgebung vor dem Roten Rathaus fordert Rücktritt des Politbüros
In Ost-Berlin findet eine erste Großveranstaltung unter dem Motto "Offene Türen, offene Worte" statt. DDR-Spitzenpolitiker stellen sich der Diskussion mit der Bevölkerung. Die Veranstaltung kann wegen des großen Zulaufs nicht im Magistratssaal stattfinden und wird vor das Rote Rathaus ins Freien verlegt. Dutzende Bürger fordern von der Führung Rechenschaft und gehen hart mit den anwesenden Politikern ins Gericht.
Die Kundgebung, an der 20.000 Menschen teilnehmen beginnt mit einer Schweigeminute für jene, "die eine individuelle Lösung ihres Problems mit dem Leben bezahlen mussten, in Minenfeldern oder durch Selbstschussanlage oder im Wasser der Spree." Es ist das erste mal, dass vor dem Roten Rathaus öffentlich der Mauertoten gedacht und gefordert wird, die Mauer zu beseitigen.
Der Berliner SED-Bezirkschef Günter Schabowski räumt unter dem Beifall der Menge das Recht auf freie Demonstrationen ein. Er beschränkt dies aber sogleich auf Berlin und erklärt, in der SED-Führung gebe es über den künftigen Weg weiter Streit. Hartnäckig werden Fragen zu den Übergriffen der Sicherheitskräfte am 7. Oktober 1989 gestellt. Sie zwingen den Polizeipräsidenten Friedhelm Rausch schließlich zu einer öffentlichen Entschuldigung, die mit einem Pfiffen beantwortet werden. Erstmals wird öffentlich die Auflösung des MfS gefordert. Hermann Kant, der Präsident des Schriftstellerverbandes, erklärt: "Meine Polizei soll nicht mein Volk schlagen." Sie heiße schließlich "Volks-Polizei."
Stürmische Begeisterung erntet der Vorschlag, die Siedlung des Politbüros in Wandlitz bei Berlin in ein Heim für geschädigte Kinder umzuwandeln. Die Privilegien der Staats- und Parteiführung sollen vollständig abgeschafft werden. Da für die tiefe gesellschaftliche Krise kaum nur zwei, drei Leute verantwortlich sein können, fordert die Menge schließlich den Rücktritt des gesamten Politbüros. Für die kommenden Wochen werden die „Sonntagsgespräche“ als Forum für einen Dialog zwischen Partei und Bevölkerung in Ost-Berlin eingeführt
28. Oktober: Öffentlichkeit rehabilitiert Walter Janka.
20:00 Uhr: Öffentlichkeit rehabilitiert Walter Janka
In Plauen demonstrieren 30 000 Menschen für freie Wahlen, Pressefreiheit und die Zulassung des Neuen Forum. Auf Transparenten fordern sie: "Keine Reden mehr - wir wollen Taten sehen." In Leipzig, Erfurt und Jena stellen sich Vertreter der SED kontroversen Diskussionen mit den Bürgern. In Neubrandenburg werden Privilegien von Funktionären angeprangert und persönliche Konsequenzen gefordert.
In der Erlöserkirche in Ost-Berlin laden Künstler der Stadt zu einer Veranstaltung "Wider den Schlaf der Vernunft" ein. Siebzig Prominente wie Christoph Hein, Stefan Hermlin, Heiner Müller und Helga Königsdorf lassen Augenzeugen zu Wort kommen. Eine junge Frau berichtet über entwürdigende Gewaltaktionen in der Untersuchungshaft und von subtilen Mechanismen der Einschüchterung. So habe man von ihr und ihrer zwölfjährigen Schwester "Geruchskonserven" genommen - als Suchhilfe für Spürhunde, wie es später hieß. Christa Wolf fordert eine unabhängige Untersuchungskommission zur Aufklärung der Übergriffe und als Schule der Demokratie. Für Günter de Bruyn heißt Gewaltenteilung öffentliche Kontrolle auch durch die Medien. Stefan Heym spricht sich einmal mehr für Glaubwürdigkeit durch Taten, nicht durch Versprechungen aus.
Zur gleichen Zeit liest der bekannte Schauspieler Ulrich Mühe im Deutschen Theater in Walter Jankas Anwesenheit aus dessen Erinnerungen "Schwierigkeiten mit der Wahrheit". Der ehemalige Leiter des Aufbau-Verlages war 1957 wegen angeblicher Umsturzpläne gegen Walter Ulbricht zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Seinen ersten großen öffentlichen Auftritt am heutigen Abend versteht Janka als moralischen Rehabilitierung. Die Veranstaltung wird zu einer politischen Manifestation für die Rehabilitierung aller Opfer des Stalinismus.
19:00 Uhr: Initiative für Frieden und Menschenrechte berät in Ost-Berlin
Im "Hospiz" in Ost-Berlin konstituiert sich die bereits Ende 1985 gegründete Initiative für Frieden und Menschenrechte zur landesweiten Bürgerbewegung. Die Initiative, die allen interessierten Bürgern offen steht, ist die älteste Oppositionsgruppe in der DDR und Keimzelle der meisten anderen Bürgerinitiativen im Wendeherbst 1989. Sie sieht ihren Schwerpunkt in der Behandlung von Menschenrechtsfragen in der DDR und im Ausland sowie in Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der demokratischen Selbstbestimmung. Dafür bedürfe es auch der "Einmischung in eigene Angelegenheiten." Die Initiative tritt für gewaltfreien Widerstand und die Einführung eines zivilen Wehrersatzdienstes im sozialen Bereich ein.
18:30 Uhr: SED-Kreissekretär begeht nach schweren Vorwürfen Selbstmord
In Bautzen stellt sich der Ratsvorsitzende und SED-Kreissekretär Helmut Mieth einem Bürgerforum. Von den etwa 1.200 Anwesenden werden schwere Vorwürfe gegen Mieth erhoben. Der "Wahrheit- und Machtanspruch" der SED wird abgelehnt.
Vertreter des Neuen Forumsfordern einen unabhängigen Untersuchungsausschuss über die Verhaftungen und Misshandlungen im als "Gelbes Elend" berüchtigten Gefängnis von Bautzen. Ein spontan gebildetes Bürgerkomitee fordert als erstes die Absetzung der von Karl-Eduard von Schnitzlerverantworteten Propagandasendung "Derschwarze Kanal" im DDR-Fernsehen. Manche Bautzener beschweren sich, dass es am Wochenende wieder kein Bier und nur altbackenes Brot gab.
Die turbulenten Szenen und zum Teil von ihm als bösartig empfundenen Vorwürfe im Bürgerforum hinterlassen Mieth in einem Zustand tiefer Depressionen. Zwei Tage später erschießt er sich mit seiner Dienstwaffe.
18:00 Uhr: Mielkes Mannschaft gewinnt nicht
In der Eissporthalle im Ostteil Berlins tanzt Katharina Witt mit einem Ensemble die "Carmen". Der BFC Dynamo Berlin, die Lieblingsfußballmannschaft Erich Mielkes, spielt gegen Dynamo Dresden unentschieden.
17:00 Uhr: Prag demonstriert für "andere Regierung"
Am 71. Jahrestag der Staatsgründung der ersten tschechoslowakischen Republik 1918 demonstrieren in Prag über 10.000 Menschen für eine "andere Regierung." Die Kundgebung auf dem Wenzelsplatz gehört zu den Vorboten der sogenannten Samtenen Revolution in der CSSR, die erst nach dem Fall der Berliner Mauer im November an Zugkraft gewinnt, aber bis Ende 1989 das kommunistische Regime in Prag hinwegfegen wird. Prominenteste Figuren der tschechoslowakischen Reformbewegung sind Alexander Dubček, KP-Chef während des Prager Frühlings 1968, und der Autor Václav Havel. Die Menge lässt beide hochleben.
Nach 25 Minuten beginnt die Polizei, die Demonstranten unter massivem Schlagstockeinsatz auseinander zutreiben. Augenzeugen berichten von Dutzenden abgeführten Personen. Im Vorfeld hatte die Regierung die Innenstadt für ihre Feierlichkeiten hermetisch abgeriegelt und zahlreiche Oppositionelle - auch Havel - verhaften lassen.
14:00 Uhr: Vorbehalte gegen Übersiedler
In der letzten Nacht sind in Bayern 750 DDR-Flüchtlinge angekommen. Derweil wachsen in der Bundesrepublik die Vorbehalte gegen die Übersiedler. Die Bundesländer sind auf den stetig wachsenden Strom nicht vorbereitet. Allein im Oktober kommen mehr als 27.000 Flüchtlinge über Ungarn in die BRD. Einige Länder schlagen vor, die Freizügigkeit der Übersiedler vorübergehend einzuschränken. Die Flüchtlingsgesetzgebung soll dringend reformiert werden um den Zustrom einzuschränken. Für die Kosten, die Bundesländern und Kommunen durch die Übersiedler entstehen, soll mehrheitlich der Bund aufkommen.
11:00 Uhr: Stadtverordnete in Leipzig üben Selbstkritik
Auf einer außerordentlichen öffentlichen Sitzung, an der mehr als 600 Abgeordnete und Bürger teilnehmen, äußern sich die Leipziger Stadtverordneten erstmals selbstkritisch über ihre Heuchelei, das Verdrängen der wirklichen Probleme und Verschweigen ihrer wahren Meinung in den vergangenen Jahren. Gesprochen wird auch über die angespannte Situation im Gesundheitswesen, den bürokratischen Umgang mit Bürgern und die dringende Notwendigkeit, Kapazitäten im Bauwesen aus Ost-Berlin zurückzuführen. Seit Jahren leidet die historische Innenstadt von Leipzig unter zunehmenden Verfallserscheinungen.
Abgeordnete der LDPD stellen den Führungsanspruch der SED offen in Frage. Oberbürgermeister Bernd Seidel spricht sich für die Beteiligung der Abgeordneten und Bürger aller politischer Richtungen an den Entscheidungsprozessen aus und fordert das Ende der Bevormundung durch übergeordnete staatliche Organe. Im Gewandhaus findet später ein Forum "Sozialistische Demokratie - aber wie" statt, an dem sich etwa 3.000 Bürger beteiligen. Auch hier steht vor allem der Führungsanspruch der SED im Zentrum der Kritik.
10:00 Uhr: Berghofer glaubt nicht an baldiges Ende der Demonstrationen
In der Berliner Zeitung äußert der Oberbürgermeister von Dresden Verständnis für die Bürger, "die kein Gehör gefunden haben" und nun auf die Straße gehen, "um sich zu artikulieren." Das werde sich erst ändern, "wenn gravierende Änderungen im Leben der Menschen spürbar werden." Der nun begonnene Dialog heißt auch "In-sich-Gehen, über sich nachdenken, auch innerlich die Wende vollziehen, die notwendig ist."
09:00 Uhr: Ost-CDU stellt ethische Werte in den Mittelpunkt
In ihrem zentralen Presseorgan Neue Zeit definiert sich die CDU der DDR als unabhängige und eigenständige Partei. In einem Grundsatzprogramm fordert sie eine lebendige Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, realistische Medien sowie ein konstruktives Verhältnis zwischen Staat und Kirche. Ethische Werte sollen Vorrang haben. Die CDU setzt sich für ein vorbildliches Gesundheitswesen und hohe soziale Sicherheit ein. Ehrliche Arbeit solle leistungsgerecht bewertet werden, die Volkswirtschaft sich als Einheit von Ökonomie und Ökologie verstehen.
08:00 Uhr: Erstmals Interview mit Oppositionellem in einer offizielle Zeitung der DDR
Der liberaldemokratische "Morgen" ist die erste offizielle Zeitung der DDR, in der ein Interview mit einem Oppositionellen erscheint. Rolf Henrich wird zu den Vorstellungen des Neuen Forums befragt. Er stellt die Bürgerinitiative als Plattform unterhalb der Parteien dar, auf der sich die Bürger politisch artikulieren können. Er spricht sich für einen themenorientierten Dialog aus, der nicht mehr auf der Straße stattfinden könne. Henrich, der seit der Veröffentlichung seines kritischen Buches "Der vormundschaftliche Staat" als Anwalt mit einem Berufsverbot belegt ist, wünscht sich eine DDR, die "aus Reformen und nicht als Ellenbogengesellschaft hervorgeht.".
27. Oktober: Amnestie politisch Inhaftierte.
21:00 Uhr: Westdeutsche fürchten sich nicht vor Wiedervereinigung
Das ZDF-Politbarometer veröffentlicht neue Umfragen zur Situation in der DDR. Danach würden drei Viertel der Befragten die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten begrüßen. Nur zwölf Prozent sind dagegen. Etwa genauso viele (15 Prozent) befürchten nachteilige Entwicklungen für ihre Arbeitsplätze durch die Übersiedler aus der DDR. Die überwiegende Mehrheit (85 Prozent) befürchtet keine Nachteile.
19:00 Uhr: Zahlreiche Demonstrationen im ganzen Land
Am Freitagabend gehen die Bürger im ganzen Land auf die Straßen. Nicht nur in den großen Städten, auch in vielen kleineren Gemeinden wie Güstrow, Großräschen, Lauchhammer und Saalfeld begehren die Bürger auf. Häufig folgen sie dem bekannten Muster - zunächst Friedensgebete in den Räumen der Kirchen, dann folgen die Demonstrationen. In Dresden werden mehr Rechtssicherheit und schonungslose Aufklärung der Polizeiübergriffe gefordert. In Karl-Marx-Stadt fordern die Demonstranten: „Wir wollen endlich Taten sehen.“
In vielen Orten reagieren die Behörden ratlos und unentschlossen. Wie seit Jahrzehnten gewohnt, erwarten sie zentrale Entscheidungen aus Berlin. Doch auch die SED-Führung weiß die stetig zunehmende Demokratiebewegung nicht einzugrenzen. Mit jedem weiteren Tag wächst der Druck von der Straße. In Auerbach wird der Vorsitzende des Rates des Kreises, Hermann Heinke, für das Eingeständnis des Versagens von Partei und Staatsapparat von den 20.000 Demonstranten ausgepfiffen.
In der Industriestadt Dessau ziehen am Abend etwa 30.000 Menschen durch das Stadtzentrum. Es ist die zweite große Kundgebung in der Stadt, die aufgrund der Nähe Dessaus zu Leipzig wieder nicht am Montag sondern am Freitag stattfindet. Als vor dem Rathausplatz Oberbürgermeisterin Sylvia Retzke zu den Menschen sprechen will, versagt die Technik und es kommt beinahe zu einem Gedränge. Schließlich schlägt Pfarrer Alfred Radeloff ein offenes Gespräch in der Johanniskirche vor. Der Rat der Stadt gibt vor etwa 1.600 Teilnehmern politische Fehler der Vergangenheit zu. Wie im ganzen Land fordern auch die Dessauer freie und geheime Wahlen.
18:00 Uhr: Demokratie Jetzt! fordert Plebiszit zum Führungsanspruch der SED
An vielen Orten der Republik sind nach MfS-Informationen Veranstaltungen des Neuen Forums und anderer Initiativen geplant. In der Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg trifft sich die Bürgerinitiative Demokratie Jetzt! Man gibt eine Unterschriftenliste aus, auf der ein Volksentscheid zur Führungsrolle der SED für 1990 gefordert wird.
Die Initiatoren fragen, worin sich dieser Führungsanspruch begründet. Wahrer Sozialismus könne auf lebendige demokratische Willensbildung nicht verzichten. Die festgeschriebene Führungsrolle einer Partei vertrage sich nicht mit der Idee von Sozialismus. Für den Aufruf zeichnen unter anderem Jörg und Regine Hildebrandt verantwortlich. Die Biologin Dr. Hildebrandt wird in den 1990er Jahren dank ihres spröden, ungewöhnlich offenen und volksnahen Auftretens zu den populärsten Politikerinnen der SPD in Ostdeutschland gehören.
17:00 Uhr: Die Mauer bleibt, die Grenze fällt - ständige Ausreise über die Tschechoslowakei bald möglich
Der DDR-Ministerrat hebt die am 12. Oktober beschlossenen Reisebeschränkungen für die CSSR ab 1. November 1989 wieder auf. Damit können DDR-Bürger wieder pass- und visafrei in das südliche Nachbarland reisen. Da es ihnen dann freisteht, über Ungarn in den Westen auszuwandern, ist das DDR-Grenzsystem mit Mauer und Stacheldraht eigentlich schon hinfällig.
Zwar geht der Ministerrat davon aus, dass DDR-Bürger mit dem Wunsch nach ständiger Ausreise, entsprechende Anträge weiterhin bei den zuständigen Behörden einreichen. Solche Ausreiseanträge sollen in Zukunft kurzfristig entschieden werden. Ein Anschwellen des Ausreisestroms über die Tschechoslowakei auf täglich über tausend Personen ist dennoch zu erwarten.
Der Fall der Berliner Mauer – wie unwirklich ein solches Szenario zu diesem Zeitpunkt den meisten auch noch erscheinen mag – kündigt sich mit dieser Entscheidung bereits an. Noch aber schließt die Staatsführung die Öffnung der Grenzen und freie Reisemöglichkeiten aus. Generalstaatsanwalt Horst Wendland lehnt die Abschaffung des Straftatbestandes „ungesetzlicher Grenzübertritt“ im DDR-Fernsehen ausdrücklich ab. DDR und BRD seien „zwei Systeme, die miteinander nicht vereinbar“ sind. Die Grenze zwischen beiden deutschen Staaten müsse daher zuverlässig geschützt werden.
14:00 Uhr: Politisch Inhaftierte kommen frei
In den Gefängnissen der DDR sitzen etwa 2000 politische Häftlinge, die meisten wegen versuchter Republikflucht. Für diese Häftlinge wird am Abend eine Amnestie verkündet. Die Inhaftierten sollen binnen drei Tagen freigelassen werden. Viele Häftlinge wollen aber lieber im Gefängnis bleiben, als in den Osten entlassen werden. Der DDR-Staatsrat erlässt zudem eine Amnestie für alle Flüchtlinge und Demonstrationsteilnehmer. Damit kommt die Staatsführung den seit Wochen vorgetragenen Forderungen der Demonstranten nach.
13:00 Uhr: Demokratie in der Sowjetunion gestärkt
In der UdSSR tritt eine Verfassungsänderung in Kraft. Sie führt zu einer Schwächung des Obersten Sowjets zugunsten des Kongresses der Volksdeputierten. Der Kongress mit seinen 2.250 Delegierten ist nun das höchste gesetzgebende Gremium der Sowjetunion. Bisher trat er nur selten zusammen, um den Gesetzesentwürfen der Partei, des Ministerrats und des Obersten Sowjets zuzustimmen.
Der Oberste Sowjet wiederum besteht aus 1.500 Delegierten und wählt aus seinen Reihen den Ministerrat der UdSSR und das Präsidium des Obersten Sowjets - bislang das eigentliche gesetzgebende Organ der Sowjetunion. Der Vorsitzende des Obersten Sowjets ist zugleich das Staatsoberhaupt der Sowjetunion - seit dem 1. Oktober 1988 ist dies Michail Gorbatschow.
Im Zuge seiner Politik der Perestroika (Umgestaltung) und Demokratisaziya (Demokratisierung) setzt Gorbatschow die Verfassungsänderung schon am 1. Dezember 1988 durch. Am 26. März 1989 wird der Kongresses der Volksdeputierten neu gewählt. Diese Wahlen stellen für die Bevölkerung der UdSSR ein Novum dar, denn sie bieten für sowjetische Verhältnisse relativ freie Bedingungen. Zwar werden ein Drittel der Abgeordneten weiterhin von der KPdSU delegiert, doch können sich auf lokaler Ebene mehrere Kandidaten - nicht Parteien - zur Wahl stellen. Erstmals seit Jahrzehnten findet eine Art offener Wahlkampf statt, der auch im Fernsehen übertragen wird.
Mit der heute in Kraft tretenden Verfassungsänderung werden die Rechte des einzigen verhältnismäßig frei gewählten Parlaments der Sowjetunion gegenüber dem nach wie vor von der Partei kontrollierten Obersten Sowjet gestärkt.
12:00 Uhr: Ost-Sozialdemokrat trifft in Bonn auf SED-Delegation
Die Ministerpräsidenten der westdeutschen Bundesländer rufen in Düsseldorf die Führung der DDR auf, die Wünsche der Bürger nach demokratischen Freiheiten zu respektieren. In Bonn kommt es derweil zu einer kuriosen Begegnung. Steffen Reiche, Gründungsmitglied der SDP, trifft Vertreter der SPD-Führung. Bei der Gelegenheit werden ihm auch Mitgliedern einer Regierungsdelegation der SED vorgestellt, die dort gerade Kontaktgespräche führt. Es dürfte der erste Kontakt der jungen Oppositionspartei mit SED-Offiziellen sein. Er findet ausgerechnet auf dem Boden des "Klassenfeindes" statt.
10:00 Uhr: DDR-Medien gehen auf Distanz zur Staats- und Parteispitze
Die Nachrichtenagentur ADN beschließt eine neue, offene Art der Berichterstattung. Künftig solle das Volk in den Medien nicht mehr nicht, schlecht oder gar falsch informiert werden. Die „Selbstherrlichkeit einzelner“ solle nicht mehr „an die Stelle kollektiver Weisheit“ treten. Die Berliner Zeitung schreibt von Skepsis und Misstrauen gegenüber der SED: „ist die begonnene Wende etwas Dauerhaftes oder eine Kampagne, Krisenmanagement?“
Im Neuen Deutschland kritisiert auch Markus Wolf die Arbeit der Medien, durch die „ganz besonders in diesem Jahr [...] so viel Vertrauen bei den Menschen verloren gegangen“ sei. Betroffen habe ihn vor allem die Behandlung der Massenflucht von Mitbürgern gemacht: „Ich habe mich in meinem Leben noch nie so geschämt wie an dem Tag, an dem in den Medien zu lesen war, wir sollten den Menschen, die uns verlassen haben, keine Träne nachweinen.“ Am Nachmittag berichtet das DDR-Jugendfernsehen "Elf99" von einer Krisensitzung des FDJ-Zentralrats, auf der ein Vorschlag angenommen wird, die Führungsspitze drastisch zu verjüngen.
26. Oktober: DDR-Rechtsanwälte fordern dringende Reformen.
20:00 Uhr: Zahlreiche Demonstrationen und Kundgebungen im ganzen Land
Überall im Land bekräftigen die Menschen ihre Forderungen nach Abschaffung des Führungsanspruches der SED, freien Wahlen und uneingeschränkten demokratischen Rechten. Zehntausende gehen in Rostock, Erfurt oder Frankfurt/Oder auf die Straßen. In Gera führt Oberbürgermeister Horst Jäger im Anschluss an eine Kundgebung einen Dialog mit Bürgern der Stadt. Man spricht über die überfällige Sanierung der Altstadt, unzureichende Dienstleistungen und die herabwürdigende Behandlung der Bürger durch Verwaltungsorgane. Auch Fragen zu Umwelt und Wirtschaft werden behandelt. Eine zentrale Forderung bleibt das uneingeschränkte Reiserecht.
19:00 Uhr: Ministerrat will Versorgungsengpass schließen
Der Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Willy Stoph, kündigt eine bessere Versorgung der Bevölkerung an. Sofortmaßnahmen sollen den zusätzlichen Import von Konsumgütern und Lebensmitteln ankurbeln. Stoph sagt: "Wir tun, was wir können." Wie die Maßnahmen finanziert werden sollen, bleibt unklar. Stoph kennt die bedrückende wirtschaftliche Lage des Landes und die Höhe der Auslandschulden.
18:00 Uhr: Öffentlicher Dialog in Dresden
"Das jetzt Begonnene wird in der DDR einen revolutionären Wandel auslösen!" ist sich SED-Bezirkssekretär Hans Modrow sicher. Hunderttausend Bürger nehmen in Dresden an einem öffentlichen Dialog mit ihm und Oberbürgermeister Berghofer teil. Berghofer informiert, eine außerordentliche Stadtratssitzung habe am Nachmittag beschlossen, Arbeitsgruppen zu bilden, in denen interessierte Bürger für eine befristete Zeit politisch mitgestaltend wirken können.
Dr. Frank Tellkamp vom Neuen Forum beklagt, dass 3,5 Millionen Menschen in den letzten 40 Jahren die DDR verlassen haben. Tellkamp hält die Zeit für reif, tiefgreifende Reformen in der Wirtschaft mit Orientierung auf Markt und Konkurrenz einzuleiten. Nur so sei die verheerende Versorgungslage zu überwinden. Die SED müsse ihr Machtmonopol aufgeben und sich für freie Wahlen und freie Reisemöglichkeiten einsetzen. Vertreter der »Gruppe der 20« hatten schon am Nachmittag bei ihrem ersten Auftritt vor der Dresdner Stadtverordnetenversammlung freie Wahlen gefordert.
16:00 Uhr: DDR-Rechtsanwälte fordern dringende Reformen
Das Kollegium der Rechtsanwälte der DDR veröffentlicht ein unter der Federführung Gregor Gysis erarbeitetes Positionspapier, das grundlegende Reformen zur Rechtssicherheit fordert. Bürgerrechte seien ungenügend formuliert, die Unabhängigkeit der Richter mangelhaft. Das nicht der Zeit entsprechende Strafrecht müsse verändert werden. Dringend müssten neue Gesetze zum Wahl- und Versammlungsrecht erarbeitet und ein neues Reisegesetz erlassen werden.
Das sensationelle Papier geht weit über alle anderen offiziellen Äußerungen hinaus. Der rhetorisch hochbegabte, quirlige Gregor Gysi, einer der wenigen freien Rechtanwälte in der DDR, wird in den kommenden Wochen einer der Stars der Wende. Als Anwalt verteidigte er Systemkritiker und Ausreisewillige wie wie Robert Havemann, Rudolf Bahro, Jürgen Fuchs, Bärbel Bohley und Ulrike Poppe.
15:00 Uhr: Studenten diskutieren mit Schabowski
Auf einer Diskussionsveranstaltung in der Humboldt-Universität hofft Schabowski: "Die eingeleiteten Veränderungen in der DDR sind sehr spät gekommen, aber nicht zu spät." Die Studenten wünschen strukturelle Veränderungen des politischen Systems der DDR, die auch mit einer Reorganisation des Parteienverhältnisses einhergehen muss. Der gesellschaftliche Dialog solle nach dem Vorbild des "runden Tischs" in Polen und in Ungarn institutionalisiert werden.
Weiterhin kann die FDJ mit ihrer Initiative zur Gründung eines "sozialistischen Studentenbundes in einer erneuerten FDJ" zu einem Großteil der Studenten nicht durchdringen. Ein Teil der Studentenschaft favorisiert nach wie vor die Schaffung eines "unabhängigen Studentenrates," der der FDJ die alleinige Vertretung streitig machen soll.
14:00 Uhr: Jusos wollen DDR anerkennen
Der Bundesausschuss der Jusos fordert angesichts der sich verändernden Lage in Ost-Berlin die völkerrechtliche Anerkennung der DDR und den Verzicht auf das Wiedervereinigungsgebot im Grundgesetz.
12:00 Uhr: Kohl und Krenz telefonieren
Die Regierungschefs der beiden deutschen Staaten bekunden in dem etwa 20-minütigen Gespräch gegenseitig ihr Interesse an der Fortführung der praktischen Zusammenarbeit. Kanzleramtsminister Rudolf Seiters soll als Beauftragter der Bundesregierung Gespräche mit DDR-Offiziellen führen. Krenz betont die Souveränität der DDR als sozialistischer Staat und fordert von Kohl die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft.
Kohl erklärt, Bonn erwarte eine Regelung der Reisefreiheit, eine Amnestie für Republikflüchtlinge und die Beendigung der Verfolgung von Personen, die bei Demonstrationen und Ausschreitungen festgenommen wurden. Auch in der Frage der Botschaftsflüchtlinge müsse eine positive Lösung gefunden werden.
Nach Aussage von Horst Teltschik, der zum engsten Beraterkreis des Bundeskanzlers gehört, sieht Kohl in Krenz nicht den geeigneten Politiker, der die Probleme der DDR lösen könne. Aus der Sowjetunion ist die Bundesregierung zudem informiert worden, Krenz sei nur ein Übergangskandidat.
10:00 Uhr: Schabowski empfängt Neues Forum
In einer "konkreten und entspannten Atmosphäre" (ADN) empfängt der SED-Bezirkschef von Berlin, Schabowski, am Morgen die Gründungsmitglieder des Neuen Forums Bärbel Bohley, Prof. Jens Reich und Sebastian Pflugbeil. Es ist die erste offizielle Zusammenkunft eines Politbüromitglieds mit Vertretern der oppositionellen Gruppen. Die Bürgerrechtler erklären, an "die sozialistische Traditionen anknüpfen" zu wollen. Die führende Rolle der SED wird nicht grundsätzlich abgelehnt. Die Partei müsse nur allen dienen und "sichtbar erlebbar" sein. Die im Westen aufgekommene Diskussion um die deutsche Einheit empfindet man als "störend" und "unfair."
Das Neue Deutschland wird die Begegnung mit folgt kommentieren: "Wir brauchen den Dialog, nicht Unruhe und Gebrüll." Das SED-Presseorgan liegt damit ganz auf der Linie der Parteifunktionäre, die in den Demonstrationen keine selbstverständlichen Willensäußerungen der Bevölkerung sehen, sondern anhaltende Störgrößen und Gefahrenherde. Die Demonstrationen, "so friedlich sie von vielen, vielleicht von der großen Mehrheit" gedacht seien, könnten schließlich immer anders ausgehen, als sie geplant waren.
09:00 Uhr: Junge Welt contra Biermann
Der Liedermacher Wolf Biermann ist 1976 während eines Besuchs im Westen aus der DDR ausgebürgert worden. Das hat zu scharfen Protesten in der Bevölkerung und zur Abwanderung zahlreicher Intellektueller und Künstler geführt, die für sich nun auch keine Zukunft mehr in der DDR sahen. In dem ihm eigenen drastischen Ton hat sich Biermann jetzt zur neuen SED-Führung geäußert. Dort säßen vor allem "alte Dreckschweine, lächelnde Idioten und Verbrecher."
Die FDJ-Zeitung Junge Welt polemisiert in ihrer heutigen Ausgabe zurück: "Bitter und beschämend, wenn eine Zunge derart scharf wird, daß sie vor allem Wahrheit und Würde schwer verletzt." Einem Auftritt Biermanns bei der für den 4. November geplanten Großkundgebung in Ost-Berlin - wie ihn das Neue Forum geplant hat - sind die Äußerungen jedenfalls abträglich. Die Chancen für eine baldige Wiedereinreise des streitbaren Künstlers scheinen außer Sicht.
25. Oktober: "Demokratie - jetzt oder nie!"
20:00 Uhr: SED-Mitglieder demonstrieren für Krenz
Am Abend demonstrieren in Neubrandenburg etwa 20.000 Menschen. Nach einem Friedensgebet in der Johanniskirche formiert sich ein "Marsch der Hoffnung." Die Demonstration der Opposition wird mit einer Gegendemonstration der SED konfrontiert. Oberbürgermeister Heinz Hahn erklärt, ein ernst gemeinter Dialog dürfe nicht mit einem Misstrauensvotum und mit Schuldzuweisungen beginnen. Man müsse schon den Gesprächspartner akzeptieren und dürfe dessen Kompetenz nicht von Anfang an in Frage stellen. Als SED-Bezirkschef Johannes Chemnitzer es als Gebot der Stunde bezeichnet, Lösungen nicht länger in Demonstrationen zu suchen, wird er ausgebuht.
Immer mehr Menschen demonstrieren derweil in Ost-Berlin gegen die Wahl von Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden. Auch in Gera und Rostock finden Demonstrationen statt. In Halberstadt gehen 10.000 Menschen auf die Straße. Eine Großkundgebung findet in Greifswald statt. In Jena erschallt aus tausenden Kehlen der Ruf: "Demokratie - jetzt oder nie!"
18:00 Uhr: Petra Kelly dankt den Bürgerrechtlern
In der Marienkirche in Ostberlin formuliert die Bürgerbewegung ihre Forderungen und bekundet ihre Solidarität mit den politischen Inhaftierten. Die Bundestagsabgeordnete der Grünen, Petra Kelly, bedankt sich bei den Versammelten für deren Mut und Entschlossenheit. Kelly gehört mit ihrem Lebensgefährten Gert Bastian in den 1980er Jahren zu den wichtigsten Verbündeten der DDR-Friedensbewegung in der Bundesrepublik. Gemeinsam reisen sie häufig nach Ost-Berlin und verschaffen der Friedens- und Bürgerbewegung Material und Technik für ihre Publikationen.
13:00 Uhr: Neues Forum will Wolf Biermann einladen
IM "Andreas" berichtet, dass Neue Forum plane, für die Großdemonstration am 4. November den 1976 aus der DDR ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann einzuladen. Tatsächlich hat Bärbel Bohley die Einladung an Biermann schon tags zuvor (24.10.) im Deutschlandfunk der DDR ausgesprochen.
Für einen von Schabowski angesetzten öffentlichen Dialog am 29. Oktober in der Berliner Kongresshalle hat Konsistorialpräsident Manfred Stolpe dem Neuen Forum zugesagt, er werde an der Veranstaltung nur unter der Bedingung teilnehmen, dass auch Vertreter des Forums eingeladen werden.
12:00 Uhr: Ost-Berliner Polizei beschuldigt Demonstranten
Auf einer Pressekonferenz behauptet Polizeipräsident Friedhelm Rausch, dass die Demonstranten des 7. und 8. Oktober die Sicherheitskräfte provoziert haben. Zudem hätten sie die Absicht gehabt, zum Brandenburger Tor zu ziehen, um dort die Grenze zu durchbrechen.
11:00 Uhr: Krenz erklärt neues Reiserecht
Im Staatsratsgebäude empfängt Egon Krenz den Fraktionsvorsitzenden der FDP im Bundestag, Wolfgang Mischnick. Er informiert ihn über den Beschluss des Politbüros vom Vortag zum neuen Reiserecht. Mischnick nennt die Beseitigung der zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter "ein Symbol für den guten Willen der BRD-Seite". Er selbst halte nichts von der Stelle. Mischnick setzt sich zudem für die Anerkennung der Elbmitte als innerdeutsche Grenze ein.
10:00 Uhr: Stasi in Kampfbereitschaft
Stasi-Chef Erich Mielke weist eine erhöhte Kampfbereitschaft und das Tragen der Schusswaffe an.
24. Oktober: Die DDR ist pleite.
20:00 Uhr: "Elf99" überträgt Intellektuellendiskussion
Im Ost-Berliner "Haus der jungen Talente" (heute wieder Palais Podewils) in der Klosterstraße findet eine Podiumsdiskussion von Schriftstellern, Wissenschaftlern, Kulturpolitikern und Vertretern der Bürgerbewegung statt. Das erst im Sommer aus der Taufe gehobene DDR-Jugendfernsehen "Elf99" überträgt die Veranstaltung abends live in einer Sondersendung. ARD-Verantwortliche finden die Sendung so sensationell, dass sie kurzfristig am nächsten Tag ins Abendprogramm übernommen wird.
Der Schriftsteller Christoph Hein erklärt, er wünsche sich die DDR als ein sozialistisches Land, in dem die stalinistischen Strukturen endlich überwunden werden. Dazu müssten die Institutionen dringend geändert werden. Glaubwürdigkeit allein reiche ihm als Kriterium der Politik nicht. Für Bärbel Bohley vom Neuen Forum ist mit den Demonstrationen Hunderttausender, die in Leipzig "Wir sind das Volk" riefen, ein Traum in Erfüllung gegangen.
Der lange verfemte Autor Stefan Heym begründet, warum für ihn Glaubwürdigkeit das Wort des Tages bleibe. Nur "durch Taten und nicht durch Worte, und seien sie noch so rührend" ist sie zu erwerben. Das Verhalten vieler DDR-Bürger erinnere ihn jetzt an die Situation nach 1945. Wieder will es keiner gewesen sein.
Michael Brie und Dieter Segert, junge Philosophen von der Humboldt-Universität, schlagen den SED-Mitgliedern grundlegende Veränderungen der politischen Strukturen vor. "In einem modernen Sozialismus lässt sich die Führungsrolle einer Partei nicht mehr aufrechterhalten."
Zu Wort kommt auch Markus Wolf. Der ehemaliger Generaloberst der Stasi ist drei Jahre zuvor wegen politischer Kontroversen aus dem MfS ausgeschieden und hat das populäre und selbstkritische Buch "Die Troika" über seinen Bruder Konrad Wolf veröffentlicht. Wolf sagt, er wünsche sich Politiker, die ihr Gesicht nicht erst dann dem Volke zuwenden, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen.
Wolf gehörte zu jenen SED-Mitgliedern, die der KGB in den 1980er Jahren als Reformgruppe aufbauen wollte. Im Oktober 1986 heiratet er eine Frau, die zuvor vier Monate wegen versuchter Republikflucht in Stasi-Haft gesessen hatte. Als seine größte Niederlage bezeichnet der ehemalige Topspion der DDR später die Enttarnung des Agenten Günter Guillaume, die 1974 den Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) zur Folge hatte.
17:00 Uhr: Neues Forum soll seinen Einfluss verstärken
Jens Reich vom Neuen Forum entwickelt die Idee, durch „Infiltration“ des FDGB und durch Ausnutzung der Blockparteien CDU und LDPD den Einfluss der Bürgerinitiative zu verstärken.
16:30 Uhr: Berliner demonstrieren gegen Krenz
"Egon Krenz - keine Lizenz" ruft die Menge vor dem Palast der Republik. Im Gebäude wurde Krenz vor wenigen Stunden zum neuen Staatsoberhaupt gewählt. Etwa 12.000 Menschen protestieren nun vor den Türen der Volkskammer. Weitere Sprechchöre erklingen: "Wir sind keine Fans von Egon Krenz" und "Egon - Deine Wahl nicht zählt, Dich hat nicht das Volk gewählt." Eine Kette uniformierter Angehöriger des MfS sperrt das benachbarte Staatsratsgebäude ab - den neuen Amtssitz von Egon Krenz. Viele Demonstranten stellen dort Kerzen ab. In 20 weiteren Städten wird gegen Krenz demonstriert.
15:30 Uhr: Die DDR ist bankrot
Wer auch immer in dieser Situation die Macht im Lande übernimmt, wird sich dabei den Hals brechen, hat Egon Krenz schon vor Wochen einem Vertrauten zugeraunt. Wenige Stunden nach seiner Wahl zum Staatsratsvorsitzenden kann sich Krenz von der prophetischen Qualität seiner Aussage überzeugen. Die Erleichterung, die Honecker bei seiner Ablösung empfand, und die ungünstige Prognose, die Krenz für seine eigene Amtsdauer stellt, beruhen hauptsächlich auf der katastrophalen ökonomischen Situation der DDR.
Gerhard Schürer, ewiger Politbürokandidat für Wirtschaftsfragen, hat Krenz schon im Februar 1989 auf die verheerende ökonomische Lage der DDR hingewiesen und ihn aufgefordert, das Ruder zu übernehmen. Ende September unterbreitet eine von Schürer geleitete Kommission dem Ministerrat eine Analyse der verzweifelten wirtschaftlichen Lage. Danach ist die Zahlungsfähigkeit der DDR "weitestgehend von kapitalistischen Kreditgebern abhängig."
Bis 1995 müssten sich die Exporte auf ein Volumen von 24 Milliarden Valutamark verdoppeln, während die Importe bei 12,5 Milliarden DM eingefroren werden sollen. Selbst dann würde die Staatsverschuldung im selben Zeitraum - aufgrund der hohen Kosten für Zinsen - um ein weiteres Viertel des jetzigen Standes auf 52,6 Milliarden Mark anwachsen. Schürer warnt, eine Unterschreitung der geforderten Exportziele würde "unweigerlich die Zahlungsunfähigkeit bedeuten." Eine von Stoph unterzeichnete Analyse kommt zur selben Zeit auf das kuriose Ergebnis, der Gewinnplan sei "in allen Bereichen übererfüllt."
Auf der ersten von Krenz als Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender geleiteten Politbürositzung wiederholt Schürer seine ernüchternde Diagnose. Alexander Schalck-Golodkowski, Außenhandelsstaatssekretär und Leiter des Bereichs Kommerzielle Koordinierung, bestätigt die drohende Zahlungsunfähigkeit, die bei weiterer Untererfüllung beauftragter Exporte "bereits 1989" eintreten könne.
Die von Honecker und Mittag aufrechterhaltene Politik der "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" ist endgültig gescheitert. Der Subventionierung von Preisen und Tarifen des Grundbedarfs, des Wohnungsbaus und der Braunkohlenutzung stehen keine adäquaten Einnahmen zur Verfügung. Auch für Investitionen ist praktisch kein Geld mehr vorhanden. Andererseits werden auch Konsumgüter- und Zuliefererindustrien vernachlässigt. Die Folge sind ständige Preiserhöhungen, die einer Inflationsrate von zwölf Prozent entsprechen.
Die Ausgaben im Sozialbereich haben im Staatshaushalt eine gewaltige Finanzierungslücke gerissen. Sie jetzt mit radikalen Maßnahmen zu schließen, kann nur die Abkehr von allen Prinzipien des Sozialismus bedeuten. Mit anderen Worten: der Sozialismus in der DDR ist gescheitert, der Staat ist bankrott.
Das Politbüro beauftragt Schürer mit weiteren Untersuchungen. Der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission soll einer Arbeitsgruppe vorstehen, der auch Außenhandelsminister Gerhard Beil, Finanzminister Ernst Höfner, Schalck-Golodkowski sowie der Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, Arno Donda, angehören. Erste Ergebnisse werden zur Politbürositzung in einer Woche erwartet. Krenz hofft, durch einen schonungslosen Kassensturz zu Beginn seiner Amtszeit, die Hauptschuld am ökonomischen Desaster noch Honecker und Mittag zuweisen zu können.
14:00 Uhr: Politbüro erwägt neues Reiserecht
Das Politbüro berät eine Erweiterung der Reisemöglichkeiten. Der Entwurf eines Reisegesetzes sieht vor, jedem Bürger das Recht zu gewähren, einen Reisepass zu erwerben oder ein Visum zu beantragen. Demnächst sollen alle DDR-Bürger ohne Vorliegen verwandtschaftlicher Verhältnisse und anderer Gründe, „nach allen Staaten und nach Berlin (West)" reisen können. Dem Politbüro sollen Varianten für die Finanzierung der Reisen kurzfristig vorgelegt werden.
12:00 Uhr: Rumänische Kommunisten verweigern sich weiterhin Reformen
In Rumänien beginnt ein erweitertes ZK-Plenum der Kommunistischen Partei mit einer kämpferischen Rede Nicolae Ceaușescus. Der Diktator lässt sich immer wieder von Beifall und vorbereiteten Sprechchören unterbrechen. Der bizarre Personenkult in der Volksrepublik Rumänien lässt auf Reformen nicht hoffen.
10:00 Uhr: Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden gewählt
Am Morgen wählt das Parlament der DDR, die Volkskammer, Egon Krenz zum neuen Staatsratsvorsitzenden. Der Generalsekretär des ZK der SED übernimmt damit auch formal die Staatsspitze von seinem zurückgetretenen Vorgänger. Erich Honecker selbst nimmt aus gesundheitlichen Gründen an der Tagung nicht teil. Ungeachtet der landesweiten Proteste, die sich gegen die Ausstattung Krenz' mit der ganzen Machtfülle seines Vorgängers wenden, ernennt die Volkskammer das neue Staatsoberhaupt auch zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates. Die Wahl macht sämtliche Reformangebote der Partei erstmal unglaubwürdig, da sie trotz allgemeiner Kritik eisern am überholten Modell der Alleinherrschaft festhält.
Die Volkskammer erlebt während der Abstimmung ein Novum ihrer vierzigjährigen Geschichte. Erstmals wird der Staatschef nicht einstimmig gewählt. Volkskammerpräsident Horst Sindermann (74) ist mit der Situation sichtlich überfordert. Mit den Worten "Zähl mal mit hier!" wendet er sich an seinen Nachbarn und verspricht: "Ich werde das Ergebnis nicht verfälschen!" Nach mehreren Anläufen werden am Ende 26 Neinstimmen und 26 Enthaltungen erfasst. Für die Wahl zum Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates werden acht Gegenstimmen und 17 Enthaltungen gezählt. Die neue Praxis macht im Parlament ein verändertes Herangehen an die Auszählung notwendig.
Von der LDPD, die Gerlach favorisiert, kommen neun Gegenstimmen und zwölf Enthaltungen. Gerlach wurde zuvor von Krenz und Schabowski bedrängt, nicht selbst zu kandidieren. Eine Ämterteilung könnte als beginnende Gewaltenteilung verstanden werden und die Alleinherrschaft der SED in Frage stellen.
Krenz wurde 1937 in Kolberg geboren. 1974 übernimmt er die Leitung der FDJ. Dem SED-Politbüro gehört er seit 1983 an. Im Jahr darauf wird er einer der Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden Honecker. Der fördert Krenz seit Jahren. Im ZK ist Krenz für Sicherheitsfragen zuständig - auch für den Umgang mit Fluchtversuchen an der Mauer. Im Mai 1989 ist Krenz als Leiter der Wahlkommission für die massiven Fälschungen bei den Kommunalwahlen verantwortlich. Als er sich wenige Wochen später zustimmend zum Massaker auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking äußert, hat er in der Bevölkerung jeden Kredit verspielt.
09:00 Uhr: Neues Forum spricht sich für Manfred Gerlach aus
Das Neue Forum fordert die Abgeordneten der Volkskammer auf, "aus der unwürdigen Rolle einer Zustimmungsmaschine herauszutreten." Statt für Krenz zu stimmen, sollen sie der Bevölkerungsmeinung folgen und den LDPD-Vorsitzenden Manfred Gerlach zum Staatsratsvorsitzenden wählen. Es gebe schon entsprechende Unterschriftensammlungen. Die Funktion einem der Vorsitzenden der Blockparteien zu übertragen, würde den Reformansatz der SED glaubwürdiger erscheinen lassen.
Weite Teile der Bevölkerung sehen in Krenz einen Altkader, der "selbst mitschuldig an der entstandenen Situation" sei. Modrow und Schabowski erfahren mehr Zuspruch, da sie "klare Antworten" geben. Mediziner in Freiberg vergleichen Krenz mit der populären - weil immer scheiternden - Kinofigur Egon Olsen und seinem Spruch: "Ich habe einen Plan!" Demokratie Jetzt! sieht in Krenz' Wahl, dass die "Unterordnung des Staates unter die Politbürokratie der Partei" weiter fortgesetzt werde.
Aber es gibt auch andere Stimmen. Thomas Krüger, Mitbegründer der ostdeutschen Sozialdemokraten, nennt Krenz einen "Glücksfall für die Opposition." Ein Kandidat Modrow hätte durch eine ernsthafte Reformpolitik die erst im Aufbau befindliche Opposition "bald matt setzen" können.
08:00 Uhr: Christa Wolf macht sich Gedanken zur Ursache
In der in Millionenauflage erscheinenden Zeitschrift Wochenpost fragt die bekannte Autorin Christa Wolf nach den Ursachen der eruptiven Veränderungen in der DDR. Ihre Analyse geht dabei tiefer als die anderer Kommentatoren und versucht, die Natur der DDR-Bürger zu ergründen.
Wolf empfindet es als "Befreiung," als in Leipzig den Sprechchören "Wir wollen raus" ein anwachsender Chor "Wir bleiben hier" entgegenschallt und jemand zu ihr sagt: "Wir müssen die DDR retten." Zunächst, meint Wolf, müsse das "Dogma von den Siegern der Geschichte" fallen, mit dem eine kleine Gruppe von Antifaschisten ihre Machtübernahme begründet und es aus pragmatischen Gründen auf die ganze Bevölkerung übertragen habe.
Als "Sieger der Geschichte" hätten sich die Mitläufer, Verführten und Gläubigen der Zeit des Nationalsozialismus nicht mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandersetzen müssen. Diese erste Generation von DDR-Bürgern sei durch ihr "untergründig schlechtes Gewissen" unfähig gewesen, "sich den stalinistischen Strukturen und Denkweisen zu widersetzen." Die Kinder dieser Generation seien "entmündigt, häufig in ihrer Würde verletzt" und letztlich "wenig geübt, sich in Konflikten zu behaupten."
Derart "selbstunsicher" erzogen, konnten diese wiederum ihren Kindern "nicht genug Rückhalt geben." Abgesehen vom "Drang nach guten Zensuren" hätten sie der dritten Generation von DDR-Bürgern, die jetzt zu Zehntausenden das Land verlässt, keine Werte vermittelt, "an denen sie sich hätten orientieren können."
23. Oktober: In Leipzig demonstrieren 300.000 Menschen.
19:30 Uhr: Hager distanziert sich von Honecker
In der Abendausgabe der Aktuellen Kamera spricht sich der Chefideologe der SED, Politbüromitglied und ZK-Sekretär Kurt Hager, für die Wahl Egon Krenz' in der Volkskammer aus. Als Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates könne Krenz "die Wende sichern."
Hager äußert sich auch zur angekündigten neuen Reiseverordnung. Mit dieser werde jeder Bürger einen Pass erwerben und behalten können. Wann die Regelung, nach der "alle reisen dürfen", in Kraft tritt, kann Hager aber nicht sagen.
Vom früheren Parteichef Honecker distanziert sich Hager erstmals öffentlich. Trotz aller Verdienste seien in Honeckers Herrschaft Elemente von Personenkult vorhanden gewesen.
Hager gehört nur zu den Ersten einer ganzen Reihe früherer Funktionsträger, die in den kommenden Wochen den Gestürzten die Schuld am Versagen des Systems geben, um von ihrer eigenen Mitverantwortung für dessen Bestand abzulenken. Im Volk werden diese sich neu orientierenden Politiker "Wendehälse" genannt.
19:00 Uhr: In Leipzig demonstrieren 300.000 Menschen
An der größten Protestkundgebung in der Geschichte der DDR nehmen in Leipzig etwa 300.000 Menschen aus dem ganzen Land teil. Damit hat sich die Zahl der Demonstranten - wie schon an den vergangenen Montagen im Vergleich zur jeweiligen Vorwoche - nahezu verdoppelt. Die Stadt, in der Ende der 1980er Jahre etwa 550.000 Menschen leben, platzt aus allen Nähten. Im DDR-Fernsehen berichten erstmals Reporter live vom Geschehen. Der sechsspurige Ring um die Altstadt könne "die Menge nicht mehr fassen. Der Verkehr ist völlig zum Erliegen gekommen." Der gesamte Innenstadtring ist vollständig von Demonstranten besetzt. Mannschaftswagen oder Einsatzgruppen sind heute nicht zu sehen. Stattdessen patrouillieren zwei Volkspolizisten am Rande des Geschehens.
Am Vorabend der Volkskammersitzung, auf der Egon Krenz auch formal an die Staatsspitze gewählt werden soll, sprechen die Bürger lauthals ihren Unmut aus. "Zuviel Macht in einer Hand ist nicht gut für unser Land!" rufen sie und "Egon, wer hat uns gefragt?" Deutlich mehr Transparent als bei den früheren Demonstrationen sind zu sehen. Sie verlangen unter anderem "Visafrei bis Hawai", "Sinnvoller Zivildienst" und "Die führende Rolle dem Volk." In Sprechchören werden freie Wahlen, das Ende der SED-Herrschaft und eine Dezentralisierung der Macht gefordert. Allmählich stellt die SED-Bezirksleitung fest, dass der von ihr angebotene und propagierte Dialog nicht zum Ende der Demonstrationen führt.
Auch in zahlreichen anderen Städten und Gemeinden, wie Magdeburg, , Stralsund oder Halle, gehen Tausende auf die Straßen. In Bautzen bietet Bürgermeister Heinz Wagner vor hunderten Demonstranten dem Neuen Forum Gespräche an. In Zwickau singen etwa 1.100 Demonstranten die "Internationale" und fordern die Wahl des LDPD-Vorsitzenden Manfred Gerlach zum Staatsratsvorsitzenden.
Im Martin-Luther-King-Haus der evangelischen Kirchengemeinde Hoyerswerda-Neustadt findet seit heute eine Jugendwoche unter dem Thema "Ich habe einen Traum" statt. Die Teilnehmer interessieren sich vor allem für die Themen Umweltschutz, Wahlrecht, demokratischen Parteienvielfalt und Reisefreiheit. Vor allem Jugendliche demonstrieren am Abend für die gleichen Themen in Aue. Die MfS-Kreisdienststelle vor Ort leitet "operative Maßnahmen zur Identifizierung der Rädelsführer und Initiatoren" ein.
18:30 Uhr: Mehr Kandidaten für die Wahl des Staatsratsvorsitzenden gefordert
Vor der Gethsemanekirche in Ost-Berlin fordern Bürgerrechtler, die Wahl zum Staatsratsvorsitzenden solange aufzuschieben, bis freie Wahlen eine neue Volkskammer dazu legitimiert haben. Etwa 2.000 Demonstranten ziehen anschließend zum Gebäude des Staatsrates. Auf ihrem Weg, vorbei an den Häuserzeilen, rufen sie: "Schließt Euch an, Fernseher aus - kommt heraus." Der Zug ist bunt gemischt. Punks und Bürger in Schlips und Kragen laufen Seite an Seite mit "Friedensfreaks."
Vor dem Staatsratsgebäude wird eine weitere Petition verschiedener Bürgerinitiativen verlesen, die für das Amt des Staatsoberhauptes zumindest mehrere Kandidaten und eine geheime Abstimmung fordern. Anschließend übergeben sie das Schreiben Abgeordneten der Volkskammer. Im Parlament der DDR ist für den nächsten Tag die Wahl des Staatsratsvorsitzenden angesetzt. Bislang einziger Kandidat ist der Generalsekretär des ZK der SED, Egon Krenz. Vor dem Palast der Republik brennen die ganze Nacht über Kerzen.
18:00 Uhr: Modrow will den Dialog ausweiten
Nach den außerordentlichen Tagungen der Stadtverordnetenversammlung und des Bezirkstages von Dresden sollen nun auch in den anderen Städten des Bezirks 500 bis 600 Ausschüsse geschaffen werden. Sie sollen den Dialog zwischen Bürgern, Vertretern des Staates, Parteien und Kirchen fortsetzen und ausweiten.
Von seiner bisherigen Linie der Eindämmung von öffentlichen Gesprächsrunden und Demonstrationen muss der der SED-Bezirkssekretär von Dresden damit abweichen. Hans Modrow, der inzwischen Vielen in Land und Partei als "Hoffnungsträger" gilt, wird dieser Rolle am Abend einmal mehr gerecht, als er gemeinsam mit dem Oberbürgermeister von Dresden, Wolfgang Berghofer, vor Zehntausenden Demonstranten spricht. Die haben sich vor der Semperoper zum Protest eingefunden. Modrow sagt ihnen die weitere Ausweitung des Dialogs zu.
17:00 Uhr: SED kapert Montagsdemo in Schwerin
Die Bezirksleitung der SED in Schwerin mobilisiert die eigene Basis und übernimmt die Führung einer vom Neuen Forum organisierten Montagsdemo. Diese hatte sich eigentlich gegen die für Dienstag (24.10.) geplante Mehrfachwahl von Egon Krenz richten sollen. Linientreue Genossen ergreifen bei der öffentlichen Debatte Besitz von den Mikrofonen und wandeln die Protestdemo in eine Kundgebung zugunsten der von Krenz ausgerufenen "Wende" um.
Die 40.000 anwesenden Bürger erleben einen ständigen Wechsel völlig konträrer Standpunkte. Dem Neuen Forum soll gar die Redeerlaubnis entzogen werden. Pfiffe und Klatschen wechseln sich ab, die Menge ist gespalten. Schließlich ziehen Zehntausende durch die Stadt und versammeln sich in den Kirchen.
Währenddessen hat das SED-Politbüro die 1. Sekretäre der Bezirks- und Kreisleitungen beauftragt, im Sinne eines differenzierten Umgangs zwischen einfachen "Andersdenkenden" und "Feinden des Sozialismus" zu unterscheiden. Auf keinen Fall dürfe der Dialog zur Anerkennung des Neuen Forums und anderer Sammlungsbewegungen führen. Demonstrationen im Freien seien prinzipiell zu untersagen. Weiterhin ist Zurückhaltung in der Anwendung von Gewalt und bei Festnahmen geboten.
Zur gleichen Zeit stellt Egon Krenz den SED-Mitgliedern der Volkskammer seine Idee von der "Wende" vor: "Unsere führende Rolle müssen wir besser wahrnehmen, aber wir sind nicht bereit, sie abzugeben."
16:00 Uhr: Leipziger Nikolaikirche wieder überfüllt
Wie jeden Montag finden sich Tausende zur Friedensandacht in der Leipziger Nikolaikirche ein. Bereits am frühen Nachmittag ist die Kirche überfüllt, der Platz davor fast nicht mehr zugänglich. In der Woche nach dem Honeckerrücktritt werden nochmals deutlich mehr Demonstranten als in den Vorwochen erwartet. Wie Petra Lux, Sprecherin des Neuen Forums, erklärt, haben viele Menschen "jetzt die Angst verloren."
Die kommende Montagsdemo sei in der ganzen Stadt Gesprächsthema Nummer eins. Dabei haben weder die oppositionellen Gruppen und noch die Kirche zur Demonstration aufgerufen. Nach den letzten Ereignissen stehe für Viele fest, am Montag in die Innenstadt zu ziehen. Das traditionelle Friedensgebet findet heute in sechs Kirchen statt.
15:00 Uhr: Momper will volles Stimmrecht für Berlin im Bund
West-Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper drängt auf volle politische Mitwirkung in der Bundespolitik. Der frisch gewählte Bundesratspräsident will für die 22 Berliner Bundestagsabgeordneten und Repräsentanten im Bundesrat das auf Grund alliierter Rechtsvorbehalte fehlende volle Stimmrecht.
Ohne eine Vereinbarung mit den vier Besatzungsmächten ist dies kaum möglich. Das beschränkte Stimmrecht fußt auf dem Viermächteabkommen und gehört zum Status Berlins. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag, Ronneburger, verweist in der Diskussion auf die Ost-Berliner Abgeordneten der Volkskammer, die entgegen den Vereinbarungen des Viermächteabkommens direkt gewählt sind.
14:00 Uhr: DDR-Sozialdemokrat in Bonn
Mit Steffen Reiche nimmt erstmals ein Gründungsmitglied der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP) in Bonn an einer Sitzung des SPD-Präsidiums und des Bundestagsfraktionsvorstandes teil. Reiches Antrag auf Reise in die BRD ist - obwohl seine oppositionelle Haltung der Stasi bekannt ist - auch für ihn selbst überraschend genehmigt worden. In Bonn wird er vom SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel als erster Vertreter "einer sozialdemokratischen Partei aus der heutigen DDR seit 43 Jahren" begrüßt. Vogel sichert den ostdeutschen Sozialdemokraten die Solidarität und Unterstützung der SPD zu.
13:00 Uhr: Demokratisches Forum in Ungarn wird Partei
Derweil hat sich die größte oppositionelle Sammelbewegung, das Demokratische Forum (MDF), auf einer dreitägigen Konferenz ein Parteiprogramm gegeben. Künftig wird das MDF als Partei in demokratischer Konkurrenz zu den noch herrschenden Sozialisten stehen. Gemeinsam haben sie am "runden Tisch" die Einparteiendiktatur beseitigt. Nun soll der für die Demokratisierung notwendige Mehrparteienstaat Wirklichkeit werden. Das MDF erklärt sich aber angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage - Ungarn ist bankrott - bereit, weiterhin mit den Sozialisten zusammenzuarbeiten.
12:00 Uhr: Republik Ungarn ausgerufen
Abgesehen von Polen verläuft der Wandel nirgendwo im Ostblock so schnell wie in Ungarn. Im Spätsommer wurde hier der Eiserne Vorhang gelüftet. Am 9. Oktober haben sich die kommunistische Partei aufgelöst als sozialdemokratische Partei neu gegründet. Und nun wird in Ungarn am Jahrestag des Beginns des Volksaufstandes von 1956 die Republik ausgerufen.
Unter dem Jubel Hunderttausender tritt Parlamentspräsident Mátyás Szűrös auf den Balkon des Parlamentsgebäudes. Mit den Worten "dies ist der Auftakt zu einer neuen historischen Ära" verkündigt Szűrös Ungarn als unabhängigen demokratischen Rechtsstaat, in dem "die Werte der bürgerlichen Demokratien und des demokratischen Sozialismus" zur Geltung kommen. Szűrös setzt die vor einer Woche vom Parlament beschlossene demokratische Interimsverfassung in Kraft. Damit hört Ungarn auf, eine kommunistische Volkrepublik zu sein. Szűrös übernimmt mit diesem Akt provisorisch bis zur Wahl eines Staatspräsidenten auch das Amt des Staatsoberhauptes.
Die Ausrufung der Republik Ungarn vom Balkon des Parlamentsgebäudes hat starken symbolischen Charakter. An diesem Ort hatte 33 Jahre zuvor der später hingerichtete, aber vor einigen Monaten rehabilitierte Ministerpräsident Imre Nagy das Signal für die Volkserhebung gegeben. Tausende waren bei der Niederschlagung des Volksaufstandes durch sowjetische Truppen ums Leben gekommen. Hunderte wurden später hingerichtet.
Zur Ausrufung der Republik Ungarn läuten im ganzen Land die Kirchenglocken. Das Fernsehen überträgt die Proklamation live. Vor dem Parlament singen die Menschen anschließend die Nationalhymne. Viele haben Tränen in den Augen.
11:00 Uhr: Künstler fordern Abschaffung der Zensur
In Ost-Berlin schlagen Mitglieder des Komitees für Unterhaltungskunst die Abschaffung der Zensur und absolute Offenheit vor. Zahlreiche Mitglieder der Akademie der Künste wenden sich an Volkskammerpräsident Horst Sindermann mit der Forderung, einen unabhängigen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung von Gewaltakten gegen die Bevölkerung einzusetzen. Währenddessen sucht DDR-Bauminister Wolfgang Junker das Gespräch mit Bauarbeitern in Leipzig.
10:00 Uhr: Polizeieinsätze sollen untersucht werden
Vertreter von Bürgerinitiativen und oppositionellen Gruppen, darunter das Neue Forum, übergeben in der evangelischen Kirchengemeinde am Berliner Fennpfuhl eine hundertseitige Dokumentation mit Erlebnis- und Tatsachenberichten zu den Polizeieinsätzen am 7. und 8. Oktober. Klaus Voß, der 1. Vize-Generalstaatsanwalt von Berlin, verspricht, alle Anzeigen, Sachverhalte und Eingaben "unvoreingenommen und umfassend" zu prüfen.
Die Gedächtnisprotokolle, die das Stadtjugendpfarramt zusammengestellt hat, werden in den innenpolitischen Auseinandersetzungen der kommenden Wochen eine zentrale Rolle spielen. Der Konsistorialpräsident der evangelischen Kirche, Manfred Stolpe, erklärt, es benötige "Mut zur Wahrheit, auch wenn sie schmerzt."
Auch der evangelische Landesbischof von Sachsen, Johannes Hempel, verlangt eine Entschuldigung der Regierung für die zentral gesteuerte Brutalität der Sicherheitskräfte. Die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens fordert zudem einstimmig das Ende der SED-Alleinherrschaft, freie Wahlen, Parteienvielfalt, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung.
09:00 Uhr: Bohley fordert Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft
In einem Interview mit der DKP-Zeitung UZ - Unsere Zeit spricht sich die Mitinitiatorin des Neuen Forums, Bärbel Bohley, für eine direkte Kontaktaufnahme der Staats- und Parteiführung mit der Opposition in der DDR aus. Diese sei zum Dialog bereit. Zwar gebe es in der Bevölkerung eine gewisse Ungeduld die Reformen betreffend. Diese könne die SED aber nur mit vertrauensbildenden Maßnahmen zügeln.
Die Anerkennung der Opposition als gleichberechtigte Partner sei dafür ebenso notwendig wie die Klärung der Reisefrage. Dafür müsse aber auch die Bundesregierung ihre Weigerung aufgeben, die DDR-Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Es ist das erstemal, dass die Zeitung der westdeutschen Kommunisten einem Mitglied der DDR-Opposition ein Forum gibt.
07:00 Uhr: Europäische Sorgen vor einer Wiedervereinigung
Auch wenn in diesen Tagen alle Welt noch Osteuropa blickt und mit Staunen die rasanten Veränderungen in Polen, Ungarn und vor allem in Ostdeutschland registriert, mischen sich in die allgemeine Begeisterung auch zunehmend kritische Töne. Die Planspiele einiger bundesdeutscher Politiker stoßen auf Ablehnung. Schon am 10. Oktober hat der französische Außenminister Roland Dumas in einem Interview eine Wiedervereinigung Deutschlands zum jetzigen Zeitpunkt als "verfrüht" bezeichnet. Die Teilung Deutschlands ergebe sich "aus internationalen Verträgen."
Ein Kommentar der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera widmet sich heute einer im Westen vermeintlich "unumstößliche(n) Tatsache." Danach stehe der Prozess der europäischen Integration "im Widerspruch zur Aussicht einer Konföderation der beiden Deutschlands, ganz zu schweigen von einer Wiedervereinigung."
Auch der Regierende Bürgermeister von West-Berlin Walter Momper bekräftigt in der FAZ seine Ablehnung einer Wiedervereinigung. Statt einen „neuen Nationalstaat der Deutschen im Herzen Europas“ sei eher eine europäische Friedensordnung anzustreben, in der friedensvertragliche Regelungen über Deutschland getroffen werden. Im Übrigen wünsche auch in der DDR-Opposition „kein Mensch“ die Wiedervereinigung. Dort such man viel eher einen „dritten Weg“ denn eine Kopie der Bundesrepublik.
06:00 Uhr: Christa Wolf mahnt selbstkritische Analyse an
In einem in der FDJ-Zeitung Junge Welt veröffentlichten Brief verteidigt die bekannte Schriftstellerin Christa Wolf den mit Berufsverbot belegten Rechtsanwalt Rolf Henrich. In seinem nur in der BRD veröffentlichten Buch "Der vormundschaftliche Staat" hatte Henrich den Staatsbürokratismus und den Mangel an Meinungsfreiheit in der DDR kritisiert. Dafür ist er von der Jungen Welt heftig attackiert worden.
Wolf prangert in ihrem offenen Brief den "Ton der Demagogie an, der sich bei uns von einer Journalistengeneration auf die nächste zu vererben scheint." Die inzwischen wieder hofierte Autorin ruft das Jahrzehnt in Erinnerung, "als auch ihr Blatt meinen Namen nicht zu erwähnen wagte." Die Junge Welt solle sich lieber einer ehrlichen, selbstkritischen "Analyse der Gründe für die Vertrauenskrise" widmen, die dazu geführt hat, dass 50.000 zumeist junge Bürger innerhalb weniger Wochen die DDR verlassen haben - "darunter gewiß viele ehemalige Leser ihrer Zeitung."
Christa Wolf gehört spätestens seit ihrem 1963 veröffentlichten Roman "Der geteilte Himmel" zu den in Ost und West meist beachteten Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Auf dem als "Kahlschlagplenum" berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED 1965 hatte sie sich als Einzige gegen die neue restriktive Kulturpolitik der DDR ausgesprochen. Danach sah sie sich für einige Jahre verstärkt der Kritik der Partei ausgesetzt.
22. Oktober: Opposition kritisiert "Scheinreformen."
20:00 Uhr: Opposition kritisiert "Scheinreformen"
Im Kohlenkeller der Zionskirch-Gemeinde in Ost-Berlin planen und drucken die Mitarbeiter der Umweltbibliothek die fünfte Ausgabe der Untergrundzeitung telegraph. Sehr kritisch setzen sich die Autoren darin mit den jüngsten Entwicklungen auseinander. Dem Versprechen einer "Wende" durch führende SED-Politiker und der neuen, "angeordneten Offenheit" der DDR-Medien gegenüber bleibt man sehr misstrauisch.
Die Bürgerrechtler vermuten dahinter - nicht zu Unrecht - eine einlullende Beschwichtigungstaktik, die kleine Zugeständnisse hier, ein wenig Demut da, aber sonst nichts konkretes anbietet. Wahlbetrug, Grenzschließungen und die Gewaltexzesse der Sicherheitsorgane werden rhetorisch übergangen, eine Neuregelung des Reiserechts dagegen nur angekündigt. Immer noch gebe es laufende Ermittlungsverfahren gegen Oppositionelle, Urteile blieben in Kraft. Oppositionellen Gruppen wie dem Neuen Forum bleibe die offizielle Anerkennung weiterhin verwehrt.
Doch die Staatsführung erzeuge mit ihren "Scheinreformen" und der "Volksberuhigung" einen ständig steigenden "Druck nach wirklich greifbaren Veränderungen." Die SED könne sich nur noch "für scheibchenweises Abtreten" entscheiden oder die inzwischen gewachsene - und von ihr öffentlich und scheinheilig gelobte - Zivilcourage durch polizeistaatliche Methoden brechen.
19:30 Uhr: Einige Flüchtlinge wollen doch zurück
Das DDR-Fernsehen berichtet aus Bonn, dass über 50 DDR-Flüchtlinge wieder zurückwollen. In Röntgental bei Ost-Berlin sind Rückkehrer einquartiert.
18:00 Uhr: Herbe Verluste für die CDU in Baden-Württemberg
Bei den Kommunalwahlen in ihrem Stammland Baden-Württemberg muss die seit langem regierende CDU schwere Verluste einstecken. Die Opposition führt dies auf ein fehlendes Wohnungsbauprogramm zurück. Die CDU spricht von einer Protestwahl. Vor allem das Abschneiden der rechtsradikalen Republikaner sorgt für Aufregung. Die Republikaner, die im Südwesten erstmals in größerem Umfang antraten, können zum Teil zweistellige Erlebnisse erzielen. Sie ziehen aus dem Stand in zahlreiche Rathäuser wie in Stuttgart, Mannheim und Freiburg ein.
Überall dort, wo die Republikaner antraten, gehen ihre Gewinne in erster Linie auf Kosten der CDU. SPD, Grüne und FDP konnten im Wesentlichen ihren Stimmenanteil halten. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Erwin Teufel warnt, man dürfe auf keinen Fall "einer feindseligen Stimmung gegen Ausländer und Neidgefühlen gegen Aus- und Übersiedlern nachgeben."
Für den Bundesvorsitzenden der Republikaner Schönhuber zeigt der Wahlerfolg dagegen, dass sich die Republikaner in der Bundesrepublik als drittstärkste Partei etablieren würden und seine Partei mit mindestens zehn Prozent im nächsten Bundestag vertreten sein werde.
16:00 Uhr: Charta 77 fordert demokratische Reformen in der CSSR
Wenige Tage vor dem Jahrestag der Gründung der ersten tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1918, bekräftigt der Sprecher der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung Charta 77 in einem ARD-Interview die Forderung nach demokratischen Reformen in der CSSR. Notwendig seien "freie Wahlen ohne die führende Rolle irgendeiner Partei."
Die Charta 77 fordert frei Medien, freie Presse und Kultur. Zwar werde jetzt auch in der Tschechoslowakei viel über Demokratie, Perestroika und Dialogbereitschaft gesprochen. Doch habe es noch nie so viele politische Häftlinge und polizeiliche Brutalität auf den Straßen, noch nie so viel gerichtliche und außergerichtliche Repression gegeben wie jetzt.
Die kommunistische Diktatur in der Tschechoslowakei gilt als besonders konservativ. Der in Wien lebende tschechoslowakische Dramatiker Pavel Kohout begründet den Betonkommunismus in seiner ehemaligen Heimat mit der Niederschlagung der Reformpolitik der CSSR durch die Truppen des Warschauer Pakts im Jahr 1968. Nach dem Ende des Prager Frühlings wurden alle Reformkräfte aus der Öffentlichkeit und von ihren Ämtern entfernt.
Etwa 500.000 Menschen in der CSSR dürfen bis heute nicht in ihren früheren Berufen arbeiten, unter ihnen zahlreiche Künstler und Intellektuelle. Der bekannteste Dissident des Landes, der Dramatiker Vaclav Havel, ist seit Jahren mit einem Aufführungs- und Publikationsverbot belegt und saß seit 1977 insgesamt fünf Jahre im Gefängnis.
14:00 Uhr: Vereinigte Linke möchte Volkseigentum beibehalten
Die Oppositionsgruppe "Vereinigte Linke" kündigt für November ein zweitägiges Treffen in Berlin an. Dort will sie ihr Konzept erstmals der Öffentlichkeit vorstellen. In einem Positionspapier erklärt sie, in Opposition zum SED-Staat nicht aber zur Idee des Sozialismus zu stehen. Das Volkseigentum der Produktionsmittel steht für die "Vereinigte Linke" nicht zur Disposition. Allerdings müsste dies über Arbeiterräte in direktes Eigentum der Werktätigen umgewandelt werden.
Im Unterschied zu den Sozialdemokraten (SDP) und zum Demokratischen Aufbruch - die eine kontrollierte Marktwirtschaft und eine parlamentarische Demokratie befürworten - strebt die "Vereinigte Linke" darüber hinaus eine Alternative zum parteienzentrierten Parlamentarismus an.
Die "Vereinigte Linke" wurde von Mitarbeitern der Ost-Berliner Umweltbibliothek, der "Kirche von unten," des Friedrichsfelder Friedenskreises und vieler Studenten initiiert.
13:00 Uhr: Ungewöhnlich warmes Wochenende
In Berlin ist dieser Sonntag mit seinen 21,8 in Dahlem gemessenen Grad der zweitwärmste Tag seit Beginn der regelmäßigen Messungen im Jahr 1908. Zu dieser Jahreszeit war es nur an einem Tag - dem 26. Oktober 1949 - exakt einen Grad wärmer. Die Berliner stürzen ins Grüne, der Zoo hat 10.000 Besucher. Viele Spaziergänger findet man im Grunewald, um den Schlachtensee und in den S-Bahnen zum Wannsee. Noch wärmer ist es allerdings in Karlsruhe, das heute einen sensationellen Spitzenwert von 26,7 Grad meldet.
12:00 Uhr: Aufruhr im Zuchthaus Bautzen
Im Zuchthaus Bautzen führt ein Aufruf gegen Gewalt und für Menschenrechte zu Krawallen.
11:00 Uhr: Sowjetische Zeitung übt scharfe Kritik an Honecker und DDR-Medien
Mit der sowjetischen Gewerkschaftszeitung „Trud", dem mit 19 Millionen Exemplaren auflagenstärksten Blatt der UdSSR, übt erstmals eine sowjetische Zeitung scharfe Kritik an der DDR und dem abgelösten Staats- und Parteichef Honecker. Während sich die Probleme in der DDR aufhäuften, hätten sich die Medien des Landes "mit einer undurchdringlichen Mauer von den Realitäten des Lebens" getrennt. Um Honecker sei ein Personenkult getrieben worden.
Vor allem junge DDR-Bürger würden nun als Konsequenz in Massen das Land verlassen. Sie würden nicht vor Armut weggelaufen, da die DDR einen höheren Lebensstandard als die meisten anderen Länder im sozialistischen Block habe. Mangelnde Perspektive und fehlende Reformen seien die Gründe. Immerhin habe jetzt mit Egon Krenz ein Mann die Nachfolge angetreten, der zu einer offenen, ehrlichen und manchmal unkomplizierten Diskussion bereit sei.
10:00 Uhr: US-Präsident lehnt liberales Abtreibungsrecht ab
George Bush legt sein Veto gegen ein vom Kongreß verabschiedetes Gesetz ein. Danach hätten Bundesmittel für Abtreibungen bedürftiger Frauen bereitgestellt werden müssen, die in Folge von Vergewaltigungen oder Inzest schwanger wurden. Der Präsident hält die Bereitstellung von Steuergeldern für Abtreibungen für nicht angemessen, so lange das Leben der Mutter durch die Austragung der Schwangerschaft nicht gefährdet sei.
Das Veto kann nur mit einer Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern des Kongresses überstimmt werden.
09:00 Uhr: Dialog am Karl-Marx-Platz
Am Morgen nehmen im Leipziger Gewandhaus 500 Bürger an einer breiten, öffentlichen Diskussions-Veranstaltung unter dem Vorsitz von Kurt Masur teil. Eingeladen haben jene sechs Personen, die am 9. Oktober mit ihrem Aufruf zur Gewaltlosigkeit zum Gelingen einer friedlichen Montagsdemonstration beigetragen haben. Masur sagt als Einleitung der Aussprache: "Was wir hier lösen können, kann für die ganze Republik richtungweisend sein." Der "Modellfall Leipzig" könne als beispielhafte Verhaltensweise wirksam werden und so den Reformbestrebungen in der DDR zum entscheidenden Durchbruch verhelfen.
Die mehrstündige Debatte dreht sich um die Umgestaltung der politischen Verhältnisse, eine Reform des Bildungswesens, um Ökologie und Stadtentwicklung. In Kommissionen sollen darüber alle Interessierten beraten, um später konkrete Beschlussempfehlungen abzugeben. Es wird beschlossen, sich künftig jeden Sonntag zum "Dialog am Karl-Marx-Platz" zu treffen.
21. Oktober: Schabowski stellt sich den Demonstranten.
20:00 Uhr: Schabowski stellt sich den Demonstranten
Zahlreiche Menschen demonstrieren an diesem Wochenende in der gesamten DDR. In Plauen demonstrieren 35.000 Bürger für freie Wahlen, Reise- und Meinungsfreiheit und die sofortige Demokratisierung der Gesellschaft. Es ist die größte Kundgebung in der 85.000 Einwohner zählenden Stadt. Die erste Demonstration in Plauen, an der sich am 7. Oktober 10.000 Menschen beteiligt hatten, war von den Sicherheitskräften noch brutal auseinander getrieben worden.
In Berlin fordern Demonstranten weiterhin die republikweite Freilassung der bei den Protesten Inhaftierten und die Einstellung der Verfahren gegen gewaltlose Demonstranten. Sie bilden eine einen Kilometer lange Menschenkette, die vom Palast der Republik bis zum Polizeipräsidium in der Keibelstraße reicht. Vor der Volkskammer - die im Kleinen Saal im Palast der Republik tagt - stellen sich SED-Politbüromitglied Günter Schabowski und der Ost-Berliner Oberbürgermeister Erhard Krack den Demonstranten zur Diskussion. Es geht um Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit und Formen des angestrebten Dialogs.
Schabowski spricht sich nochmals dafür aus, "politische Konflikte nur mit politischen Mitteln" zu lösen. Der durchaus ehrbare Versuch Schabowskis und Kracks kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die hier praktizierte Form des direkten Dialogs mit den Menschen auf der Straße nicht mehr genügt, die seit Jahren aufgestauten Probleme abzuhandeln. Zuviel ist in den letzten Tagen und Wochen geschehen, um den gewaltigen Reformdruck aus dem Volk noch beschwichtigend eindämmen zu können.
19:30 Uhr: Aktuelle Kamera weist "infame Behauptung" des Westfernsehens zurück.
Mit einem scharfen Kommentar reagiert die Hauptnachrichtensendung des DDR-Fernsehens auf einen ZDF-Bericht über die Misshandlung von festgenommenen Frauen. Das DDR-Innenministerium hatte den Bericht unter Protest zurückgewiesen. Die Aktuelle Kamera unterstellt dem ZDF-Korrespondenten, "nicht den Schatten eines Beweises" vorgelegt zu haben. Diese Art der Berichterstattung ziele nur darauf ab, Menschen gegeneinander aufzuhetzen und "einen sachlichen, konstruktiven Dialog" zu erschweren, wenn nicht gar unmöglich zu machen.
Das ZDF kann allerdings in einer Nachrecherche die Stichhaltigkeit der Vorwürfe nachweisen. Das Innenministerium zieht den Protest wenige Tage später ohne offizielles Dementi zurück.
18:00 Uhr: Fussball-WM im Kino?
Der italienische Filmproduzent Alfredo Bini plant die Live-Ausstrahlung aller Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft 1990 in Italien in ausgewählten Kinosälen. All jenen Fans, die nicht ins Stadion gehen können oder wollen, verspricht Bini für die Übertragungen eine Atmosphäre, wie man sie zwar im Stadion, nicht aber zu Hause vor dem Bildschirm erleben könne. Insgesamt 48 Kinos in Italien sollen an dem Projekt beteiligt werden. Gegen die Pläne protestiert allerdings Italiens Staatsfernsehen RAI. Für viel Geld hat es sich die Übertragungsrechte der WM für den italienischen Markt gesichert. Dass ein Anderer auf seine Kosten Kasse macht, will RAI unbedingt verhindern.
17:30 Uhr: DDR-Flüchtlinge glauben nicht an Reformen
In Nickelsdorf an der ungarischen Grenze und andernorts reißt der Flüchtlingsstrom aus der DDR nicht ab. An diesem Wochenende fliehen etwa 2.650 Menschen über Ungarn und Österreich in die BRD. Wie Umfragen in den Übersiedlerheimen zeigen, glaubt keiner der Flüchtlinge an Reformen durch die SED. Deshalb denkt auch niemand na eine Rückkehr.
In der Botschaft der Bundesrepublik in Warschau suchen weitere DDR-Bürger Zuflucht. Obgleich die Botschaft seit Wochenbeginn die Ausreise der Flüchtlinge über Flugzeuge nach Düsseldorf organisiert, ist die Zahl der Zufluchtsuchenden erneut auf 1.800 gestiegen. Etwa 140 Bürger, die in die bundesdeutsche Botschaft in Prag geflohen sind, werden von den zuständigen DDR-Behörden mit Ausreisepapieren versorgt.
Das MfS im Bezirk Dresden registriert gerade unter den jungen Leuten ein grundsätzliches Misstrauen in die SED-Spitze. "In diesem Staat ändert sich sowieso nichts mehr, wir sehen hier keine Zukunft."
16:00 Uhr: Kohl spricht gegen ein Deutschland in den Grenzen von 1937
Bei einer Gedenkstunde zum 40-jährigen Bestehen des Bundes der Vertriebenen bestätigt Bundeskanzler Kohl den Verzicht auf alle Gebietsansprüche. Die deutsch-polnische Aussöhnung sei ein „Auftrag von europäischer Dimension“, der sich nur mit der deutsch-französischen Aussöhnung vergleichen lasse. BdV-Präsident Czaja warnt vor der Preisgabe von Gebieten. Für die Gebietsabtretung und die Unterstellung der ostdeutschen Heimat unter fremde Souveränität gebe es kein völkerrechtlich wirksames Dokument.
15:30 Uhr: Gespräche in Halle
In Halle finden Gespräche zwischen der Opposition und Oberbürgermeister Eckhard Pratsch (SED) statt. Währenddessen wird an der Georgenkirche eine Klagewand angebracht. Vorbeifahrende Autofahrer bekunden ihre Solidarität mit einem Hupkonzert.
15:00 Uhr: Liberaldemokraten bieten dem Neuen Forum Zusammenarbeit an
Die Blockpartei LDPD fordert die SED auf, nicht nur mit einzelnen Mitgliedern des Neuen Forums zu reden, sondern die Bürgerinitiative auch offiziell anzuerkennen. Die Liberaldemokraten erklären sich bereit, Mitglieder des Neuen Forums aufzunehmen und "auf eigenen Listen kandidieren zu lassen." Das Neue Forum dankt öffentlich für die Unterstützung, bekräftigt aber die Eigenständigkeit. Manche Mitglieder vermuten auch einen unangemessenen Vereinnahmungsversuch der LDPD. Die Blockpartei versuche jetzt, sich selbst als Opposition zur SED zu profilieren.
14:30 Uhr: Sowjetische Wirtschaft schrumpft
Die Moskauer Nachrichtenagentur TASS meldet eine negative Wirtschaftsbilanz für das laufende Jahr. Abgesehen von der Getreideernte, die sich innerhalb eines Jahres erheblich erhöht hat, wird gesamtwirtschaftlich eine Rückentwicklung verzeichnet. Galoppierende Lohnerhöhungen, Streiks sowie die an vielen Orten in der UdSSR auftretenden Nationalitätenkonflikte belasten die Wirtschaft der Sowjetunion schwer. Der Mangel an Lebensmitteln und Grundkonsumgütern führt zu erheblicher Missstimmung im Volk.
14:00 Uhr: Jaruzelski fordert Umwandlung der KP nach dem Vorbild Ungarns
Die kommunistischen Partei Polens, die mit den ersten freien Wahlen im Sommer nach 45 Jahren aus der unumschränkten Macht verdrängt wurde, soll sich nach Ansicht des polnischen Staatspräsidenten Wojciech Jaruzelski in eine sozialistische oder sozialdemokratische Partei umwandeln. Dabei könne man von den Erfahrungen anderer kommunistischer Parteien in den Bruderstaaten lernen. Die Ungarn hätten diesen „vorteilhaften Weg in die Mitte“ gefunden. Er scheine auch für Polen eine „fruchtbare Lösung“ zu versprechen.
General Jaruzelski hatte als polnischer Ministerpräsident und Generalsekretär der Kommunisten im Dezember 1981 das Kriegsrecht über Polen verhängt, um den wachsenden Einfluss der freien Gewerkschaft Solidarność zu brechen - wohl aber auch, um eine drohende sowjetische Invasion zu verhindern. Aufgrund des Kompromisses mit der Opposition, der am 4. Juni 1989 zu den ersten freien Wahlen in Polen führte, blieb Jaruzelski während der Wende polnischer Staatspräsident.
Lesen Sie hier noch einmal, wie in Polen im Frühjahr und Sommer 1989 die entscheidenden Weichen für die Friedliche Revolution im Ostblock gestellt wurden.
13:00 Uhr: Neues Forum will mit Schabowski sprechen
IM "Andreas" berichtet von einem Treffen des Neuen Forums am Vorabend in der Ost-Berliner Husemannstraße. Dort habe Reinhard Schult über zahlreiche Demonstrationsaufrufe berichtet. Für den 4. November haben Künstler zu einer großen Demo in Berlin aufgerufen. Gregor Gysi, der sich als Anwalt für die Zulassung des Neuen Forums einsetzt, erwartet, dass sie auf den 19. November verschoben wird. Die Lage sei aber so unübersichtlich, dass dennoch für den 4. November eine Große Kundgebung in Berlin erwartet wird.
Jens Reich soll am Montag (23.10.) Kontakt mit dem Berliner SED-Chef Günter Schabowski aufnehmen. Das Neue Forum plant, die Leitung der Demonstration am 4. November zu übernehmen. Man wolle 10:00 Uhr vor dem Gebäude des DDR-Nachrichtendienstes ADN in der Mollstraße beginnen und dann durch den Prenzlauer Berg und Friedrichshain zum Leninplatz (heute Platz der Vereinten Nationen) marschieren. Dort solle Schult für die Abschlussveranstaltung noch einige Bands organisieren. Die Route berühre keine sicherheitsrelevanten Einrichtungen und biete im Falle gewaltsamen Einschreitens der Staatsführung genügend Fluchtmöglichkeiten.
12:00 Uhr: Krenz will von sowjetischen Reformern lernen
Egon Krenz hat eine Einladung von Sowjetchef Gorbatschow angenommen. Im Gespräch mit sowjetischen Kommunisten, will er sich über deren Erfahrungen bei der Umgestaltung ihres Landes informieren. Dies sei auch für die Zukunft der DDR bedeutsam.
11:00 Uhr: Stasi observiert weiter
Stasi-Chef Mielke drückt auf einer Dienstbesprechung des erweiterten Führungskreises des MfS seinen Unmut über die Linie der Partei aus. Politische Probleme mit politischen Mitteln zu lösen, verstoße gegen seine tschekistische Grundüberzeugung. Die Partei reagiere nach Mielkes Auffassung nicht so auf die "antisozialistischen Sammlungsbewegungen", wie es "diese Kräfte eigentlich verdienen."
Dennoch schließt Mielke jede eigenständige Politik des MfS an der Partei vorbei kategorisch aus. "Alle Maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit, jeder Diensteinheit, haben sich in die Generallinie, in die Beschlüsse des Zentralkomitees und seines Politbüros einzuordnen." Gewalt dürfe nur bei unmittelbarer Gefahr für Personen, Objekten und Sachen angewendet werden. Für den weiteren Umgang mit den die oppositionellen Bewegungen kündigt Mielke zentrale Entscheidungen in den nächsten Tagen an. Bis dahin sollen möglichst viele Informelle Mitarbeiter (IM) in den oppositionellen Gruppen „so Fuß fassen, dass wir die Kontrolle über sie behalten.“ Die IM sollen Einfluss auf der Vorgehen der Gruppierungen erlangen.
Die Leipziger SED-Leitung schlägt vor, dass Neue Forum „als Massenorganisation zuzulassen.“ Genossen sollten dann Mitglieder des Forums werden und so den Einfluss der Partei sichern. Weiterhin werden die Sympathisanten und Aktivisten der regimekritischen Organisationen zu tausenden vom MfS erfasst.
08:00 Uhr: Flucht in den Westen
Ein 28 Jahre alter DDR-Bürger flieht über die Grenzsperranlagen nach Niedersachsen. Der Mann erreicht unverletzt das Bundesgebiet.
Anlässlich des Jubiläums „25 Jahre Mauerfall“ werden 50 Volunteers (Freiwillige/Ehrenamtliche) gesucht, die Lust haben, am Freitag und Samstag, den 07. und 08. November 2014 Berlinern und Berlinbesuchern von ihrer persönlichen Mauergeschichte zu erzählen bzw. über das Berlin von „Damals und heute“ zu berichten. Die Aktion findet zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor sowie an der East Side Gallery statt. Der zeitliche Aufwand beträgt ca. 3-4 Std./Tag.
Interessenten melden sich bitte mit einer kurze Info per Mail bei j.weide@betterday.tv oder telefonisch bei Jens Weide unter 0171 2888 211.
20. Oktober: DDR-Regierung bietet Flüchtlingen die Rückkehr an.
20:00 Uhr Demonstrationen
In Gotha demonstrieren 6.000 Bürgerinnen und Bürger. In Dresden ziehen gar 20.000 Menschen durch die Innenstadt und fordern freie Wahlen. 2.000 Personen bilden um die Kreuzkirche eine Lichterkette. Im sächsischen Bischofswerda versammeln sich in der Christuskirche 400 Teilnehmer zu einer Informationsveranstaltung des Neuen Forums. In Karl-Marx-Stadt beteiligen sich bis zu 5.000 Menschen an einem Demonstrationszug auf dem immer wieder Neuwahlen, Demokratie und eine freie Presse gefordert wird. In Plauen gehen wieder 15.000 Menschen auf die Straße.
17:00 Uhr: Momper will sich schnell mit Krenz treffen
Ungeachtet seiner skeptischen Haltung zur Reformfähigkeit des neuen Generalsekretärs des ZK der SED, sendet Walter Momper, Berlins Regierender Bürgermeister, Egon Krenz "die besten Wünsche" zu seiner Wahl. Momper fordert von Krenz die Anerkennung der Reformgruppen, die von der SPD als die organisierte Opposition in der DDR angesehen wird. Er schlägt Gespräche nach dem Vorbild des "runden Tischs" in Polen vor. Einer Auseinandersetzung über den Machtanspruch der SED könne sich Krenz nicht entziehen.
Momper unterbreitet Krenz ein Gesprächsangebot und sagt die Unterstützung des Reformprozesses in der DDR zu. Man solle sich möglichst bald treffen. Von Bonn erwartet er eine großzügige finanzielle Unterstützung einer schon bald möglichen völligen Reisefreiheit der DDR-Bürger. Man könne "nicht Freizügigkeit fordern [...] ohne sie auch in der Praxis nachhaltig zu unterstützen."
16:00 Uhr: Mischnick trifft Modrow
Der Fraktionsvorsitzende der FDP im Bundestag Wolfgang Mischnick ist gebürtiger Dresdner. 1948 flieht er in den Westen und ist von 1961-1963 Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Nach dem Rücktritt Honeckers trifft sich Mischnick als erster Bundespolitiker in Dresden mit dem "Hoffnungsträger" der SED, Hans Modrow. Beide sprechen sich für die Entwicklung von Kontakten zwischen den Parlamenten beider deutscher Staaten aus.
Mischnick lernt Modrow als einen sehr nüchtern denkenden und weit vorausschauenden Mann kennen, der schon vor den jüngsten Ereignissen ein offenes Ohr für die Nöte der DDR-Bürger gehabt habe. Modrow bestätigt in einem Vieraugengespräch mit Mischnick, mit einer Stärkung der Volkskammer und der regionalen Parlamente eine stärkere Mitbestimmung der Bürger erreichen zu wollen. Dem Gerede von einem Deutschland in den Grenzen von 1937 erteilen beide Politiker eine Abfuhr. Mischnick kommt auch mit Vertretern der liberalen bisherigen Blockpartei LDPD zusammen.
15:00 Uhr: Freie Wahlen gefordert
Eines der Hauptthemen der nächsten Wochen und Monate kommt allmählich auf die Agenda. Erst die Durchführung freier Wahlen wird eine Regierung ermöglichen, die eine glaubhafte Reformpolitik umsetzen kann. Bis vor kurzem undenkbar, wird nun der Führungsanspruch der SED in Frage gestellt. Im Interview mit dem West-Berliner Radiosender 100,6 erklärt der Oberkirchenrat von Eisenach Martin Kirchner die "wahrheitsgemäße" Durchführung der nächsten Wahlen auf der Grundlage des vorhandenen Wahlgesetzes, sei nicht mehr denkbar.
In der verbleibenden Zeit bis zu den nächsten Wahlen 1991 müssten ein neues Wahlgesetz und ein neues Parteiengesetz für die DDR geschaffen werden. Die Wahlergebnisverzerrende Zusammenfassung der Parteien im "Demokratischen Block der Nationalen Front" müsse aufgegeben werden.
14:30 Uhr: Republikaner versuchen Flüchtlinge anzuwerben
Wie der Tagesspiegel berichtet, haben Republikaner versucht ostdeutsche Übersiedler anzuwerben. Die in Charlottenburg Nord in einer Turnhalle am Halemweg untergebrachten etwa 150 Flüchtlinge sind von einem Mitarbeiter des Kreisverbandes der Republikaner aufgesucht worden. Dieser habe sogleich versucht hat, sie gegen ausländische Asylbewerber aufzuhetzen. Für diese würde der von der Alternativen Liste kontrollierte Senat Hotels, Pensionen und Containerwohnungen anmieten, während die DDR-Flüchtlinge zu hunderten in einer Turnhalle zusammengepfercht würden.
Während sich die meisten Flüchtlinge über den rechtsradikalen Besuch verärgert zeigen, fallen die fremdenfeindlichen Parolen bei einigen Übersiedlern auf fruchtbaren Boden. Angesichts der bedrängten Situation in den Notquartieren warnen Experten vor "latent vorhandener" Ausländerfeindlichkeit bei den Übersiedlern.
14:00 Uhr: Ungarn bekommt demokratisches Wahlrecht
Erwartungsgemäß verabschiedet das ungarische Parlament ein neues Wahlgesetz. Es sieht für das Parlament ein gemischtes Verhältniswahlrecht wie in der Bundesrepublik vor - eine Kombination von Wahlkreissitzen und Landeslisten. Für die Wahl des Staatspräsidenten sind maximal zwei Wahlgänge vorgesehen. Sollte kein Kandidat die Hälfte der Stimmen auf sich vereinen oder haben nur ein Drittel der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben, gibt es einen zweiten Wahlgang, an dem alle Kandidaten teilnehmen, die im ersten Wahlgang mindestens 15 Prozent der Stimmen erlangt haben. In diesem zweiten Wahlgang genügt dem Sieger dann die relative Mehrheit der Stimmen.
Das Parlament beschließt zudem die totale Auflösung der umstrittenen Betriebskampfgruppen der ehemaligen kommunistischen Partei. Die Kommunisten haben sich auf einem Parteitag am 9. Oktober 1989 in die neue Ungarische Sozialistische Partei umgewandelt und vertreten seither einen pragmatischen, sich an der Sozialdemokratie orientierenden Kurs. Die sowjetische Intervention, die 1956 den ungarischen Volksaufstand niederschlug, wird von der Regierung in Budapest offiziell verurteilt.
13.00 Uhr: Rostocker Stadtrat zum Dialog bereit
Der Stadtrat von Rostock gibt bekannt, über "Parteienpluralismus und Bürgermitbestimmung" diskutieren zu wollen. Kein Aspekt der aktuellen innenpolitischen Krise soll dabei ausgeklammert werden. Man werde über Stadtentwicklung und Umweltschutz reden und sich mit dem Warenangebot und Versorgungsfragen beschäftigen. Auch die Medien- und Informationspolitik solle beraten werden.
12:30 Uhr: Prawda-Chefredakteur abgesetzt
Wie am Morgen bekannt wird, ist der langjährige Chefredakteur der sowjetischen Parteizeitung Prawda abgesetzt worden. Viktor Afanassjew, der 1976 auf dem Höhepunkt der Breschnew-Ära an die Redaktionsspitze berufen wurde und im selben Jahr in das ZK der KPdSU aufrückte, gilt als Dogmatiker, unter dem die Prawda zumeist die Positionen der Traditionalisten gegenüber Gorbatschows Reformen vertreten hat. Mit der Ablösung bringt Gorbatschow das Organ, dessen Auflage rückläufig ist, auf seine Linie. Neuer Chefredakteur wird ein persönlicher Vertrauter Gorbatschows, der Philosoph Iwan Timofejewitsch Frolow. Andere Publikationen, die Radikalreformer wie Boris Jelzin unterstützen, werden dagegen von Gorbatschow öffentlich kritisiert.
12:00 Uhr: Sputnik darf wieder erscheinen
DDR-Postminister Rudolf Schulze gibt bekannt, dass die beliebte sowjetische Monatszeitschrift Sputnik wieder in den Handel geht. Vor einem Jahr, am 25. November 1988, war der Sputnik mit der Begründung verboten worden, er leiste keinen Beitrag zur deutsch-sowjetischen Freundschaft. Stattdessen erschienen dort "verzerrende Beiträge zur Geschichte." Damit waren wohl vor allem kritische Berichte zur Aufarbeitung der Stalin-Ära gemeint.
Die DDR-Bürger interpretierten das Verbot des Sputnik folgerichtig als Beleg für die Abkehr der SED-Führung von der Politik Michail Gorbatschows. Schon zuvor hatte die bis Mittwoch (18.10.) von Joachim Herrmann geleitete Abteilung Agitation des ZK der SED den DDR-Medien ein striktes Verbot erteilt, die Begriffe "Glasnost" und "Perestroika" zu verwenden. Das Wiedererscheinen des Sputnik soll nun ein deutliches Zeichen setzen. Die Regierung der DDR will damit ihre Bereitschaft zu Reformen unterstreichen.
11:30 Uhr: Kritik an AstA
Der Präsident der Freien Universität Berlin hebt ein Grußschreiben des AstA zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR im Rahmen seiner Rechtaufsicht auf. Darin hatte sich der AstA der FU von dem Versuch "westlicher Medien" distanziert, die BRD als demokratischen Staat "zu legitimieren und von der eigenen imperialistischen Politik gegenüber den Verfolgten" aus der Dritten Welt abzulenken. FU-Präsident Dieter Heckelmann zeigt sich von der Grußbotschaft äußerst betroffen. Der AstA habe ein ihm nicht zustehendes allgemeinpolitisches Mandat wahrgenommen.
Hans Kremendahl, Staatssekretär in der West-Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung übt wiederum Kritik an Heckelmann. Zwar sei man sich über die "inhaltliche Bewertung dieser unsäglichen Grußbotschaft" sicherlich einig, aber in einem freiheitlichen Rechtsstaat bestehe auch die Freiheit, "Schwachsinn zu verbreiten." Außerdem habe es in der Diskussion innerhalb des AstA im Anschluss an die Botschaft durchaus differenzierte Positionen über den Sinn solcher Aktionen gegeben.
11:00 Uhr: Polizei bestreitet Übergriffe
Die Polizei in Ost-Berlin bestreitet die gewalttätigen Übergriffe bei den Demonstrationen am 7. und 8. Oktober. In der Georgenkirche in Halle wird die Mahnwache für die politisch Inhaftierten fortgesetzt. Die Dresdner Kreuzkirche kündigt für den Abend eine Fürbittandacht an.
10:00 Uhr: Flüchtlinge dürfen zurückkehren
Der Sprecher des Außenministeriums der DDR Wolfgang Meyer erklärt, die Regierung biete jedem Bürger die Rückkehr an, der das Land verlassen hat. "Soweit nicht triftige Gründe entgegenstehen" werde sie allen "im Rahmen des Möglichen dabei behilflich sein," die in die DDR zurückkehren wollen. Bürger, die noch an Ausreise denken, ruft Meyer auf, keine Entschlüsse zu fassen und Handlungen zu begehen, die sie später möglicherweise bereuen würden. Damit erlaubt die Regierung erstmals jenen die Rückkehr, die dem Land den Rücken gekehrt haben.
Währenddessen wird Oberst Gerhard Lauter, der Leiter des Pass- und Meldewesens des Innenministeriums, damit beauftragt, ein Reisegesetz auszuarbeiten. Gesetzesänderungen soll auch der Justizminister vornehmen und dazu schnellstmöglich einen Plan für die kommenden Jahre vorlegen. Im Zentralorgan der SED, Neues Deutschland, wird derweil auf vier Seiten die politische Wende verkündet: Dialog statt Konfrontation.
19. Oktober: Massenflucht kostet DDR Milliarden.
21:00 Uhr Gottesdienste und Demonstrationen
Auch nach dem Wechsel an der Ost-Berliner Führungsspitze gehen die Menschen auf die Straße. In Zittau nehmen an einem Gottesdienst und einer anschließenden Demonstration 20.000 Menschen teil. Der Rat der Stadt genehmigt kurzfristig die Übertragung mit Lautsprechern aus der Johanniskirche, vor der sich Tausende versammelt haben. Im thüringischen Zeulenroda ziehen fast 3.000 Demonstranten durch die Straßen. Vor der Kreisdienststelle des MfS werden Kerzen aufgestellt. Sprechchöre fordern "Stasi in die Volkswirtschaft" und "Schließt Euch an." Auch zu den neuesten Entwicklungen haben die Menschen ein Meinung. Neben "Gorbi, Gorbi", "Mehr Demokratie" und "Visa frei für Tschechei" rufen sie auch "Wir sind keine Fans von Egon Krenz."
In der Stadtkirche von Rudolstadt lassen sich 3.000 Bürger über Ziele und Inhalte oppositioneller Gruppen informieren. An einer ähnlichen Veranstaltung im katholischen Gemeindezentrum von Gera nehmen etwa 1.000 Bürger teil. In der Stadtkirche von Neustadt an der Orla findet ein Friedensgebet statt. Vor den 500 Teilnehmern protestiert Superintendent Sparsbrot gegen den Völkermord in Tibet durch China. Während der Diskussion über die Erklärung des Politbüros vom 11. Oktober kommt die Forderung auf, die SED solle sich für ihre "Fehler, Vergehen und Verbrechen" öffentlich verantworten. In der Hoffnungskirche in Berlin Pankow beten die Menschen für die Freilassung politisch Inhaftierter.
20:00 Uhr: Dialog im Fernsehen
Im DDR-Fernsehen wird eine Diskussion von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten übertragen. Alle gehen davon aus, dass die vom Ministerrat in Aussicht gestellte Reiseregelung zu einem Pass für jeden Bürger und der uneingeschränkten Möglichkeit des Reisens führen wird. Großen Ärger zieht Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler auf sich. Er behauptet, Hindernisse für die Reisefreiheit habe bisher ausschließlich die Bundesregierung errichtet.
17:00 Uhr: Schauspieler werden Sprachrohr der Opposition
Das Ensemble des Staatsschauspiels in Dresden verliest nach jeder Vorstellung eine Erklärung mit demokratischen Forderungen.
16:00 Uhr: Oppositionelle in Halle festgenommen
In Halle werden Vertreter des "Neuen Forums" in Polizeigewahrsam genommen. Ihnen wird die weitere Kontaktaufnahme mit Leipziger Oppositionellen untersagt.
15:00 Uhr: Intellektuellen-Verbände suchen den Dialog
Das Präsidium des Verbandes Bildender Künstler erklärt, allein ein grundsätzlicher und kontroverser Dialog aller gesellschaftlichen Kräfte biete die Möglichkeit einer schonungslosen Analyse der Situation. Man bekundet Unverständnis darüber, dass die Staats- und Parteiführung die Probleme der letzten Jahre „nicht wahrhaben wollte und öffentlich nicht darauf reagiert hat.“
Auch der Verband der Journalisten fordert seine Mitglieder auf, überholte Denk- und Arbeitsschemata zu überwinden. Der Verband der Film- und Fernsehschaffenden will verloren gegangenes Vertrauen durch neue Medienarbeit zurückgewinnen. Die Bevölkerung nimmt den Gesinnungswandel der geistigen Stützen der Diktatur mit Verwunderung zur Kenntnis. Hatten die systemnahen Intellektuellen-Verbände doch bislang eher Krenz und das Politbüro unterstützt als die Forderungen der Demonstranten.
12:00 Uhr: Krenz geht auf die Menschen zu
Der neue Generalsekretär der SED sucht medienwirksam das Gespräch. Am Vormittag besucht Egon Krenz eine Maschinenfabrik in Ost-Berlin und diskutiert "in neuer Offenheit" mit den Arbeitern. Für den Nachmittag ist ein Treffen mit Vertretern der Kirche angesetzt.
10:00 Uhr: Modrow bringt sich ins Spiel
Seit einigen Tagen wird der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Hans Modrow, von verschiedenen Seiten als kommender Mann gehandelt. Modrow hat das Image eines moderaten Apparatschiks. Seit Mitte der 1980er Jahre bemüht sich der sowjetische Geheimdienst KGB um den Aufbau einer reformfreudigeren Gruppe innerhalb der SED, da den Traditionalisten wie Stoph und Mielke keine Perestroika wie in der Sowjetunion zugetraut wird. Auch Krenz wird von Moskau eher skeptisch beurteilt.
Dass Modrow ein ostdeutscher Gorbatschow ist, glaubt zwar auch niemand. Da er aber nicht Mitglied des verkrusteten Politbüros ist, gilt er vielen als "unverbraucht." In der schwierigen Dresdner Provinz leitet er die Partei. Dort fanden die ersten Gespräche zwischen der Obrigkeit und Vertretern der Opposition statt. Krenz' Antrittsrede im ZK am 18. Oktober wird von Modrow eine "schwache Wirkung" attestiert. Ihr fehle "ein neues, nun erforderliches Auftreten" und das politische "Niveau für eine rasche Wende." Schritte von "grundlegender Bedeutung" könnten so kaum entstehen.
Modrow fordert, den Dialog mit allen Kräften in der DDR zu führen. Bei dem tiefen Wandel und der umfassenden Erneuerung, den die politische Lage erfordere, "sollten auch in der Sowjetunion gemachte Erfahrungen genutzt werden." Dialog heiße nicht nur Meinungsstreit. Es müssten auch Entscheidungen gefunden werden.
06:30 Uhr: Flüchtlinge kosten den Staat Milliarden
Die FDJ-Zeitung Junge Welt rechnet derweil vor, was die Massenflucht die DDR kostet. Der Nationalökonom Prof. Peter Thal geht von einem Nationaleinkommen von 268,4 Milliarden Mark und gegenwärtig 8,6 Millionen Werktätigen aus. Allein 10.000 Flüchtlinge bedeuten für den Arbeiter- und Bauernstaat einen Verlust von 0,12 Prozent des Nationaleinkommens. Das sind 330 Millionen Mark.
Da vor allem junge Leute abwandern, verliert die DDR auf die noch vor ihnen liegenden Arbeitsjahre berechnet rund 10 Milliarden Mark pro zehntausend Ausreisende. Seit Beginn der Sommerferien im Juli haben zehntausende DDR-Bürger über Ungarn oder die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau das Land verlassen.
06:00 Uhr: Honeckerrücktritt wird im ND nur kurz erwähnt
Im zentralen Presseorgan der SED, dem Neuen Deutschland, wird dem Rücktritt Erich Honeckers nur ein kleiner Artikel gewidmet. Die Lebensleistung des ehemaligen Generalsekretärs wird knapp gewürdigt. Ansonsten widmet sich das Blatt dem neuen Parteichef Egon Krenz und seiner Rede im Politbüro.
18. Oktober: Egon Krenz spricht von einer "Wende."
24:00 Uhr: telegraph kritisiert Führungswechsel
In der eilig produzierten vierten Ausgabe ihres Flugblattes telegraph üben die Bürgerrechtler der Ost-Berliner Umweltbibliothek scharfe Kritik am Führungswechsel der SED. Zwar sei Honecker zurückgetreten, doch habe die Umbesetzung keinen Mann an die Spitze gebracht, der eventuell der Bevölkerung eine gewisse Hoffnung auf Reformen gegeben hätte.
Statt Hans Modrow, der von verschiedenen Seiten als solcher gehandelten wird, hat das ZK einen Politiker an die Spitze gesetzt, dessen Beliebtheit wahrscheinlich noch unter dem des bisherigen Generalsekretärs liege. Krenz sei als Hardliner bekannt und solle nun die gesamte Machtfülle seines Vorgängers erben.
21:30 Uhr: Bundesbürger glauben nicht an Verbesserungen für die Landsleute im Osten
Einer Blitzumfrage des ZDF-Politbarometers geht nur ein Drittel der Befragten davon aus, dass sich durch die Ablösung Erich Honeckers die Situation der Menschen in der DDR entscheidend verbessern wird. Mehr als die Hälfte der Bürger (55 Prozent) bleibt skeptisch und glaubt, die Situation werde im Großen und Ganzen unverändert bleiben.
20:00 Uhr: Krenz spricht von einer „Wende“
Im Anschluss an die Aktuelle Kamera wendet sich Egon Krenz an das gespannte Fernsehpublikum. Der neue Generalsekretär gibt den verständnisvollen Reformer. Er räumt ein, die Partei habe „in den vergangenen Monaten die gesellschaftlichen Entwicklungen in unserem Lande in ihrem Wesen nicht real genug eingeschätzt und nicht rechtzeitig die richtigen Schlussfolgerungen gezogen.“
Die Ausreise von hunderttausend meist jungen DDR-Bürgern empfinde die SED als schmerzhaften „Aderlass.“ Man könne „die Tränen vieler Mütter und Väter nachempfinden.“ Krenz spricht von einem „ernstgemeinten politischen Dialog“ und von seiner „festen Überzeugung“, dass „alle Probleme in unserer Gesellschaft politisch lösbar sind.“
Mit dieser Vorgabe schränkt Krenz die Tätigkeit des Sicherheitsapparates ein und hemmt die Anwendung offener Repressionen. Alle Maßnahmen dürfen freilich nicht „den Sozialismus auf deutschem Boden“ zur Disposition stellen. Immerhin enthält die wenig charismatische Ansprache den nachhaltigsten Beitrag, den Krenz zur Entwicklung im Herbst 1989 beisteuert. Er prägt den Begriff von der „Wende“, der noch lange für die Ereignisse jener Wochen am geläufigsten ist.
19:30 Uhr: Aktuelle Kamera in neuer Aufmachung
Kurz und schnörkellos wird die Absetzung Honeckers bekannt gemacht. Ein persönlich gehaltenes Interview mit dem neuen Ersten Mann im Staat dauert keine zwei Minuten. Auf die Aufzählung der umständlich langen Titel vor dem Namen wird in Zukunft verzichtet. Vom bisherigen Langweiler entwickelt sich das Hauptnachrichtenmagazin des DDR-Fernsehens in den kommenden Wochen zur meistgesehenen Sendung.
19:00 Uhr: Gorbatschow gratuliert Krenz
Als erster ausländischer Regierungschef übermittelt der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow seine Glückwünsche. Er gehe davon aus, dass Krenz "den Erfordernissen der Zeit Rechnung tragen" und "der DDR entsprechende Lösungen" finden werde. Gorbatschow wünscht Krenz "aufrichtig Erfolg." Skeptisch zeigt sich dagegen US-Präsident George Bush. "Weil Herr Krenz sehr stark mit der Politik Honeckers übereinstimmte," glaube er nicht, dass die neue DDR-Führung entscheidende Änderungen herbeiführen werde.
Bush erklärt aber die Bereitschaft der USA, "engere und konstruktivere Beziehungen zu entwickeln." Frankreichs Staatspräsident Francois Mitterand sieht in Honeckers angeschlagener Gesundheit nicht den einzigen Grund für den Rücktritt. Vielmehr sei er Element einer dynamischen Entwicklung in Osteuropa, die zeige, dass ein Wandel notwendig sei.
17:Uhr: ÖTV fordert Beschäftigung von mehr Türken in Kreuzberg
Das Kreuzberger Bezirksamt sollte nach Ansicht der Gewerkschaft ÖTV mehr türkisch Angestellte in der Familienfürsorge, dem Ge sundheitsamt und als Sozialarbeiter beschäftigen. Nur so sei eine bessere Betreuung der vielen Ausländer im Bezirk möglich, heißt es in einer Pressekonferenz. Außerdem fordert die ÖTV für die Ausländer nicht nur das kommunale, sondern auch das Wahlrecht zum Abgeordnetenhaus.
16:30 Uhr: Honecker Rücktritt wird bekannt
Die Nachricht schlägt ein wie eine Bombe. Auch wenn schon seit längerem erwartet, ist der Honeckersturz die sensationelle Meldung des Tages. Mit verhaltenem Interesse wird auch die Ernennung von Egon Krenz zum Generalsekretär zur Kenntnis genommen. In der Bevölkerung der DDR gilt Krenz schon seit langem als aussichtsreichster Kronprinz. Große Hoffnungen werden deshalb mit seinem Namen nicht verbunden. Flüchtlinge in einer Notunterkunft in Berlin Charlottenburg halten die Wahl von Krenz gar für das "Schlimmste, das passieren konnte."
Im Westfernsehen äußern sich Bärbel Bohley vom Neuen Forum und Rainer Eppelmann vom Demokratischen Aufbruch eher skeptisch. Bohley klagt im Telefoninterview mit dem Tagesspiegel, Krenz sei bislang nicht als Vertreter einer Reformpolitik in Erscheinung getreten. Vielmehr sei er für die Wahlfälschungen und die Sicherheitskräfte in der DDR verantwortlich. Dass Krenz alle drei Ämter Honeckers übernehme, zeige zudem, dass die SED nicht an die Teilung der Macht denke.
Ulrike Poppe von Demokratie Jetzt! empfindet die Rochade im Politbüro als absurdes Schauspiel. Keiner der Bürgerrechtler setzt ernsthaft auf Krenz' angedeutete Reformbereitschaft. In einer
ersten Stellungnahme erklärt Bundeskanzler Helmut Kohl, er erwarte von Krenz jetzt längst fällige Reformen.
16:00 Uhr: Krenz hält Antrittsrede
Der neue Generalsekretär fordert in seiner Antrittsrede, „die politische und ideologische Offensive wiederzuerlangen.“ Man werde an der Macht festhalten und „sie von den Kräften der Vergangenheit nicht antasten lassen.“ Für den Wunsch der Bevölkerung nach Dialog gebe es „genügend demokratische Foren.“ Die BRD fordert Krenz auf, sich nicht länger einzumischen.
Krenz verspricht die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs über Reisen von DDR-Bürgern ins Ausland vorzubereiten, der zügig der Volkskammer zur Beratung und zum Beschluss vorgelegt werden soll. Die zeitweiligen Einschränkungen des Reiseverkehrs ins sozialistische Ausland könnten in diesem Zusammenhang aufgehoben oder modifiziert werden. Voraussetzung für die Gewährung von Reisen in den Westen bleibe aber die Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR und der Verzicht auf die Obhutspflicht für alle Deutschen durch die Bonner Regierung.
15:30 Uhr: Auch Honecker-Vertraute müssen gehen
Als nächstes müssen auch die engsten Honecker-Vertrauten Günther Mittag, zuständiger ZK-Sekretär für Wirtschaft, und Joachim Herrmann, Chefagitator der SED, das Politbüro verlassen. Wie Stoph auf Nachfrage erklärt, sind sie „ihren Anforderungen nicht gerecht“ geworden.
15:20 Uhr: Krenz wird neuer Generalsekretär
Egon Krenz wird einstimmig und ohne Diskussion zum neuen Generalsekretär gewählt.
15:00 Uhr: Honecker packt seine Sachen
In seinem Büro packt der ehemalige Generalsekretär noch restliche Unterlagen und verlässt dann den Ort seiner größten Demütigung.
14:45 Uhr: Honecker wird aus dem Saal komplimentiert
Im Namen Honeckers bittet Stoph um Verständnis, dass der Ex-Staats- und Parteichef aufgrund seines „angegriffenen Gesundheitszustandes“ der Sitzung nicht länger beiwohnen könne. Nachdem Stoph noch einige dürre Worte zu Honeckers politischem Lebenswerk gefunden hat, verlässt dieser, den Tränen nahe, unter stürmischem und lang anhaltendem Applaus den Saal. Den vor dem Sitzungssaal wartenden ostdeutschen Journalisten sagt Honecker nach einem kurzen Moment des Schweigens: „Na dann, Auf Wiedersehen!“
14:30 Uhr: Abstimmung im ZK
Nach kurzem, schnell verebbendem Beifall für die Erklärung Honeckers wird sie durch Versammlungsleiter Willy Stoph ohne Diskussion zur Abstimmung gestellt. Der Vorlage wird fast einhellig entsprochen. Lediglich Hanna Wolf, die ehemalige Direktorin der Parteihochschule Karl Marx stimmt gegen Honeckers „Entbindung.“
Hören Sie hier eine Originalaufnahme der Rücktrittserklärung von Erich Honecker im ZK der SED am 18. Oktober 1989.
14:05 Uhr: Honecker tritt zurück
Mit brüchiger Stimme verkündet Honecker: „Nach reiflichem Überlegen und im Ergebnis der gestrigen Beratungen im Politbüro“ sei er „zu folgendem Entschluss gekommen: Infolge meiner Erkrankung und nach überstandener Operation erlaubt mir mein Gesundheitszustand nicht mehr den Einsatz an Kraft und Energie, den die Geschicke der Partei und des Volkes heute und künftig verlangen.“
Er bitte deshalb die Anwesenden, ihn „von den Funktionen des Generalsekretärs des ZK der SED“ zu entbinden. Auch von seinen Ämtern als Staatsratsvorsitzender und als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates tritt der bis gestern mächtigste Mann der DDR zurück. Bisher hält sich Honecker wörtlich an einen von Schabowski entworfenen Text. Dann weicht er davon ab. Statt allgemein einen Genossen vorzuschlagen, der fähig und entschlossen sei, seine Nachfolge anzutreten und die konkrete Entscheidung dem Politbüro zu überlassen, bringt Honecker den Namen Egon Krenz ins Spiel.
14:00 Uhr: Willy Stoph eröffnet das Plenum
Willy Stoph eröffnet das Plenum und kündigt eine „Personalentscheidung“ des Generalsekretärs an.
13:55 Uhr: Honecker betritt den Raum
Der Staatsratsvorsitzende der Deutschen Demokratischen Republik und Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Erich Honecker, betritt den Plenarsaal des ZK. 206 Mitglieder und Kandidaten der SED-Spitze sind anwesend. Margot Honecker, ZK-Mitglied und Bildungsministerin ist lieber zu Hause geblieben. Die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen und ZK-Sekretäre sind angewiesen, keine Diskussionen zu führen.
13:45 Uhr: Das Zentralkomitee kommt zusammen
Das Haus am Werderschen Markt in Berlin-Mitte - seit 1999 beherbergt es das Bundesaußenministerium - gehört zu den größten Gebäuden der Stadt. Als Erweiterungsbau der Reichsbank wurde es von 1934 bis 1939 errichtet. Seit 1959 dient es als Sitz des Zentralkomitees der SED. Aufgrund der herausragenden politischen Bedeutung des ZK stellt das Gebäude das eigentliche politische Machtzentrum der DDR dar. Am frühen Nachmittag treffen sich hier die seit der Politbürositzung am Dienstag (17.10.) eilig einberufenen Mitglieder und Kandidaten des SED-Führungsgremiums.
13:30 Uhr: Neubau des Bundestages teurer als geplant
Seit 1986 tagt der Bundestag im benachbarten Gebäude des ehemaligen Bonner Wasserwerkes. Am Gebäudekomplex des Bundeshauses wird seither der alte Plenarsaal, das baufällig gewordene ehemalige Turnhallengebäude, abgerissen und durch einen Neubau ersetzt, in den das Parlament 1992 einziehen soll. Nach neuen Berechnungen werden die Kosten für den Neubau 256 Millionen DM statt 90 Millionen DM betragen.
13:00 Uhr: Krenz und Honecker treffen sich
Egon Krenz, der ohnehin als wahrscheinlichster Nachfolger gilt, bittet Erich Honecker unter vier Augen, in das Rücktrittsgesuch einen Nachfolgevorschlag mit seinem Namen zu verbinden. Krenz wäre dadurch ein hundertprozentiges Wahlergebnis im ZK sicher. Allerdings muss er sich nun auch den Vorwurf gefallen lassen, von seinem Vorgänger inthronisiert worden zu sein.
12:00 Uhr: In West-Berlin besetzen Studenten CDU-Geschäftsstelle
Etwa 15 Schüler des zweiten Bildungswegs versuchen die Landesgeschäftsstelle der CDU in der Lietzenburger Straße zu besetzen. Nach Angaben der CDU wollen die Besetzer den Landesgeschäftsführer Wienhold aus seinem Zimmer zerren und blockieren das Telefon. Den Mitarbeitern gelingt es, die Jugendlichen vor die Tür zu setzen. Nach Darstellung der Besetzer wird damit versucht, „unseren Protest gegen die Neuregelung des BAföG zum Ausdruck zu bringen".
10:00 Uhr: Manfred von Ardenne beklagt mangelnde Reformbereitschaft
Der bekannte Dresdner Wissenschaftler Manfred von Ardenne beklagt, dass „der Ernst der Situation bis zur Stunde in Berlin noch nicht erkannt ist.“ Über die „Einleitung wesentlicher Taten und Veränderungen“ durch die SED-Spitze sei nichts bekannt. In der LDPD-Zeitung der Morgen befürchten Komponisten und Musikwissenschaftler, die „furchtbaren Massenabwanderungen“ werden „katastrophale Folgen für die Wirtschaft und vor allem für die Moral dieser Gesellschaft“ haben.
02:04 Uhr: In Kalifornien bebt die Erde
In der Bucht von San Francisco ereignet sich ein Erbeben mit einer Stärke von 7,1 auf der Magnitudenskala. Es ist die stärkste Erschütterung in der Region seit dem Großen Beben von 1906. Das Epizentrum befindet sich in der Nähe des Berges Loma Prieta in den Santa Cruz Mountains. Das Beben richtet schwere Schäden in San Francisco und Oakland an. Sämtliche Kommunikationswege in der Bucht von San Francisco brechen zusammen. Insgesamt 62 Menschen ums Leben. Die Sachschäden belaufen sich auf etwa 6 Milliarden Dollar.
17. Oktober: Im Politbüro wird Erich Honecker gestürzt.
21:00 Uhr: Zwei Drittel der Westdeutschen glauben nicht an eine Wiedervereinigung
Dem ZDF-Politbarometer zufolge glauben nur 27 Prozent der Befragten an eine Widervereinigung der beiden deutschen Staaten in den nächsten Jahren. 66 Prozent der Befragten gehen eher nicht davon aus.
20:00 Uhr: Weitere DDR-Flüchtlinge im Westen
Am Abend fordern Bürgerrechtler in Dresden erneut die Freilassung der politisch Inhaftierten. In Düsseldorf treffen derweil erneut DDR-Flüchtlinge aus der bundesdeutschen Botschaft in Warschau ein.
19:00 Uhr: Elfenbeinhandel wird verboten
In Lausanne beschließen 91 Staaten auf der 7. Internationalen Konferenz für Artenschutz den Stopp des internationalen Handels mit Elfenbein.
18:00 Uhr: Kursverluste werden wieder gut gemacht
An der Frankfurter Börse können gut die Hälfte der heftigen Kursverluste vom Montag (16.10.) wieder wett gemacht werden.
17:00 Uhr Willy Brandt trifft Gorbatschow
Willy Brandt spricht in Moskau mit Michail Gorbatschow. Der ehemalige Bundeskanzler und Ehrenvorsitzende der SPD – und zu Zeiten des Mauerbaus Regierende Bürgermeister von West-Berlin – äußert sich auch zu den in jüngster Zeit in Bonn wieder offensiv vorgetragenen Wiedervereinigungsplänen. Egon Krenz wird später, nach einem Gespräch mit Gorbatschow, in einer SED-Sitzung berichten, Brandt würde ein Verschwinden der DDR als eine „Niederlage der Sozialdemokratie“ betrachten. Dass Brandt aber, wie von Krenz kolportiert, die DDR als eine „gewaltige Errungenschaft des Sozialismus“ bezeichnet, darf angesichts der kritischen Haltung Brandts gegenüber der SED bezweifelt werden.
16:00 Uhr: Polen fordert Entschädigung
Die polnische Regierung fordert von der UdSSR eine Entschädigung für die Zwangsarbeit von etwa 3,5 Millionen zwischen 1939 und 1959 verschleppten Polen.
Die Wende in der DDR kam, aber nicht im Sinne von Egon Krenz. Eine Ausstellung mit Bildern des Fotografen Gerald Zörner zeigt Volkspolizisten und Demonstranten am 7. November 1989 in Berlin:
15:00 Uhr: Arbeiter wünschen eigene Gewerkschaft
In den Geräte- und Reglerwerken Teltow rufen Ralf Börger und seine Kollegen dazu auf, aus dem FDGB auszutreten und eine eigene Gegengewerkschaft zu gründen. Die Betriebskampfgruppen sollen aufgelöst und die SED aus den Betrieben zu entfernen werden. Diplom-Ingenieur Börger, der sich 1968 weigerte, den Einmarsch der Warschauer Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei zu unterstützen, ist Mitglied der SDP, der Sozialdemokratischen Partei der DDR.
Der von der SDP verteilte Aufruf zur Gründung der "Betriebsgewerkschaft Reform" wird Vorbild für einige andere unabhängige Gewerkschaftsgründungsversuche in der DDR. In Börgers Betrieb (GRW-Teltow) selbst erzeugen der Aufruf und seine in erster Linie politischen Forderungen großen Aufruhr. Die Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft kommt allerdings durch die unvorbereiteten Mitarbeiter vorerst nicht in Gang.
14:30 Uhr: Maleuda und Gerlach kritisieren die SED
Günter Maleuda, Vorsitzender der Deutschen Bauernpartei (DBD) und Manfred Gerlach, Vorsitzender der Liberaldemokratischen Partei (LDPD) nehmen Stellung zur bisherigen Politik der SED. Sie distanzieren sich von der Ost-Berliner Staatsspitze. Die Vorgänge im Politbüro sind ihnen - wie fast allen anderen DDR-Bürgern - nicht bekannt.
14:00 Uhr Das Zentralkomitee wird für den nächsten Tag einberufen
Der vom Politbüro gefasste Beschluss kann nur durch das ZK entschieden werden. Für den nächsten Tag wird eine Eilsitzung einberufen.
13:50 Uhr: Honecker verlässt das Politbüro
Honecker verlässt den Sitzungssaal und verabschiedet sich in seinem Büro von seinen persönlichen Mitarbeitern.
13:30 Uhr: Krenz soll Nachfolger werden
Nachdem auch Mittag und Herrmann von ihren Funktionen entbunden wurden, wird beschlossen Egon Krenz dem ZK als neuen Generalsekretär vorzuschlagen.
13:10 Uhr: Honecker stimmt eigenen Absetzung zu
Über den Antrag Stophs wird abgestimmt. Nacheinander heben alle Anwesenden - auch Mittag und Herrmann - die Hand, um ihre Zustimmung zu signalisieren. In alter Politbüromanier stimmt auch Honecker der eigenen Ablösung zu.
13:00 Uhr: Honecker ist tief enttäuscht
Tief enttäuscht zeigt sich Honecker von den Genossen, die gegen ihn gesprochen haben und von denen er dies „nie erwartet habe.“ Er sage das nicht als geschlagener Mann, sondern als Genosse, der bei bester Gesundheit sei.
12:10 Uhr: Honecker verteidigt sich und ist verbittert
Im Politbüro wehrt sich zur gleichen Zeit der angegriffene Honecker mit einer langen, verbitterten Verteidigungsrede. Es habe ihn „tief getroffen“, dass gerade Stoph seine Abwahl beantragt habe. Sein Sturz werde die Probleme aber nicht lösen. Er zeige vielmehr, dass „wir erpressbar sind.“ Der Gegner werde das nützen. Gegen Schabowski und Krenz giftet Honecker, was diese Erneuerung denn sei. Sie hätten „keine Linie“ und wüssten nicht, wie sie mit dem Neuen Forum umgehen sollen. Nochmals beschwört Honecker die Runde, die Errungenschaften der DDR nicht anzutasten. Der Sozialismus auf deutschem Boden dürfe nicht zur Disposition stehen.
12:00 Uhr: Stundenten wollen besser vertreten werden
An der Humboldt-Universität in Ost-Berlin nehmen 5.000 Studenten an einer Diskussion teil. Es geht vor allem um die Abschaffung der Zensur und eine politische Interessenvertretung außerhalb der FDJ.
11:50 Uhr: Schabowski fordert kompletten Rückzug Honeckers
Weniger taktvoll weist Günter Schabowski, der Berliner Bezirkssekretär der SED, nochmals auf den Widerstand Honeckers gegen die Erklärung des Politbüros hin und fordert dessen Abberufung auch aus allen staatlichen Funktionen - als Staatsratsvorsitzender und als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates.
11.40 Uhr: Krenz tut die Entscheidung weh – Honecker reagiert angriffslustig
Nach allen Anderen äußert sich auch Krenz im Politbüro. Ihm tue die Entscheidung „weh“, aber Honecker habe nicht verstanden, dass seine Erklärung vom 10. Oktober einen Kompromiss darstelle.
11:15 Uhr: Mielke: „Wenn ich mal richtig auspacke, würden sich einige wundern“
Stasi-Chef Mielke erklärt, der Vorschlag sei richtig und die „Lage sehr ernst.“ Noch herrsche in den Betrieben Ruhe, doch das könne sich schnell ändern. Unter dem Eindruck von Honeckers Äußerungen wenige Tage zuvor, erregt sich Mielke: „Wir haben vieles mitgemacht. Wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen.“ Als Honecker ihn daraufhin anschnaubt, er solle die „Klappe nicht so weit aufreißen“, ergeht sich Mielke in Entrüstungstiraden. Er droht mit kompromittierendem Insiderwissen. Alle würden sich wundern, wenn er mal richtig auspacken würde.
Welche Geheimnisse über seine Genossen kannte Erich Mielke? Lesen Sie hier über ein neues Buch, das erstmals Details zur Ablage "Rote Nelke" enthüllt.
10:50 Uhr: Vertraute von Honecker wenden sich ab
Besonders erstaunt muss Honecker erleben, wie sich auch seine engsten Vertrauten von ihm abwenden. Wirtschaftssekretär Günther Mittag stellt trocken fest, der Generalsekretär habe das Vertrauen der Partei verloren. Chefagitator Joachim Hermann bittet, man möge diese Angelegenheit doch auf eine „Art und Weise“ regeln, „die diesem Leben gerecht wird.“
10:40 Uhr: Die Vorwürfe werden massiver
Im Politbüro kritisiert Landwirtschaftsekretär Krolikowski die Ignoranz des Generalsekretärs. Hans-Joachim Böhme von der Bezirksleitung Halle wirft Honecker vor, er habe selbst „sein Lebenswerk zerstört.“ Zudem habe der Generalsekretär in der letzten Sitzung die von Krenz entworfene Erklärung „nicht mitgetragen“, was im Milieu des Politbüros dem schweren Vorwurf der Fraktionsbildung gleichkommt. Siegfried Lorenz von der Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt und Krenzvertrauter heuchelt, ihm blute das Herz.
10:35 Uhr: SPD wart vor Einmischung
Währenddessen tagt die SPD-Bundestagsfraktion im Reichstag zum Thema "Situation der DDR". Parteichef Hans-Jochen Vogel warnt vor Einmischung in die DDR von außen.
10:30 Uhr: SED-Chefideologe Hager gibt sich moderat
Die Aussprache eröffnet SED-Chefideologe Kurt Hager, der wie Hermann Axen – im ZK zuständig für internationale Politik und Wirtschaft – zunächst die Verdienste Honeckers würdigt, dann aber von der Notwendigkeit ein „flexiblen Regierung“ spricht. Diesen noch recht moderaten Einlassungen folgen scharfe Angriffe.
10:25 Uhr: Honecker schaut regungslos in den Saal
Äußerlich gefasst reagiert Honecker auf den Angriff Stophs. Regungslos schaut er in den Sitzungssaal und sagt dann: „Gut, dann eröffne ich die Aussprache.“ Die Erniedrigung der nächsten Stunden registriert Honecker mit steinerner Mine. Einer nach dem Anderen wenden sich die Politbüromitglieder von dem bis eben noch allmächtig geltenden Generalsekretär ab.
10:15 Uhr: Stoph fordert Sturz Honeckers
„Ich stelle den Antrag, den Genossen Honecker von seiner Funktion als Generalsekretär zu entbinden.“ Stoph gilt seit langem als Honecker-Feind. Schon 1980 hat er gemeinsam mit Politbüromitglied Werner Krolikowski die „falsche politische Konzeption“ Honeckers bei den Sowjets angeschwärzt. Wie Mielke macht sich auch Stoph im Verlauf der 1980er Jahre wiederholt in Moskau für eine Absetzung des Generalsekretärs stark. Allerdings wird Stoph dort als Traditionalist gesehen, der sich Reformbemühungen widersetzen würde. Das erklärt, warum Moskau, spätestens seit Gorbatschow dort das Ruder übernommen hat, Stophs Pläne nicht unterstützt. Bis zuletzt gilt Stoph auch den Umstürzlern um Krenz als unsicherer Kandidat.
10:00 Uhr: Honecker eröffnet die Sitzung des Politbüros
Zur Begrüßung schüttelt Honecker kurz einigen Spitzengenossen die Hand. Von seinem bevorstehenden Sturz hat er nicht die geringste Ahnung. Wie üblich nimmt er am Kopfende des Beratungstisches Platz und schaut in die Runde. Auf seine Frage, ob es noch Vorschläge für die Tagesordnung gäbe, meldet sich der Ministerratsvorsitzende Willy Stoph zu Wort.
09:30 Uhr: Die Verschwörer sammeln sich
Die Gruppe um Egon Krenz, die den Sturz Erich Honeckers plant, sammelt sich im Plenarsaal des ZK der SED. Sie wollen die Gunst der Stunde nutzen. Verteidigungsminister und Honecker-Freund Heinz Kessler weilt noch im fernen Nicaragua. Krenz, ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen und mit 52 Jahren jüngstes Mitglied des Politbüros, hat entscheidende Genossen auf seine Seite gezogen. Als früherer FDJ-Chef ist Krenz gerade im SED-Kadernachwuchs bestens vernetzt. Zwar hat sich Krenz lange gewehrt, seinen früheren Förderer zu stürzen. Doch hat sich die Lage in den letzten Tagen und Wochen verschärft. Die Massenflucht von DDR-Bürgern, die Massendemonstrationen der "Hiergebliebenen" und die immer selbstbewusster auftretende Opposition haben die Macht der SED vor aller Augen geschwächt.
Seit Jahren kennen die Spitzengenossen die Berichte zur verheerenden ökonomischen Krise des Arbeiter- und Bauernstaates und des übrigen Ostblocks. Selbst der große sozialistische Bruder in Moskau ist um eine Reformpolitik nicht herumgekommen. Nur in der DDR glaubt Erich Honecker, mit den alten Rezepten weiter herrschen und Kritik und Opposition mit Gewalt niederhalten zu können. Als Krenz während der Politbürositzung am 10. und 11. Oktober einen Entwurf für eine zaghafte Reformpolitik vorstellt, wird er von Honecker scharf angegriffen. Auf Krenz Erklärung, bei der Kommunalwahl am 7. Mai habe es Unregelmäßigkeiten gegeben, kündigt Honecker „schärfste Maßnahmen“ an. Er sucht die Konfrontation. Krenz und andere Verantwortliche müssen mit ihrem Sturz rechnen.
Für den Showdown im Politbüro ist heute alles vorbereitet. Stasi-Chef Mielke – wie die führenden MfS Generäle und die drei für innere Sicherheit zuständigen Generaloberste in den Wechsel an der Parteispitze eingeweiht – bestellt bei Wolfgang Herger, ZK-Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen, zuverlässige Mitarbeiter. Sie postieren sich während der Sitzung vorm Beratungszimmer. Krenz hat zusätzlich Generaloberst Fritz Streletz ins „Große Haus“ in der Torstraße 1 beordert. Der ranghöchste Soldat der DDR ist mitverantwortlich für den Grenzschutz und zahlreiche Mauertote.
16. Oktober: In Leipzig demonstrieren 120.000 Menschen.
23:00 Uhr: Im Politbüro gibt es eine knappe Mehrheit für den Honeckersturz
Krenz und Wolfgang Herger schätzen das Kräfteverhältnis im Politbüro wie folgt ein : 12 der 21 Vollmitglieder und zwei der fünf nicht-stimmberechtigten Kandidaten unterstützen das Vorhaben. Verteidigungsminister Heinz Kessler, ein Freund Honeckers, hält sich in Nicaragua auf. Die Mehrheit ist knapp, aber sie steht. Krenz und Herger ist es insbesondere gelungen, abgesehen von Kessler alle übrigen Vertreter der bewaffneten Organe auf ihre Seite zu ziehen.
20:00 Uhr: Dresdner Bürgermeister spricht zu den Demonstranten
Nachdem er am Abend mit der "Gruppe der 20" konferiert hat, betritt Dresdens Oberbürgermeister Berghofer den Balkon des Rathauses und spricht über Megafon zur Menge. Er kündigt die Fortsetzung des "gewaltfreien Dialogs" an, der bisher aber noch zu keinem Ergebnis geführt habe. Er stellt den Demonstranten, die zuvor an einem Friedensgebet in der Kreuzkirche teilgenommen haben, den von der Gruppe der 20 vorgelegten 10-Punkte-Katalog vor. Darin werden neben Presse-, Meinungs- und Reisefreiheit vor allem freie Wahlen gefordert. Die Demonstranten erweitern den Katalog um die Zulassung des Neuen Forums und die Aufhebung des Visazwangs für die Tschechoslowakei.
19:30 Uhr: Aktuelle Kamera berichtet aus Leipzig
Erstmals bringt die Aktuelle Kamera eine Meldung zur Leipziger Montagsdemo. Die Hauptnachrichtensendung des DDR-Fernsehens berichtet auch über die Lage der DDR-Flüchtlinge in der Bundesrepublik. Der Rundfunksender Stimme der DDR sendet einen Live-Bericht aus Leipzig. Im Jugendradio DT64 werden erstmals Interviews mit Leipziger Demonstrationsteilnehmern ausgestrahlt.
19:00 Uhr: In Leipzig demonstrieren 120.000 Menschen
Die Zahl der Menschen die am Abend über den Leipziger Innenstadtring demonstrieren hat sich im Vergleich zur Vorwoche verdoppelt. Der friedliche Verlauf der Montagsdemo vor einer Woche, die Zurückhaltung der Sicherheitskräfte und das offensichtliche Einsehen der SED-Führung in die Notwendigkeit von Veränderungen hat vielen Menschen Mut gemacht, sich den Demonstranten anzuschließen und ihr jahrelanges Schweigen zu brechen.
Trotz der wiederholten Aufforderung durch die SED, die Blockparteien und einzelne Vertreter der Kirche, sich nicht an der Kundgebung zu beteiligen, ziehen mehr als 120.000 Bürger durch die Straßen. In Sprechchören und auf Transparente fordern sie Freie Wahlen, die Zulassung des Neuen Forums, Reise-, Meinungs- und Pressefreiheit. Die im Lagezentrum des Innenministeriums in Berlin zugeschaltete SED-Spitze hört sie "Völker hört die Signale" singen und "Gorbi, Gorbi" und "Wir sind das Volk!" rufen.
Die Straßenbahnen bleiben stehen, weil sie von den Menschenmassen eingeklemmt werden. Wie in der Vorwoche filmen Siegbert Schefke und Aram Radomski die Ereignisse. Konspirativ einen Kirchturm erklettern müssen sie diesmal nicht. Eine kritische Situation ergibt sich, als einige aufgebrachte Demonstranten die Leipziger Bezirksverwaltung der Stasi erstürmen wollen. Andere Demonstranten können sie davon abhalten. Der verunsicherte Honecker erlebt diese Situation an den Monitoren "innerlich völlig durcheinander." Dickel und Streletz müssen ihn beruhigen. Vor allem den stetig wachsende Zulauf zu den Demonstrationen können sich die besorgten Genossen nicht erklären. Dass die von ihnen "Sozialismus" genannte SED-Diktatur die eigentliche Ursache ist, will sich ihnen nicht erschließen.
18:30 Uhr: Gespräche in Dresden
Parallel zur Leipziger Montagsdemo gehen auch an vielen anderen Orten in der DDR die Menschen auf die Straßen oder nehmen an Friedensgebeten teil. So demonstrieren in Magdeburg und Berlin tausende, in Halle protestieren 20 000 Menschen. Auch in kleineren Orten wie Delitzsch, Döbeln oder Wurzen beteiligen sich Hunderte an spontanen Kundgebungen. Tausende demonstrieren in Bautzen, Zittau, Löbau und in Görlitz.
Während sich in Dresden 10.000 Menschen vor dem Rathaus einfinden und demokratische Reformen fordern, findet im Rathaus ein weiteres Treffen zwischen Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer (SED) und der "Gruppe der 20" statt. Der für die Demonstranten teilnehmende Andreas Bartsch berichtet später über eine sehr gespannte Atmosphäre im Rathaus. Viele Mitarbeiter des Rathauses hätten die Bürgerrechtler wehmütig angeschaut. SED-Bezirkschef Modrow grenzt Berghofers Handlungsspielraum vorher ein. Der Bürgermeister rede "mit Bürgern und nicht mit einer organisierten Opposition."
Dieter Brandes stellt für die "Gruppe der 20" allerdings fest: "wir sind von der Straße delegiert worden, wenn es nicht klappt, gehen wir wieder auf die Straße." Dem Versuch die Gruppe durch Integration in vorhandene Organisationsformen der Stadtverordnetenversammlung zu isolieren und zu neutralisieren, wird eine Abfuhr erteilt. Man spreche nicht nur für sich selbst, sondern für einen erheblichen Teil der Dresdner Bevölkerung.
18:00 Uhr SED-Spitze verfolgt die Ereignisse live am Monitor
Im Lagezentrum des DDR-Innenministeriums treffen Honecker, Mielke, Streletz und Krenz ein, um gemeinsam mit Innenminister Dickel die Vorgänge in Leipzig zu verfolgen. Das operative Fernsehen des Innenministeriums ermöglicht eine Direktübertragung der Ereignisse aus Leipzig auf die Monitore der Zentrale. Parallel sind Tonleitungen geschaltet. Da alle Verantwortlichen der bewaffneten Organe anwesend sind, ist garantiert, dass niemand ausschert und eigenmächtig gegenteilige Befehle erteilt. Wiederholt müssen Dickel und Streletz auf Honecker einwirken, der Vorschläge macht, die zu einer Eskalation der Situation führen würden.
17:30 Uhr: Westdeutsche Wirtschaft gerät in Turbulenzen
An der Frankfurter Börse erleidet der DAX mit einem Minus von 12,8 Prozent den höchsten Verlust seit 1945. Am Freitag (13.10.) war in den USA die Finanzierung der Fluggesellschaft UAL gescheitert.
17:00 Uhr Die Leipziger Innenstadt füllt sich mit zehntausenden Menschen
Wie seit Wochen findet auch an diesem Montag eine große Demonstration in Leipzig statt. Waren vor einer Woche mehr als 70.000 Menschen nach den Friedensgebeten auf die Straße gegangen und hatten den DDR-Sicherheitsapparat vor das Dilemma Zulassen oder Schießen gestellt, werden heute weit mehr als 100.000 Demonstranten erwartet. Da "die Demonstrationen durch niemanden organisiert sind," versucht Pfarrer Michael Turek zu erklären, "kann man auch an niemanden appellieren, einzugreifen oder etwas zu verhindern." Die Menschen, die da auf die Straße gehen, hätten "seit Jahren einen hohen Handlungsbedarf," der sich jetzt entlade.
Alle Einheiten der Volkspolizei im Bezirk Leipzig stehen in Alarmbereitschaft. Eine Führungsgruppe und drei Einsatzkompanien der Bereitschaft stehen mit Sonderausrüstung, "Erstausstattung Munition," Gummiknüppeln, zwei Wasserwerfern und fünf LKWs mit Sperr- und Räumgittern in den Kasernen in Reserve. Zusätzlich werden sechs Kompanien der Offiziershochschule der Volkspolizei Aschersleben und weitere Kompanien in Leipzig, Dresden und Halle in Bereitschaft gehalten.
Auch NVA-Einheiten werden auf Befehl von Streletz mit Sonderausrüstung ausgestattet. Seit dem 14. Oktober liegen 30 Hundertschaften der NVA in Bereitschaft. Die Volkspolizei stellt ihnen weitere 500 Gummiknüppel zur Verfügung. Das MfS hat Spezialkräfte nach Leipzig verlegt, die "vorrangig für die Festnahme von Rädelsführern" zuständig sind und sich "für den Einsatz zu besonderen Aufgaben vorbereitet" haben. Dennoch gilt der von Honecker widerwillig unterzeichnete Befehl Nr. 9, der den direkten Einsatz polizeilicher Mittel und Kräfte nur für den Fall erlaubt, dass Personen oder Objekte angegriffen oder "andere schwere Gewalthandlungen inszeniert werden" sollten.
Sozialistischer Bruderkuss: zum 40. DDR-Jubiläum wird DDR-Staats- und Parteichef Honecker noch vom sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow umarmt. Tatsächlich breitet sich in der SU-Führung ob der Umsturzpläne in Ost-Berlin vorsichtige "Euphorie" aus.
16:00 Uhr: Gorbatschow stimmt Honeckersturz zu
In Moskau unterrichtet der FDGB-Vorsitzende Harry Tisch den sowjetischen Staats- und Parteichef über den bevorstehenden Honeckersturz. Gorbatschow ist bereits unterrichtet. Sein Ost-Berliner Botschafter Wjatscheslaw Iwanowitsch Kotschemassow wurde schon von Krenz, Stoph und anderen kontaktiert. Gorbatschow hegt Sympathien für das Vorhaben, zumal Honecker seit langem der Linie des sowjetischen Generalsekretärs äußerst kritisch gegenübersteht. Er erklärt aber nochmals mit Nachdruck, sich nicht in die inneren Angelegenheiten der DDR einmischen zu wollen. Zum Abschied wünscht er Tisch „viel Glück“ und schickt skeptisch hinterher: „Aber werdet Ihr’s noch schaffen?“
In einem am Morgen veröffentlichten Interview mit der zuletzt auflagenstärksten Tageszeitung der DDR, dem FDJ-Organ Junge Welt, hat Tisch westliche Spekulationen zu Kämpfen und Spaltungstendenzen im Politbüro noch als Kaffeesatzleserei abgetan. "Da werden Lügen verbreitet, Informationen gefälscht" und "mit Halbwahrheiten manipuliert." In der Frankfurter Rundschau legt Wjatscheslaw Daschitschew, außenpolitischer Berater Gorbatschows, die nüchterne Beurteilung der sowjetischen Regierung zu den Vorgängen in der DDR dar. Politik und Wirtschaft der DDR basiere "auf dem alten Ideengut Stalins von einem administrativen Sozialismus." Sollte die Ost-Berliner Führung nicht auf die Stimmung im Lande eingehen, drohe eine "gefährliche Diskrepanz" zwischen der Regierung und der Bevölkerung.
15:00 Uhr: Honecker will Panzer durch Leipzig fahren lassen
Im Vorfeld der Leipziger Montagsdemo schlägt Honecker vor, als Abschreckungsmaßnahme „ein Panzerregiment durch Leipzig fahren zu lassen.“ Krenz und Generaloberst Fritz Streletz, stellvertretender Verteidigungsminister, können Honecker davon abbringen. Der Generalsekretär lässt sich von der Unsinnigkeit einer solchen militärischen Drohgebärde durch Streletz' Argument überzeugen, die jugendlichen Demonstranten, die in Leipzig die Mehrheit stellten, seien in Panzernahkampf ausgebildet. Sie könnten auf die Panzer springen und diese schnell manövrierunfähig machen. Ein Panzereinsatz in dicht besiedeltem Wohngebiet setze darüber hinaus die bedingungslose Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt voraus. Honecker nimmt daraufhin von seinen Überlegungen Abstand.
Am Abend werden 66 Hundertschaften bewaffneter Kräfte in Ost-Berlin und Leipzig im Einsatz sein. Die Staatssicherheit befiehlt "die Pistole am Mann". Doch ist der Einsatz von Schusswaffen im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen in einem Befehl des Nationalen Verteidigungsrates "grundsätzlich verboten."
Bereits am 13. Oktober hat sich die Bezirkseinsatzleitung von Leipzig mit Krenz, Streletz, Karl-Heinz Wagner (Stabschef im Innenministerium), Wolfgang Herger (ZK-Abteilungsleiter für Sicherheit) sowie Mielke-Stellvertreter Rudolf Mittig beraten. Zwar sollten auch Maßnahmen vorbereitet werden, die Demonstrationen nach Möglichkeit bereits "im Entstehen zu verhindern." Höchste Priorität wurde aber der "Sicherung eines friedlichen Ablaufs der Demonstration" beigemessen.
Die eifrig am Honeckersturz arbeitende Verschwörergruppe um Krenz hat kein Interesse an bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Leipzig. Doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass angesichts des wiederum massiven Kräfteaufgebots bereits der kleinste Zwischenfall ausreichen wird, eine Eskalation von Gewaltanwendung auszulösen.
14:00 Uhr: DDR-Rocker fordern Demokratie und Freiheit
Im Kreiskulturhaus in Berlin-Weißensee verabschieden Rockmusiker eine Resolution, in der sie mehr Demokratie fordern. Der Erklärung haben sich bereits mehrere tausend Künstler angeschlossen. In Anwesenheit des FDJ-Vorsitzenden Eberhard Aurich werden die "unerträgliche Ignoranz" der Regierung angeprangert und das brutale Vorgehen der DDR-Sicherheitsorgane am 7. und 8. Oktober scharf verurteilt. Die Resolution soll künftig bei Rockkonzerten verlesen werden, ohne die Musiker der Gefahr von Repressionen auszusetzen.
13:30 Uhr Stasi berichtet über Proteste
Auch wenn sie sich öffentlich ahnungslos gibt, ist die DDR-Staatsführung über die Vorgänge im Land gut informiert. Im MfS werden vielfältige Meldungen zu innenpolitischen Forderungen in der DDR zusammengetragen. Die Menschen gingen im ganzen Land für die Verwirklichung "wahrer" Menschenrechte und freie und geheime Wahlen auf die Straße. Sie würden sich für die Zulassung des Neuen Forums aussprechen und dessen Ziele propagieren. Außerdem ist von massiven Angriffen gegen die führende Rolle der SED, die Partei- und Staatsführung sowie die Person Honeckers die Rede. Vor allem aber stehe das MfS im Zentrum der Kritik. Als territoriale Schwerpunkte des überwiegend gewaltfreien Widerstands werden die Bezirke Karl-Marx-Stadt, Rostock, Erfurt und Dresden bezeichnet.
11:00 Uhr: Botschaftsflüchtlinge dürfen ausreisen
In der polnischen Hauptstadt Warschau entlässt die DDR-Botschaft ausreisewillige Bürger aus der Staatsbürgerschaft. Zusätzlich wird ihnen nach einer kurzen Prozedur eine Identitätsbescheinigung überreicht. Einer Ausreise steht nun nichts mehr im Wege. Einen Transit durch das Staatsgebiet der DDR verbittet sich Ost-Berlin aber. Die Botschaft der Bundesrepublik und die polnische Regierung organisieren nun die Überführung der Deutschen in die BRD. Die Meisten werden ausgeflogen. Für Andere wird eine Schiffspassage geplant.
15. Oktober: "Konzert gegen Gewalt" in Ost-Berlin.
22:00 Uhr: "Konzert gegen Gewalt" in Ost-Berlin
In der Ost-Berliner Erlöserkirche findet vor 3000 Zuhörern ein "Konzert gegen Gewalt" statt. Bekannte Sänger und Schriftsteller rufen zu grundlegenden Reformen auf. Auch Lehrer, Studenten melden sich zu Wort. Der Schriftsteller Christoph Hein fordert eine Untersuchung der "offenbar gelenkten" Exzesse der Sicherheitskräfte am 7. Oktober. Daran solle auch die Kirche beteiligt sein, die sich nach seiner Einschätzung "verantwortlicher, volksnäher und handlungsfähiger als andere Kräfte" in diesem Land erwiesen habe.
Als der populäre Texter und Liedermacher Gerhard Schöne mitteilt, die 20.000 Mark, mit denen der an ihn am 7. Oktober verliehene Nationalpreis der DDR verbunden ist, zu gleichen Teilen einer kirchlichen Entwicklungshilfegruppe und den Inhaftierten zu spenden, brandet riesiger Beifall auf. Eine Lehrerin berichtet, ihr Kollege sei fristlos entlassen worden, da er den Lehrplan im Fach Geschichte kritisiert und sich als Anhänger des Neuen Forums bekannt hatte."
Unter Applaus ruft ein Abgeordneter der SED aus dem Stadtteil Prenzlauer Berg den Anwesenden zu: "Beruhigt Euch nicht. Wir haben wahrscheinlich nur diesen einen Versuch. (...) Handelt gewaltfrei! Redet mit allen, auch mit den 2,3 Millionen SED-Mitgliedern. Grenzt sie nicht von vornherein aus viele von ihnen haben dazu beigetragen, dass jetzt Hoffnung ist!"
21:00 Uhr: Weitere Großdemonstrationen
In Plauen demonstrieren 20 000 Menschen für politische Reformen und demokratische Erneuerung. Auch in Halle ziehen 20.000 Demonstranten durch die Straßen. Am Abend wird bekannt, dass auch an diesem Wochenende fast 2000 DDR-Bürger von Ungarn in den Westen geflüchtet sind.
20 Uhr: Krenz, Schabowski und Tisch kommen in Wandlitz zusammen
Am Abend kommen Krenz, Schabowski und Harry Tisch in Wandlitz zusammen. Man hat den Sturz Honeckers endgültig beschlossen. Auch der ZK-Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen, Wolfgang Herger, und der Bezirkssekretär von Karl-Marx-Stadt, Friedrich Lorenz sind eingebunden. Mit Willy Stoph, Gerhard Schürer und Stasi-Chef Mielke sind weitere Spitzengenossen eingeweiht. Letzter Anlass ist die Beratung Honeckers mit den 1. Sekretären der SED-Bezirksleitungen am 12. Oktober, bei der er die Entwicklungen der letzten Wochen weiterhin auf das "Wirken feindseliger Kräfte von außen" zurückführte.
Auch die scharfen Angriffe auf Krenz während der Politbürositzung am 10. und 11. Oktober setzen die Verschwörer unter Druck. Auf Krenz' Erklärung, bei der Kommunalwahl am 7. Mai habe es Unregelmäßigkeiten gegeben, hatte Honecker „schärfste Maßnahmen“ angekündigt. Krenz und andere Verantwortliche müssen mit ihrem Sturz rechnen. In konspirativen Vier- bis Sechsaugengesprächen werden die Feinheiten des Sturzes vorbereitet. Krenz möchte Honecker im Sinne einer "sehr anständigen Lösung" eine halbe Stunde vor Beginn der nächsten Politbürositzung mit einer Gruppe von sieben Politbüromitgliedern aufsuchen, um ihn zum freiwilligen Rücktritt zu bewegen. Der verschwörungserfahrene Stoph rät davon dringend ab. Der Generalsekretär könnte die Gruppe als Fraktion entlarven und fragen: "Wer hat euch denn beauftragt?"
Man einigt sich darauf, den Showdown ins Politbüro zu übertragen und Honeckers altem Weggefährten Stoph die Hauptrolle zu überlassen. FDGB-Chef Tisch soll am nächsten Tag nach Moskau fliegen und seinen Besuch bei den sowjetischen Gewerkschaften mit der Aufgabe verbinden, Gorbatschow vorab über den Sturz Honeckers zu unterrichten.
19:00 Uhr: Die Partei sucht das Gespräch
Das DDR-Fernsehen sendet Diskussionen zwischen SED-Funktionären und Arbeitern in verschiedenen Betrieben. Währenddessen wird in Bernau ein Kreisverband der Freidenker gegründet. Die Mitglieder betrachten sich als entschiedene Opposition gegenüber allen, die den Sozialismus in der DDR beseitigen wollen.
18:40 Uhr: Nach S-Bahn-Entgleisung am Morgen wieder normaler Fahrbetrieb
Der S-Bahnverkehr der BVG im Nord-Süd-Tunnel unter Ost-Berlin läuft wieder reibungslos. Unter dem stillgelegten Bahnhof Unter den Linden (heute Brandenburger Tor) war am Morgen ein Zug aus Lichtenrade entgleist. Etwa 200 Fahrgäste blieben unverletzt und wurden mit einem Gegenzug, der ausnahmsweise auf der seit dem Bau der Mauer geschlossenen Station halten durfte, zum Anhalter Bahnhof gebracht. Der Betrieb im Nord-Süd-Tunnel blieb bis 15:00 Uhr unterbrochen. Danach stimmte Ost-Berlin einem Pendelverkehr auf dem freien Gleis im Abstand von 20 Minuten zu. Die Unfallschäden wurden durch Mitarbeiter der Reichsbahn aus Ost-Berlin beseitigt.
Die Gleise im Nord-Süd-Tunnel befinden sich in einem schlechten Zustand. Seit Kriegsende sind sie nicht mehr grundsätzlich saniert worden. Die BVG zahlt für die Nutzung der S- und U-Bahnstrecken unter und auf Ost-Berliner Gebiet jährlich rund 11 Millionen DM. Dafür muss Ost-Berlin die Anlagen warten.
18:00 Uhr: Wende in Südafrika
Auch andernorts gibt es in diesen Tagen spektakuläre Entwicklungen. In Südafrika bröckelt das Apartheidregime. Der neue Staatspräsident Frederik Willem de Klerk weicht unter dem Eindruck der internationalen Isolierung des Landes, Protestmärschen, Streiks, Sabotageakten und der heraufziehenden Gefahr eines Bürgerkrieges von der bisherigen Politik der National Party ab. Heute werden Walter Sisulu und sieben weitere ANC-Mitglieder aus der Haft entlassen. Der prominenteste Häftling des Landes, Nelson Mandela, bleibt weiterhin im Gefängnis.
16:00 Uhr: Künstler beantragen Demonstration für Pressefreiheit
Die Ost-Berliner Theaterschaffenden verkünden, dass sie einen Antrag zur Durchführung einer Demonstration für Pressefreiheit stellen werden. Die Kundgebung soll auf Wunsch der Künstler am 4. November auf dem Alexanderplatz stattfinden.
12 Uhr: FDJ-unabhängige Studentenvertretung gründet sich in Berlin
An der Humboldt-Universität gründet sich eine erste von der FDJ unabhängigen Studenteninteressensvertretung.
Die Tagesschau bringt nach einem Bericht über die Fluchtbewegung über Ungarn ein längeres Porträt Vaclav Havels.
11 Uhr: Friedenspreis für Vaclav Havel
Václav Havel erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, aber die tschechoslowakische Regierung gewährt ihm keine Reise zur Entgegennahme des Preises nach Frankfurt am Main. Erstmals wird der Preis aus politischen Gründen in Abwesenheit des Preisträgers verliehen.
10:30 Uhr: In Warschau warten tausende DDR-Bürger auf ihre Ausreise
In der Botschaft der Bundesrepublik in Warschau warten 1300 Menschen auf ihre Ausreise. Am Abend handelt der stellvertretende DDR-Außenminister Harry Ott mit der polnischen Regierung eine "unbefristet gültige" Ausreiseregelung für Drittstaaten aus. Die Botschaft der DDR werde ihnen ab Montag (16.10.) die nötigen Ausreisepapiere ausstellen. Eine Fahrt mit Zügen durch die DDR wird von Ost-Berlin zur Erleichterung der Flüchtlinge, diesmal nicht zur Voraussetzung gemacht. Die polnische Regierung plant, die Ausreise mit Flugzeugen zu organisieren.
10 Uhr: Die letzten Inhaftierten der Demos kommen frei
Die letzten Inhaftierten der Demonstrationen vom 7. und 8. Oktober rund um das 40-jährige DDR-Jubiläum werden freigelassen. Die Berliner Initiativgruppe des Demokratischen Aufbruch, deren bekanntester Vertreter der Pfarrer der Samariterkirche in Berlin Friedrichshain, Rainer Eppelmann, ist, fordert vom Ost-Berliner Magistrat die Einsetzung einer Untersuchungskommission zur Aufklärung der Rechtsverletzungen im Zuge der Demonstrationen vom 7. und 8. Oktober. Gewalt und Einschüchterungen seien keine geeigneten Voraussetzungen für einen demokratischen Dialog.
14. Oktober: Karl-Eduard von Schnitzler wettert gegen Kritiker.
20:00 Uhr: Friedensgebete in Sachsen
Während sich der Pfarrer der evangelisch-lutherischen Gemeinde Geithain im Bezirk Leipzig laut MfS-Bericht "entschieden" gegen die Montagsfriedensgebete ausspricht - wer beten wolle, solle sonntags in den Gottesdienst kommen - wird in Lengenfeld, Aue und andernorts nach den Friedensgebeten Meinungs-, Informations- Reise- und Wahlfreiheit gefordert. Der Landesbischof erklärt, Ziel der Kirche sei es nicht, die DDR durch eine Wiedervereinigung "kapitalistisch einzubinden." Auch falle es ihm schwer, eine parlamentarische Demokratie zu befürworten, die die Wahl von rechtsradikalen Parteien wie den Republikanern in der Bundesrepublik gestatte.
19:30 Uhr: Schnitzler wettert gegen Kritiker
Während sich der 1976 ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann in einer Sendung von RIAS-TV äußert - "Es geht nicht um den Mangel in der DDR, es geht um den Maulkorb, den die Menschen tragen müssen" - beschimpft der für seine Sendung "Der schwarze Kanal" berüchtigte Propagandist Karl-Eduard von Schnitzler Kritiker des real existierenden Sozialismus im DDR-Fernsehen als "impotent und unbefugt". In einem Kommentar für die Hauptnachrichtensendung Aktuelle Kamera lästert Schnitzler über Ratschläge aus dem Westen und "hochherzige Angebote" der Bundesregierung. Kapitalisten, so Schnitzler, werden wohl kaum den Sozialismus fördern wollen. Die Probleme der DDR würden allein in der Deutschen demokratischen Republik gelöst.
19:00 Uhr: Friedliche Demonstration in Plauen
Das sächsische Plauen gehörte zu den frühen Zentren der Bürgerbewegung im Spätsommer 1989. Immer wieder hatte hier die Polizei brutal gegen Demonstranten durchgegriffen. Doch inzwischen gibt es die neue Linie der Sicherheitskräfte, nicht einzuschreiten. Friedlich demonstrieren am Abend etwa 10.000 Menschen durch die Stadt. Um den Sicherheitskräften nicht doch noch einen Anlass zum Einschreiten zu liefern, tragen die Demonstranten ihre zahlreichen Plakate aber lieber ohne Stangen.
Sie fordern unter anderem Demokratie, die Zulassung des Neuen Forums und "Freiheit - Pressefreiheit - Meinungsfreiheit." Neben dem bekannten Slogan "Wir sind das Volk!" und "Gorbi, Gorbi"-Rufen erklingen jetzt auch "Wir bleiben hier" und "Wir wollen Reformen." In Abwandlung eines altbekannten DDR-Propagandaspruchs heißt es auch "Von der SU lernen, heißt siegen lernen!"
18:00 Uhr: Flüchtlingsstrom reißt nicht ab
Weiterhin fliehen DDR-Bürger über Ungarn in den Westen. Im Notaufnahmelager in Grafenau bei Passau trifft der 50 000. DDR-Flüchtling seit der Öffnung der ungarischen Grenze ein.
17:00 Uhr: Neues Forum bleibt basisdemokratisch
Die Vertreter des Neuen Forums, die sich in Berlin zu einer zweitägigen Koordinierungsdiskussion getroffen haben, kommen zu dem Schluss, dass ein umfassendes Reformkonzept nicht vorgegeben werden soll. Ein solches könne nur in einem übergreifenden Diskussionsprozess entwickelt werden. Grundlage wird ein "Offene Problemkatalog" sein, der Schlüsselfragen zu Wirtschaft und Ökologie, Kultur, Bildung und Wissenschaft sowie zum Staats- und Rechtswesen aufwirft. Die Opposition solle nach dem Graswurzel-Prinzip in die Breite getrieben werden.
Später soll ein Koordinierungsausschuss gebildet und ein Sprecherrat aus Vertretern der regionalen Zentren gewählt werden. Kontaktpersonen sollen für Werbung und Unterschriftensammlungen verantwortlich sein. Für November ist die Herausgabe einer eigenen Zeitung vorgesehen.
Dass das Neue Forum eine heterogene Gruppe bleibt, wird an der Kritik einzelner Bezirksvertreter deutlich, die den Führungsanspruch der Berliner Initiativgruppe in Frage stellen. Die Medienträchtige und meinungslenkende Repräsentanz der Berliner stehe im Widerspruch zum basisdemokratischen Anspruch des neuen Forums. Alle Kreis- und Bezirkssprecher sollen demokratisch gewählt werden.
16:00 Uhr: Demokratie Jetzt! veröffentlicht eigene "Zeitung"
Die linke Bürgerbewegung Demokratie Jetzt! hat sich Mitte September in Ost-Berlin formiert. Programmatisch steht sie der West-Berliner Alternativen Liste und den bundesdeutschen Grünen nahe. Inzwischen haben sich etwa 1000 Menschen der Bewegung angeschlossen. Heute erscheint die zweite Ausgabe ihrer "Zeitung" mit dem Schmetterlingssymbol - ein beidseitig bedrucktes A4-Blatt.
Darin werden die Bürger aufgerufen, sich in eigener Sache einzumischen, Gleichgesinnte in der Nachbarschaft zu suchen, Sprecherinnen und Sprecher zu wählen und diese in überregionale Veranstaltungen zu entsenden. Jeder - ob Mitglied einer der alten Parteien oder einer der neuen Vereinigungen - könne sich durch Mitarbeit auch ohne formelle Mitgliedschaft bei Demokratie Jetzt! beteiligen. Gemeinsam mit anderen demokratischen Initiativen soll ein gemeinsames Wahlprogramm beschlossen werden .
Durch Beteiligung an der bevorstehenden Volkskammerwahl will Demokratie Jetzt! dem Wähler die Möglichkeit geben über eine demokratische Umgestaltung der DDR zu entscheiden. Es wird beschlossen, die Flugblätter periodisch erscheinen zu lassen.
Unser Fotograf Kai-Uwe Heinrich war in der Nacht des 9. November in Berlin unterwegs und hat Stimmungen und Emotionen eingefangen, die hier in einer Fotogalerie versammelt sind:
14:00 Uhr: Modrow will Lage in Dresden im Griff behalten
Nach den bisherigen Demonstrationen rechnet SED-Bezirkssekretär Hans Modrow "mit einem schweren Nachgang" in Dresden. Die Situation sei "nach wie vor nicht überschaubar." Die Bezirks- und Kreiseinsatzleitungen müssten die Lage unbedingt im Griff behalten. Für den Abend ist ein Bittgottesdienst in der Herz-Jesu-Kirche geplant, dem eine anschließende Demonstration zum Fetscherplatz folgen soll.
Währenddessen tagt in der Trinitaskirche in Meißen-Zscheila ein zweitägiges Seminar zum Thema "Frieden mit der Schöpfung". Neben ökologischen Themen stellt Pfarrer Hanno Schmidt den etwa 200 Teilnehmern das Neue Forum vor. Die Teilnehmer unterzeichnen zwei Petitionen an Berghofer und Modrow, die unter anderem die Zulassung der Bürgerinitiative fordern.
13:00 Uhr: SED-Funktionäre sollen auf Montagsdemo sprechen
Die Leipziger SED-Leitung lässt Waffen und Munition auslagern, um "zusätzliche Sicherheit bei feindlichen Angriffen" zu erreichen. Außerdem werden Maßnahmen beschlossen, eine erneute Montagsdemo am 16. Oktober zu verhindern. Dazu soll die Dialogpolitik ausgeweitet und verstärkt das Gespräch mit kirchlichen Amtsträgern gesucht werden. Die Superintendenten Friedrich Magirius und Johannes Richter erwarten für den kommenden Montag allerdings wieder viele Menschen.
Sie schlagen stattdessen vor, dass Vertreter der Kirche und des Staates gemeinsam auf zentralen Plätzen zu den Menschen sprechen. Die SED-Funktionäre sollten dann aber nicht den Eindruck erwecken, dass die Menschen "nur beruhigt werden sollen" und deshalb "unbedingt etwas Substanzielles" sagen. Auch müsse vermieden werden, durch "unbedachte Bemerkungen" die Lage zu verschärfen.
12:00 Uhr: Volkskammer will aktuelle Lage beraten
Proteste, Demonstrationen, Flüchtlinge und eine Erklärung des Politbüros der SED, die eine zaghafte Änderung der Politik andeutet. Eine Woche nach dem 40. Geburtstag der Republik hat sich die Lage in der DDR deutlich geändert. Vor diesem Hintergrund fordert die Mehrzahl der Abgeordneten die sofortige Einberufung einer Volkskammersitzung. Der Präsident des DDR-Parlaments, Horst Sindermann, lehnt dies jedoch in Absprache mit Egon Krenz ab.
10:00 Uhr: Das Neue Forum trifft sich an einem konspirativen Ort zur 2.Vollversammlung
An diesem Wochenende diskutieren etwa 120 Mitglieder des Neuen Forums Fragen der inneren Organisation. Mittlerweile haben mehr als 25.000 Menschen republikweit den Gründungsaufruf der Bürgerinitiative unterschrieben. Besonders unter Jugendlichen, Studenten und Schülern findet die Gruppe Anklang. Anders als von der Stasi am Vortag vermutet, trifft sich die bekannteste Oppositionellengruppe nicht in der Sophien- sondern in der Elisabethkirche in der Invalidenstraße.
Das Neue Forum steht vor der Frage, ob der basisdemokratische Ansatz beibehalten werden soll oder eine Parteistruktur mit klarem Programm erarbeitet werden soll. Bisher haben sich einzelne Gruppen spontan über Kontaktadressen in den Wohngebieten gebildet und die Themen ihrer inhaltlichen Arbeit selbst gewählt. Von einzelnen Arbeitsgruppen gibt es Vorschläge, eine "Forumpartei" zu gründen oder das Forum zu einem Sammelbecken für alle demokratischen Bewegungen zu machen.
Vertreter aus Karl-Marx-Stadt, Leipzig und Potsdam berichten über Kontakte mit den Behörden. Der Oberbürgermeister von Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz) hat dem Neuen Forum einen Dialog angeboten. In Berlin kommt man den Machthabern sehr weit entgegen. Rolf Henrich, Rechtsanwalt in Eisenhüttenstadt und prominenter Regimekritiker, erklärt sogar, die SED werde auch in Zukunft eine "entscheidende Rolle" spielen. Henrich ist als Autor des 1989 erschienenes Buch Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus einer der wichtigsten Impulsgeber der Wende in der DDR.
Eine lediglich entscheidende Rolle genügt den Machthabern freilich nicht. Der Leiter der Bezirksverwaltung des MfS, Gehlert, bringt es auf den Punkt. "Entweder das Neue Forum wird Bestandteil der Nationalen Front oder es wird verboten." Auch in Dresden, wo Oberbürgermeister Berghofer und SED-Sekretär Hans Modrow auf die Bürgerrechtler zugegangen sind, bleiben die Hauptanstrengungen von MfS und Partei weiterhin darauf ausgerichtet, "strukturelle Organisationsformen zu verhindern" und das Neue Forum zurückzudrängen. Vor allem Modrow, der im Forum eine unliebsame Konkurrenz heranwachsen sieht, drängt das MfS "allen Gruppen und Grüppchen den Boden" zu entziehen.
13. Oktober: Die Nationale Front bricht auf.
22:00 Uhr: Leipziger Kabarettisten diskutieren mit dem Publikum
Die Mitarbeiter des traditionsreichen Kabaretts Leipziger Pfeffermühle beschließen eine Protestresolution und stellen sie nach der abendlichen Vorstellung dem Publikum zur Diskussion. Mit seinen politisch-satirischen Programmen sorgte die Pfeffermühle schon lange vor dem Herbst 1989 für Furore in Ost und West. Selbst gelegentliche Verbote diverser Produktionen durch DDR-Zensoren haben dem Kabarett nichts von seiner Schärfe genommen.
21:00 Uhr: "Demokratischer Aufbruch" gegründet
In der Erfurter Augustinerkirche findet ein Initiativtreffen zur Gründung der Partei "Demokratischer Aufbruch" statt. Die zunächst prinzipiell eher linksökologische Vereinigung spricht sich für einen Dialog aus und begrüßt die Erklärung des Politbüros der SED vom Vortag. Pfarrer Edelbert Richter trägt zunächst eine programmatische Erklärung vom 2. Oktober vor. Im Unterschied zur SED habe man sich nicht mit der deutschen Teilung abgefunden. Der Demokratische Aufbruch strebt einen freiheitlichen Sozialismus, den Abzug der Besatzungstruppen und Blockfreiheit an. Rechtsanwalt Wolfgang Schnur erklärt, niemand dürfe aus Gründen seiner politischen Überzeugungen zur Verantwortung gezogen werden, die Vereinigung dürfe nicht kriminalisiert werden.
Dass Schnur seit 1965 als Inoffizieller Mitarbeiter für das MfS arbeitet, ist seinen Mitstreitern nicht bekannt. Eines der zentralen Themen des Demokratischen Aufbruchs ist der Umweltschutz. Da dieses Thema alle angehe, führt Schnur aus, solle man Forderungen nicht nur an die Regierung stellen, sondern auch an sich selbst. Weitere Themen der jungen Partei sind die Ermöglichung einer Wehrdienstverweigerung, damit einhergehend die Abschaffung der vormilitärischen Ausbildung an den Schulen, Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie Reisefreiheit. Weitere Treffen im Oktober sind geplant. An der Veranstaltung nehmen etwa 1000 Bürger teil. Vorausgegangen war bereits im August die Gründung einer Initiativgruppe in Ost-Berlin um Schnur, Richter und die prominenten Pfarrer Rainer Eppelmann und Friedrich Schorlemmer.
20:00 Uhr: Gottesdienst im Kreml
Seit der Oktoberrevolution 1917 führt die Kirche in der Sowjetunion ein Schattendasein. Jahrzehntelange Repressalien, Massenhinrichtungen und Deportationen in den Gulag haben ihr gerade in den ersten Jahrzehnten der kommunistischen Diktatur arg zugesetzt. So gab es 1936 in der ganzen Sowjetunion kein einziges Kloster mehr und nur noch etwa 100 praktizierende Kirchen. Später, vor allem unter dem Eindruck von Solidaritätserklärungen von Bischöfen für das von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg angegriffene Vaterland, entspannte sich die Situation allmählich auf niedrigem Niveau. Mit den Vorbereitungen zur 1000-Jahr-Feier der Taufe Russlands im Jahr 1988 beginnt der Wiederaufstieg des Glaubens. Jüngster Höhepunkt dieser Entwicklung ist der erste Gottesdienst im Kreml seit 1917 anlässlich des 400jährigen Bestehens des russisch-orthodoxen Patriarchats.
19:30 Uhr: Mahnwache in der Gethsemanekirche
Seit Tagen werden in der Ost-Berliner Gethsemanekirche Mahnwachen für die Inhaftierten Demonstranten abgehalten. Am Abend wird bei einem Fürbittgottesdienst die Freilassung fast aller Inhaftierten bekannt gegeben.
Auch die ARD-Tagesschau berichtet über das Thema.
19:00 Uhr: Stasi über geplantes Treffen des Neuen Forums informiert
Dem MfS sind Pläne für ein für den morgigen 14. Oktober angesetztes DDR-weites Treffen des Neuen Forums bekannt. Die "Inspiratoren/Organisatoren" planen angeblich eine Zusammenkunft der Erstunterzeichner des Gründungsaufrufs des Neuen Forums. Das Treffen soll 10:00 Uhr in den Räumlichkeiten der evangelischen Sophiengemeinde in Berlin-Mitte stattfinden. Es wird vermutet, dass etwa 120 Personen aus allen Bezirken der DDR teilnehmen und über die künftige Organisationsstruktur der Bürgerinitiative beraten werden. Weitere Themen sollen die Öffentlichkeitsarbeit sowie die zentrale Erfassung von Mitgliedern und Sympathisanten sein. Da die Zusammenkunft bisher nicht öffentlich angekündigt wurde, ist mit einer kurzfristigen Verlegung des Treffens zu rechnen.
Gleichwohl sollen Konsistorialpräsident Manfred Stolpe und Superintendent Joachim Koppehl nachdrücklich aufgefordert werden, den "Mißbrauch kirchlicher Einrichtungen für die Formierung nicht zugelassener Vereinigungen" zu unterbinden. Den bekannten Teilnehmern des Treffens sei in Aussprachen zu verdeutlichen, dass die Teilnahme am Treffen zu unterbleiben habe. Andernfalls seien "differenzierte ordnungsstrafrechtliche Maßnahmen" einzuleiten. Sollten kirchlicherseits keine Maßnahmen zur Verhinderung der Zusammenkunft erfolgen, könnte dies die rechtzeitige Absperrung des gesamten Geländes erforderlich machen. In diesem Fall sei allerdings mit der Entstehung größerer Personenansammlungen zu rechnen.
18:00 Uhr: Schabowski mit Forderungen der Arbeiter konfrontiert
Dem SED-Politbüromitglied Günther Schabowski schlägt bei einem Besuch in der Maschinenfabrik VEB Bergmann-Borsig das geballte Unverständnis der Arbeiter über den politischen Kurs der Regierung entgegen. Die Vertrauensleute des Großbetriebes hatten bereits Ende September in einem Offenen Brief an den FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch die "nahezu einhellige Ablehnung der Art und Weise" dargelegt, mit der die DDR-Medien die tief greifenden und "die Werktätigen bewegenden" aktuellen politischen Probleme und Diskussionen "abhandeln oder zum Teil verschweigen."
Vor allem die Darstellung des Fluchtgeschehens als "Machwerk des Klassengegners," bei dem die Flüchtlingen "nur Opfer und Statisten sein sollen," trifft nicht mit den Überzeugungen und Empfindungen der Kollegen überein. Von Schabowski wird nun nicht mehr nur ein öffentlicher Dialog "über dringend notwendige Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen" erwartet. Die Werktätigen fordern reale Mitsprache in den Betrieben, Reisefreiheit und den Abbau von Privilegien.
16:00 Uhr: Weiterer Ansturm von DDR-Flüchtlingen
Der Strom der Übersiedler aus der DDR, die über die ungarische Grenze in den Westen gelangen, reißt nicht ab. Auch in der bundesdeutschen Botschaft in Warschau treffen weitere DDR-Bürger ein. Währenddessen mehren sich in West-Berlin die Probleme mit der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge.
15:00 Uhr: Inhaftierte Demonstranten werden freigelassen
Die Generalstaatsanwaltschaft gibt bekannt, dass bis auf elf Personen, gegen die noch wegen Gewalttaten ermittelt wird, alle festgenommenen Demonstranten aus der Haft entlassen worden sind. Der bekannte Rechtsanwalt Wolfgang Vogel - im Auftrag Honeckers bisher mit den besonders heiklen Fälle im deutsch-deutschen Ausreisegeschehen betraut - schlägt vor, alle DDR-Bürger, die wegen Fluchtversuchs oder im Zusammenhang mit den Demonstrationen der vergangenen Wochen festgenommen wurden, endgültig aus der Haft zu entlassen.
14:00 Uhr: BRD soll für DDR-Reisefreiheit zahlen
Der Staatssekretär im Ministerium für Außenhandel Alexander Schalck-Golodkowski legt Egon Krenz seine Überlegungen zu finanziellen Komponenten einer Neuregelung der Reisefreiheit in der DDR dar. Schalck-Golodkowski rechnet mit einem großen Nachholbedarf an Reisen von DDR-Bürgern ins westliche Ausland. Insbesondere für die Bundesrepublik und West-Berlin rechnet er mit 10 Millionen Reisenden. Dies wird, vor allem aufgrund von Ausgleichszahlungen an die Deutsche Bundesbahn, zu einer zusätzlichen jährlichen Belastung des DDR-Haushalts von etwa 300 Millionen DM führen.
Deshalb seien unverzüglich - noch vor Veröffentlichung neuer Reiseregelungen - informelle Gespräche mit der Regierung der Bundesrepublik aufzunehmen, die einen angemessenen finanziellen Beitrag zur Ermöglichung dieser seit langem von der BRD angestrebten Regelung zum Inhalt haben. Schalck-Golodkowski bietet an, persönlich mit Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und Kanzleramtsminister Rudolf Seiters in Verhandlung zu treten.
Nach Schalck-Golodkowskis Vorstellungen soll die BRD entweder einen pauschalen Zuschuss für den Reiseverkehr in Höhe von 300 bis 500 Millionen DM leisten - selbstverständlich in Verbindung mit Garantien und Abrechnungen, die belegen, dass die Mittel auch voll den DDR-Bürgern zugute kommen - oder die Bundesregierung erklärt sich bereit, den zu erwartenden Minussaldo der Deutschen Reichsbahn im Verkehr von Bürgern der DDR in die BRD auszugleichen.
13:00 Uhr: Fluchtversuch mit Freiheitsstrafe belegt
Nach kurzer Verhandlung werden in Dresden drei Männer zu langen Zuchthausstrafen verurteilt. Sie hatten am 4. Oktober versucht, auf einen Zug mit Prager Botschaftsflüchtlingen zu springen. Die drei Männer hätten mit Steinen geworfen und die entwendeten Mützen von Sicherheitskräften "in die Luft geworfen." Ein derart eklatanter Verstoß gegen das Sicherheits- und Ruhebedürfnis der Bevölkerung könne nur mit harten Strafen geahndet werden.
12:00 Uhr: Honecker tagt mit Vorsitzenden der Blockparteien
Am Vormittag trifft sich die SED-Führung mit den Vorsitzenden der Blockparteien. Erich Honecker schlägt den Gesprächspartnern "tiefgreifende Wandlungen und Reformen" vor. Den Führungsanspruch der SED wollen Honecker und seine beiden engsten Vertrauten, die ZK-Sekretäre Günther Mittag und Joachim Herrmann, aber nicht aufgeben. Die Wahleinheitslisten, die im bisherigen Modell des demokratischen Blocks der SED einen deutlichen Vorteil verschaffen, stehen nicht zur Disposition. Neu formierte Volkskräfte, wie das Neue Forum, bleiben als staatsfeindliche Kräfte abgelehnt. Aus dieser Sammlung von "offenen und verdeckten Gegnern" dürfe keine "Bewegung gegen den Sozialismus in der DDR mit Massencharakter formiert werden."
Die Nationale Front dürfe nicht den Eindruck von Zweigleisigkeit vermitteln. In der Volkskammer sollen den Blockparteien künftig Anfragen und Antworten erlaubt sein. Die Vorsitzenden der Blockparteien stimmen Honecker mit einer Ausnahme uneingeschränkt zu. Auch sie sehen in der Nationalen Front die Plattform, ihr Profil - auch im Dialog mit allen Schichten der Bevölkerung - zu stärken. Das Neue Forum brauche man dafür nicht. Einzig Manfred Gerlach, der am Morgen auf Distanz gegangen ist, kritisiert die Führungs- und Sprachlosigkeit der SED. Er fordert nachdrücklich einen öffentlichen Dialog, Reisefreiheit und Änderungen im politischen Strafrecht. Der Ausbau demokratischer Prinzipien im politischen Leben und ein neues Wahlsystem seien in Zukunft unerlässlich.
Die Blockparteien existieren in der DDR neben der SED und sind mit dieser in der Nationalen Front verbündet, ohne tatsächliche Macht auszuüben oder in echter Konkurrenz zur SED zu stehen. Neben der LDPD gehören auch die CDU, die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) und die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) zu den Blockparteien der DDR. In erster Linie dienen sie dem Anschein von Parteienpluralismus und Demokratie.
09:00 Uhr: Blockpartei geht auf Abstand
In der sozialistischen Einheitsfront machen sich erste Absatzbewegungen bemerkbar. In der Parteizeitschrift der Liberal-Demokratischen Partei, Der Morgen, führt LDPD-Parteichef Prof. Manfred Gerlach aus, dass "keine Partei im Sozialismus a priori, schon Kraft ihrer Existenz und ihres Wirkens die politische Wahrheit für sich hat." Das Problem sei der Führungsanspruch der SED. Die Rolle der Regierung bei der "Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie", würde "der notwenigen Dynamik demokratischer Erneuerung nicht gerecht," denn "was nützte es, wenn Unzulängliches auch noch vervollkommnet würde?"
Gerlachs Partei trete dafür ein, "politische Verkrustungen aufzubrechen" und gemeinsam mit allen gesellschaftlichen Kräften "unvermeidliche Entscheidungen" zu treffen. "Realitätssinn und Vertrauen in die Bürger" sollten dem zu Grunde liegen. Gerlach verurteilt "Anpassung und Heuchelei," die getarnt als "Bewahrung des Bewährten und als Treue zu Beschlüssen (...) kontraproduktiv" wirkten. Gerlachs Erklärung muss nach den Maßstäben der DDR-Pressearbeit als sensationell gewertet werden. Erstmals geht ein Spitzenpolitiker des traditionellen Bündnisblocks auf deutliche Distanz zur Politik der SED.
Manfred Gerlach gehörte 1946 zu den Mitbegründern der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und sitzt seit 1949 in der Volkskammer. Seit 1960 ist Gerlach stellvertretender Staatsratsvorsitzender. Der Parteivorsitzende reagiert auch auf einen Stimmungsumschwung an der Basis der LDPD. Dort werden seit Wochen auf Kreisebene Reformforderungen laut, die das SED-Machtmonopol in Frage stellen. Schon am 10. Oktober hatte Gerlach im Parteivorstand erklärt, die LDPD müsse aktiver auftreten, da die SED ihre Führungskraft eingebüßt habe.
Einen Nachruf des Tagesspiegel für den 2011 gestorbenen letzten Staatsratsvorsitzenden der DDR, Manfred Gerlach, können Sie hier lesen.
12. Oktober: SED bietet Dialog an.
19:30 Uhr: Erklärung des Politbüros wird in der Aktuellen Kamera verlesen.
Die Hauptnachrichtensendung des DDR-Fernsehens beginnt mit der seit dem Morgen verbreiteten Erklärung des Politbüros. In klassischer Manier wird der Text von einer Nachrichtensprecherin verlesen. In der Zwischenzeit ist die Erklärung Grundlage breiter Diskussionen an der SED-Basis. Mit Unverständnis reagieren viele Parteimitglieder auf die vordergründige Art der Machtsicherung. Die Parteiführung habe sich nur vom Druck der Ereignisse leiten lassen. Ihre Vorschläge kämen zu spät und seien viel zu wenig konkret fassbar, um mobilisierend zu wirken. Die Parteiführung habe so „schweren Schaden für die SED und die DDR herbeigeführt“, das Vertrauensverhältnis zu den Grundorganisationen der Partei sei „stark angegriffen.“ Der MfS berichtet über die täglich steigende Zahl von Austritten aus der SED, der FDJ und aus dem DDR-Gewerkschaftsbund FDGB. Währenddessen ist sich die SED-Führung sicher, dass sie nur mit der angekündigten Dialogbereitschaft „die Demonstranten von der Straße kriegen“ könne. Der Dresdner Oberbürgermeister Berghofer, der seit dem 9. Oktober als erster das Gespräch mit der protestierenden Bevölkerung gesucht hat, tut dies, um „in Tausend vielfältigen Einzelgesprächen [...] die Kraft der Straße zu brechen.“ Dann könne man – nach einer Konsolidierungsphase – „wieder fest im Sattel sitzen und mit neuen Gesichtern weitermachen wie bisher.“
18:00 Uhr: Vereinigte Linke fordert Rücktritt der Regierung
Auch die Anfang September bei einem Treffen in Böhlen als Plattform ins Leben gerufene Initiative für eine Vereinigte Linke äußert sich zum Dialogangebot des SED-Politbüros. Als erforderliche Sofortmaßnahme werden unter anderem der Rücktritt des Politbüros und der Regierung gefordert. Eine befristete Übergangsregierung soll aus reformwilligen Kräften gebildet werden, um eine radikale Verfassungs-, Gesellschafts- und Wirtschaftsreform zu verwirklichen. Ziel soll unter anderem die betriebliche Selbstverwaltung der Werktätigen sein. Dazu müssen unabhängige Arbeiterkommissionen gebildet und Betriebsräte geschaffen werden. Die Vereinigte Linke vertritt den linken Flügel der DDR-Bürgerrechtsbewegung und fordert eine Erneuerung des Sozialismus. Sie setzt auf eine demokratische und freie aber eigenstaatliche DDR.
16:00 Uhr: Bezirkschef von Potsdam fordert Honeckers Rücktritt
In einer zum Teil hart geführten Diskussion mit den 1. Sekretären der SED-Bezirksleitungen schlägt Honecker der Unmut der Provinz entgegen. Für Hans Modrow, den Bezirkschef von Dresden, schätzt die Krenz-Erklärung im Neuen Deutschland die Lage weder realistisch ein noch legt sie ein Reformkonzept vor. Er hat Zweifel, ob die SED-Führung über die Vorgänge in der DDR und die schwierige Lage in die sie Modrow gebracht haben richtig informiert ist, wenn nun alles auf die NATO geschoben werden soll. Die Erneuerung des Sozialismus dürfe „nicht von denen auf der Straße oder in der Kirche“ ausgehen. Es gehe auch nicht „um ein bisschen mehr sozialistische Demokratie.“ Auf Modrows Feststellung, die SED-Führung habe versagt, wird ihm von Honecker vorgeworfen, „eine gegen die Parteiführung gerichtete politische Plattform“ zu vertreten.
Der Chef der Politischen Hauptverwaltung der NVA, Horst Brünner, und der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung des MfS, Horst Felber, bestätigen den Ernst der Lage in Modrows Sinne. Auch die Bezirkssekretäre von Neubrandenburg, Karl-Marx-Stadt und Cottbus berichten über die Verschlechterung der Stimmung. Der Bezirkssekretär von Potsdam, Günther Jahn, äußert sich besonders kritisch. Von einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Partei und Volk könne in seinem Bezirk jedenfalls keine Rede mehr sein. In Rücksprache mit der Bezirksleitung in Neubrandenburg fordert Jahn Honecker zum Rücktritt auf.
15:00 Uhr: Reaktion des Neuen Forums auf das Dialogangebot des Politbüros
Das Neue Forum „begrüßt die Verlautbarungen des Politbüros der SED als ein erstes Zeichen, sich mit den angestauten und tiefgreifenden Problemen der Gesellschaft auseinanderzusetzen.“ In einer offiziellen Stellungnahme beschreibt die Bürgerinitiative die „allgemeine Resignation und das Gefühl der Perspektivlosigkeit“, die in den vergangenen Jahrzehnten durch die Politik in der DDR hervorgerufen wurden. Ein echter Dialog mit den unterschiedlichsten Kräften und Strömungen innerhalb der Gesellschaft ist aber in Gefahr, „durch die vorhandenen Strukturen erstickt“ zu werden und muss daher institutionalisiert werden. Das Neue Forum fordert daher die Schaffung juristischer Rahmenbedingungen, die Meinungsäußerungen und Bürgerinitiativen nicht durch den Vorwurf der Staats- und Verfassungsfeindlichkeit von vornherein zum Schweigen bringen. Dies bezieht sich auch auf bereits politisch Inhaftierte. Die bei den Demonstrationen „zugeführten“ Bürger seien als Voraussetzung für Gespräche freizulassen. Das Neue Forum fordert die Zulassung aller anderen Basisgruppen, Parteien und Bürgerinitiativen und Zugang zu den Massenmedien. Pressefreiheit, Abschaffung der Zensur sowie Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit sind für die Bürgerrechtler ebenfalls für einen echten Dialog unverzichtbar.
14:00 Uhr: Gespräche im Roten Rathaus
Der Ost-Berliner Oberbürgermeister Erhard Krack (SED) empfängt im Roten Rathaus Vertreter der Kirche zum Gespräch. Krack stellt fest, dass die Demonstrationen eigentlich nichts mit der Kirche zu tun hätten. Der Bischof der Evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg Gottfried Forck bestreitet dies nicht, weist aber darauf hin, dass die Demonstrationen alle ohne Gewalt verlaufen sind. Zurückzuführen sei dies vor allem darauf, dass man bei den Fürbittandachten großen Wert darauf gelegt hätte, die Veränderungen ohne Gewalt herbeiführen zu wollen. Es sei auch nicht das Ziel der Kirche, die DDR zu destabilisieren. Vielmehr liege ihr daran, die Mitbestimmung der Bürger in der Gesellschaft zu fördern.
13:00 Uhr: Einreise in die Tschechoslowakei erschwert
Einem Erlass des DDR-Innenministeriums zufolge dürfen derzeit nur Rentner und Invaliden Reisen in die Tschechoslowakei beantragen. Es handelt sich dabei um genau jene Personen, die auch frei in den Westen reisen dürfen und – sollten sie sich entschließen, im Westen zu bleiben – der Staatskasse nicht weiter zur Last fallen würden. Nachdem die DDR-Bürger seit dem 30. Oktober 1980 nicht mehr visafrei nach Polen reisen dürfen, ist die Tschechoslowakei das einzige Land, das ohne Erlaubnis und nur mit dem Personalausweis erreicht werden kann. Für alle anderen sozialistischen Staaten müssen bei der Polizei Wochen im voraus Ausreisepapiere beantragt werden. Mit dem Einreisestopp in die Tschechoslowakei will DDR-Regierung den weiteren Zustrom ausreisewilliger Bürger in die BRD-Botschaft von Prag verhindern. Der Beschluss verstärkt das Gefühl vieler DDR-Bürger, innerhalb der Landesgrenzen eingeschlossen zu sein.
12:30 Uhr: Ankunft von DDR-Flüchtlingen in Bayern
Österreichische Busse bringen DDR-Flüchtlinge von einem Aufnahmelager bei Budapest nach Bayern. Auch auf den West-Berliner Flughäfen kommen einige hundert Flüchtlinge an und werden in Turnhallen untergebracht.
10:30 Uhr: Politbüromitglied deutet in den Westmedien Dialogbereitschaft an
In Moskau werden die DDR-Kulturtage von Politbüromitglied Kurt Hager (77) eröffnet. Der Chefideologe der SED und für Wissenschaft und Kultur zuständige ZK-Sekretär hatte sich während der zweitägigen Krisensitzung des Politbüros der Argumentation von Krenz angeschlossen. Im Interview mit einem westdeutschen Kamerateam deutet Hager nun vorsichtig Gesprächsbereitschaft an und stellt die Entwicklung so dar, als habe die Partei den Dialog erfunden. Es gehe nun darum, „dem Willen der Bürger entsprechend das Leben besser zu gestalten.“ Der Sozialismus in der DDR werde dadurch „erstarken und vollkommener.“
Noch im April 1987 hatte sich Hager in einem Gespräch mit dem Stern mit der legendären Frage „Würden Sie, wenn ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ als Gegner der Politik der Perestroika geoutet.
06:00 Uhr: Öffentliche Erklärung des Politbüros
Das zentrale Presseorgan der Partei, Neues Deutschland, veröffentlicht eine Erklärung des Politbüros des ZK der SED. Es handelt sich um eine überarbeitete Fassung des von Egon Krenz am Vortag im Politbüro eingebrachten Entwurfs. Krenz hatte die Erklärung in der ungewöhnlich kontrovers verlaufenen Krisensitzung des Politbüros gegen den zunächst hartnäckigen Widerstand Honeckers durchgesetzt.
Mit dem groß auf Seite 1 publizierten Dialogangebot schlägt die bisher allmächtige Staatspartei neue, ungewohnt offene Töne an. Die SED-Führung gesteht ein, dass die Ursachen der seit dem Sommer angeschwollenen Massenflucht auch in der DDR selbst zu suchen sind. Es lasse sie „nicht gleichgültig, wenn sich Menschen, die hier arbeiteten und lebten, von unserer DDR losgesagt haben.“ Mögen die Gründe auch vielfältig sein, „wir müssen und werden sie auch bei uns suchen.“ Die Hauptursache der Fluchtbewegung wird zwar weiterhin in einer „großangelegten Provokation [...] imperialistischer Kräfte“ gesehen, die „Zweifel am Sozialismus“ säe, um von der eigenen „Reformunfähigkeit und Reformbedürftigkeit“ abzulenken. Doch unterbreitet der Text zwischen den sattsam bekannten Lobliedern auf die Erfolge des Sozialismus endlich das von Bürgerrechtlern und Montagsdemonstranten schon lange geforderte Gesprächsangebot.
"Gemeinsam wollen wir über alle grundlegenden Fragen unserer Gesellschaft beraten [...] Es geht um wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und ihren Nutzen für alle, um demokratisches Miteinander und engagierte Mitarbeit, um gute Warenangebote und leistungsgerechte Bezahlung, um lebensverbundene Medien, um Reisemöglichkeiten und gesunde Umwelt". Dazu stünden in der sozialistischen Demokratie „alle erforderlichen Formen und Foren“ zur Verfügung. „Wir rufen auf, sie noch umfassender zu nutzen.“
Die viel beachtete Erklärung ist das erste greifbare Ergebnis der rasant anwachsenden Bürgerrechtsbewegung in der DDR. Auch wenn wesentliche Passagen schon vor dem 9. Oktober verfasst wurden, ist doch der unmittelbare Eindruck der machtvollen Demonstration von mehr als 70.000 Bürgern auf den Straßen von Leipzig und der erfolgreichen Deeskalationsbemühungen von Dresden maßgeblich für die Einsicht des Politbüros, diesen, noch vor wenigen Wochen für unmöglich gehaltenen Schritt, gehen zu müssen.
11. Oktober: Krenz will Kontinuität und Erneuerung.
11. Oktober: Krenz will Kontinuität und Erneuerung
23:00 Uhr: Irland besiegt Nordirland
In einem Qualifikationsspiel zur Fußball-Weltmeisterschaft 1990 in Italien treffen die Mannschaften eines anderen geteilten europäischen Landes aufeinander. Nach einem Remis beim Hinspiel im Jahr zuvor kann Irland dieses mal Nordirland mit 3:0 bezwingen.
18:00 Uhr Kohl telefoniert mit Gorbatschow
Bundeskanzler Kohl tritt mit dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow in Kontakt. Kohl regt an, bei irgendeiner Entwicklung, die dies erforderlich machen könnte, sofort zu telefonieren. Der Bundeskanzler äußert sich positiv über die Entwicklungen in Ungarn und Polen, die er - wie er hoffe im Interesse Gorbatschows - ausdrücklich unterstütze. Schließlich erklärt Kohl, es liege nicht im Interesse der Bundesrepublik, dass die Entwicklung in der DDR außer Kontrolle gerate. Vielmehr wünsche man, dass sich die DDR dem Kurs Gorbatschows anschließe und dass die Menschen in der DDR blieben. Gorbatschow dankt Kohl für dessen sehr wichtige Erklärung. Er glaube, die DDR werde eine Lösung für ihre Probleme finden.
16:00 Uhr: Bürgerrechtler informieren
Die Ost-Berliner Umweltbibliothek veröffentlicht die zweite Ausgabe des telegraph. Das Infoblättchen wird auf Wachsmatritzen gedruckt und per Hand verteilt. Es informiert zunächst über 200 Personen, die sich weiterhin in Haft befinden. Es folgt ein Bericht zur Leipziger Montagsdemo vom 9. Oktober. "Trotz massiver personeller und technischer Präsenz der Sicherheitsorgane" hätten in Leipzig 70.000 Menschen "friedlich und unangefochten" demonstrieren können. Die Erklärung der "Leipziger Sechs" um Kurt Masur wird im Wortlaut wiedergegeben. Die Bürgerrechtler raten aber zur Vorsicht. Möglicherweise hätten die riesigen Massen der Demonstranten die lokalen SED-Führer zu einer Beschwichtigungstaktik veranlasst. Auch über die Gespräche des Dresdner Oberbürgermeisters Berghofer mit Bürgerrechtlern wird berichtet. Berghofer habe zugesagt, alle friedlichen Demonstranten aus dem Polizeigewahrsam zu entlassen. Für die Zulassung des Neuen Forums erkläre er sich allerdings für nicht zuständig. Schließlich weist der telegraph noch darauf hin, dass die etwa 3.000 Gottesdienstbesucher, die sich am Abend des 9. Oktober an der Gethsemanekirche zur Mahnwache für die Inhaftierten eingefunden hätten, unbehelligt blieben. Die Sicherheitsorgane hätten sich auch hier deutlich zurückgehalten.
12:00 Uhr: Krenz äußert sich zu den Wahlfälschungen
Krenz regt an, dass sich das Politbüro mit einer Erklärung an Partei und Volk wendet und dabei auch eine Analyse der gegenwärtigen Situation liefert. Was zukünftige Wahlen angeht, solle man das Wahlgesetz vollständig einhalten. Ein Ergebnis von 80-90 Prozent sei doch auch gut. Honecker fragt empört nach, wie das gemeint sei. Waren die letzten Wahlen gefälscht oder nicht? Krenz erwidert, die Wahlen seien wohl gefälscht gewesen. Kontrollen hätten das ergeben. Wie weit gediehen die Vorstellungen Krenz' auch immer sind - die Mechanismen der Selbsttäuschung funktionieren noch immer hervorragend.
11:00 Uhr: Krenz beleuchtet das Problem der DDR-Flüchtlinge
Krenz geht auf das offensichtlichste Problem der DDR-Führung ein, die massenhafte Flucht von DDR-Bürgern. Krenz gibt die Zahl der Ausgereisten mit 139.726 an. Die DDR habe viele qualifizierte Arbeitskräfte verloren und "Manchen weinen wir Tränen nach." Damit distanziert sich Krenz deutlich von den zynischen Einlassungen Honeckers zum Thema wenige Tage zuvor. Krenz erklärt, es seien auch nicht nur "Ganoven" weggegangen. "Der Sozialismus braucht jeden. Er hat Platz und Perspektive für alle." Mit dem letzten Passus der vom Politbüro angenommenen Erklärung akzeptiert die SED-Führung, dass es auch in der DDR Gründe für die Massenflucht gebe. Die Hauptschuld dafür liege aber weiter beim Westen.
10:00 Uhr: Krenz legt den Entwurf zu seiner Erklärung vor
Das Politbüro nimmt seine Sitzung wieder auf. Egon Krenz legt den Entwurf seiner Erklärung vor, die ein Programm der Kontinuität und Erneuerung enthält. Er äußert sich zu der in den vergangenen Wochen entstanden Situation. Auch zu früheren Jahrestagen habe der Gegner gegen den Sozialismus getrommelt. Doch würden viele Menschen im Volk die Politik der Partei nicht mehr verstehen. Die Diskussion werde von Meldungen der Westmedien bestimmt. In Leipzig seien die Menschen auch durch Gerüchte verunsichert gewesen, die Sicherheitskräfte würden möglicherweise Panzern einsetzen. Man müsse aber "Feinde und Mitläufer unterscheiden." In Fragen der Macht solle die Partei freilich keine Schwankungen zulassen.
10. Oktober: Wie reagiert das Politbüro?
22:30 Uhr: In den Tagesthemen wird der Film von der Leipziger Montagsdemo gezeigt
Erstmals zeigt das Westfernsehen die Aufnahmen von Siegbert Schefke und Aram Radomski. Über die ARD-Tagesthemen erreicht der Film auch ein Millionenpublikum in der DDR. In den kommenden Tagen wird er immer wieder im Fernsehen gezeigt. Seine unmittelbare Wirkung auf die Menschen in der DDR, wird sich bei den zahlreichen Demonstrationen der nächsten Tage zeigen.
20:00 Uhr: Der Entwurf von Krenz soll verwässert werden
Nach weiteren harten Vorwürfen gegen die gescheiterte Wirtschaftspolitik Günther Mittags - die natürlich indirekt auf Honecker als Hauptverantwortlichen selbst zielt - hat sich auch Verteidigungsminister Heinz Keßler zu Wort gemeldet. Der General beurteilt die Lage als sehr ernst. Es gehe um die "Macht der Arbeiter und Bauern." Man solle aber "das Kind nicht mit dem Bade ausschütten." Man könne auch stolz auf Geleistetes zurückblicken. Man müsse die Partei stärken, aber die Arbeit des Staatsapparates ändern. Die Flüchtlinge seien für ihn "Verräter." Auch zu den Ereignissen in Polen, Ungarn und der Sowjetunion könne man nicht schweigen. Den Antrag zur Absetzung Günther Mittags soll man überdenken. Für die Gruppe um Krenz stellt General Keßler den größten Risikofaktor dar, da er einer Ablösung Honeckers wahrscheinlich nicht zustimmen wird. Am Abend wird eine Kommission gebildet, der neben Krenz und Günther Schabowski, dem Berliner Bezirkschef der SED, auch Mittag und Joachim Herrmann angehören. Herrmann ist als Chefagitator im ZK maßgeblich für die wirklichkeitsferne Darstellung in den DDR-Medien verantwortlich. Ziel der Kommission ist es Krenz' Entwurf abzuschwächen. Krenz und Schabowski können aber die Annahme des Entwurfs in der eingebrachten Form durchsetzen. Die Sitzung des Politbüros soll am nächsten Tag fortgesetzt werden.
19:00 Uhr: In West-Berlin sichtet Roland Jahn das Videomaterial von der Leipziger Montagsdemo
Ulrich Schwarz, Leiter des Spiegel-Büros in Ost-Berlin, übergibt das Videoband, das Siegbert Schefke und Aram Radomski am Vorabend von der Leipziger Montagsdemo aufgenommen haben, am Eingang des SFB. Dort wird das Material von Roland Jahn gesichtet. Der Bürgerrechtler aus Jena war 1983 ausgebürgert worden und arbeitet seither als Journalist. In den vergangenen drei Jahren hat Jahn die heimlich gefilmten Berichte Schefkes und Radomskis über Umweltzerstörungen, das Waldsterben und den Verfall der Städte in der DDR für westdeutsche Fernsehmagazine wie "Kontraste" oder "Kennzeichen D" aufbereitet. Jahn war es auch, der die Videoausrüstung nach Ostberlin schmuggeln ließ und die nötigen Medienkontakte herstellte. Als er den Film vom Leipziger Demonstrationszug sieht, ist er sich sofort sicher: "Das ist das Ende der DDR." Mit den Aufnahmen lässt sich das Informationsmonopol der SED brechen. Die versucht, die Ereignisse vom 9. Oktober unter den Tisch zu kehren und hatte vorsorglich westdeutschen Kamerateams den Aufenthalt in Leipzig untersagt. Der Film Schefkes und Radomskis wird, wenn er in den westdeutschen Nachrichtensendungen und -magazinen läuft, auch dem letzten DDR-Bürger klarmachen, dass es sich bei den Montagsdemonstranten mitnichten um eine kleine Gruppe von "gewissenlosen Elementen" und "Rowdys" handelt. Er wird Vielen, die sich bislang aus Furcht vor einer erbarmungslos zuschlagenden Staatsmacht mit ihrer Kritik zurückhielten, Mut machen, sich den Protesten anzuschließen. Und er wird ihnen vor allen Dingen klarmachen, dass sie viele sind und das die bis eben unüberwindbar scheinende Staatsmacht vor einer derart großen Masse an Demonstranten einknickt.
18:00 Uhr: Scharfe Kritik an Günther Mittag
Nachdem sich mehrere führende Genossen an die Seite von Krenz gestellt haben, befürwortet auch Honecker dessen Erklärung, greift ihn aber indirekt durch Vorwürfe gegen die FDJ-Führung an. Zudem macht Honecker deutlich, dass er beabsichtige, über den für 1991geplanten XII. Parteitag der SED hinaus Generalsekretär zu bleiben. Krenz erhält jedoch Rückendeckung durch fast alle Mitglieder des Politbüros, die sich darüber hinaus positiv über den neuen Ton der Erklärung von Krenz äußern. Gerhard Schürer, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, redet nun Klartext. Er erklärt, das Ziel der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik stelle eine Überforderung der DDR-Wirtschaft dar. Zudem drohe Devisenzahlungsunfähigkeit. Schürer macht dafür vor allem Günther Mittag verantwortlich. Der Angriff auf den mächtigen ZK-Wirtschaftssekretär gilt indirekt Honecker, der sich während seiner schweren Erkrankung im Sommer 1989 von Mittag und nicht von Krenz hat vertreten lassen. Auch Stophs Stellvertreter Alfred Neumann gibt Mittag Schuld an der Misere. Er stellt den Antrag, Mittag von seinen Aufgaben zu entbinden. Schließlich wird Mittag auch von Stoph zum "Sündenbock" stilisiert.
17:30 Uhr: Kohl bezieht Stellung
Bundeskanzler Helmut Kohl äußert sich auf der Buchmesse in Frankfurt am Main über die eindrucksvollen Demonstrationen in der DDR. Die Staats- und Parteiführung in Ost-Berlin müsse auf diesen Wunsch nach Veränderung reagieren.
17:00 Uhr: Stoph stellt sich an Krenz' Seite
Im Politbüro hat nun Willy Stoph das Wort ergriffen. Der Vorsitzende des Ministerrates macht sich für die Ideen Krenz' stark. Dann übt er scharfe Kritik an den Politikern der BRD, Bundeskanzler Helmut Kohl und der Regierung in Ungarn. Der "illegale" Aufenthalt von Flüchtlingen in den bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau habe die Situation verschärft. Während man auf der einen Seite Flüchtlinge hart bestrafe, sei man genötigt gewesen, andere kostenlos durch die Republik zu fahren. Man solle sich künftig kritischer mit Problemen befassen. Auch die Massenmedien sollten dieser Aufgabe nachkommen. Ein großes Problem seien die Versorgungsmängel bei Lebensmitteln. Auch die langen PKW-Wartezeiten seien nicht zu tolerieren. Zur ökonomischen Krise der DDR hat Stoph wenig substanzielles beizutragen. Die Verschuldung sei durch den Handel mit dem nichtsozialistischen Ausland gewachsen. Den enormen Ausgabenüberschuss müsse man kürzen. Dafür seien auch die sozialpolitischen Subventionen - zum Beispiel beim Wohnungsbau - zu prüfen.
15:30 Uhr: Wie soll das Politbüro reagieren?
Als nächstes äußert sich im Politbüro SED-Chefideologe Kurt Hager. Zunächst lobt er Krenz' "tiefgründige Analyse." Seit August sei im Land eine neue Lage entstanden, die weit in die Partei hinein große Besorgnis errege. Sie berge aber auch "Großes Potential für uns!" Da Ungarn das Tor aufgestoßen hat, sei die Fluchtbewegung kaum zu stoppen. Die Programme der oppositionellen Gruppen fänden weite Verbreitung. Auch führe der Gegner - gemeint sind westliche Politiker und Medien - eine Dauerkampagne gegen die DDR. Schließlich seien gestern Abend in Leipzig mehr als 70.000 Menschen auf die Straße gegangen. Es handele sich also nicht nur um einen harten Kern von Oppositionellen. Man habe gestern Klarheit über die Stimmung im Land gewonnen. Die Frage sei nun, wie sich die Partei dazu stellen möge. Im Politbüro herrscht daraufhin allgemeine Sprachlosigkeit. Die Führung äußert sich nicht. Hager schlägt eine Erklärung des Politbüros oder des Zentralkomitees vor - und zwar so bald wie möglich. Die ZK-Mitglieder würden das verlangen. In der Volkskammer müssten kritische Diskussionen möglich sein. Honecker betont daraufhin, die SED müsse weiterhin die stärkste Kraft im Lande bleiben. Werner Krolikowski, ZK-Sekretär für Landwirtschaft, fragt, warum die Führung einer Erklärung zu den Problemen ausweicht. Die DDR würde seit 40 Jahren die Wertschätzung der Bevölkerung genießen. Doch während die Partei immer nur von großen Erfolgen rede, würde der Gegner auf Missstände aufmerksam machen.
14:15 Uhr: Treffen des Neuen Forums zu den Ereignissen in Leipzig
Aus einem Bericht von IM-"Andreas" über einen Besuch beim Neuen Forum in der Ost-Berliner Husemannstraße. Dort berichtet Bürgerrechtler Reinhard Schult von der Montagsdemo in Leipzig. Er ist "sehr happy", weil am Vorabend wesentlich mehr Menschen auf die Straße gegangen sind, als erwartet wurden und die Demonstration ohne blutige Zwischenfälle friedlich verlaufen ist. Schult übergibt die Erklärung der Leipziger Bürgerrechtsgruppen und den Aufruf der "Leipziger Sechs."
13:30 Uhr: Egon Krenz nimmt im Politbüro Stellung
Nach Honeckers Einlassungen ergreift sein Kronprinz das Wort. Selbstkritik helfe nichts, man müsse aus den Ereignissen in Ungarn und Polen lernen. Dass die Partei Feinde und Kritiker hat, ist bekannt. Krenz äußert sich zum Paneuropäischen Picknick in Sopron am 19. August 1989, bei dem etwa 600 DDR-Bürger die kurzzeitige Öffnung der ungarischen Grenze nach Österreich zur Flucht in den Westen genutzt haben. Der ungarische Bruderstaat habe an diesem Tag die DDR verraten. Es gebe aber immer noch mehr legal Ausreisende. Angesichts der Lage im Land sei aber eine Erklärung wie jene des Genossen Honecker, man weine den Ausreisenden keine Träne nach, wenig hilfreich. Krenz schlägt vor, mit den Vorsitzenden der Blockparteien zu sprechen und ihnen mehr Eigenständigkeit einzuräumen. Man könne die Zusammensetzung der Volksvertretungen beleben und das Wahlsystem verbessern, ohne es grundsätzlich zu ändern. Auch eine Änderung der Visafreiheit nach dem Vorbild Jugoslawiens sei denkbar. Allerdings sollten Reisen in die BRD weiterhin eingeschränkt bleiben. Den Medien könnte man mehr Eigenverantwortung einräumen. Insgesamt sollen diese Maßnahmen der Staatsgewalt mehr Legitimität und Autorität verschaffen. Der bürgerlichen Freiheitsideologie könne man so geschlossener entgegentreten.
Wie Egon Krenz und die DDR-Führung im Mai 1989 noch mal die Kommunalwahlen fälschten, können Sie hier nachlesen.
12:00 Uhr: Honecker hält an seiner Sicht der Dinge fest
Der DDR Staats- und Parteichef eröffnet die Sitzung des Politbüros. Ungeachtet der Ereignisse der vergangenen Tage erklärt Honecker, die Mehrheit der Arbeiter und Bauern und weite Teile der Intelligenz wären nach wie vor von der Richtigkeit der Politik der Partei überzeugt. Der weiteren Entfaltung des Sozialismus auf deutschem Boden würde nichts im Wege stehen. Doch habe sich die Entwicklung in der Sowjetunion negativ auf einen kleinen Teil der Bevölkerung ausgewirkt. Die Kirche habe von Gorbatschow die Losung "Perestroika" übernommen. Die Mehrheit der Menschen in der DDR aber unterstütze weiterhin die Staats- und Parteiführung.
10:00 Uhr Sitzung des Politbüros
In Ostberlin tritt das Politbüro im Gebäude des Zentralkomitees der SED zu einer zweitägigen Beratung zusammen. Zuvor informieren Schabowski und Krenz einige Mitglieder über den Entwurf einer Erklärung von Krenz. Darin betont er, die Errungenschaften des Sozialismus seien "mit allen Mitteln zu verteidigen." Ohne Veränderungen an der Parteispitze sei dies nicht möglich. Die Erklärung ist mit Mielke, Stoph und anderen abgesprochen. Als Honecker davon erfährt, kündigt er an, die Beratung des Entwurfs verhindern zu wollen und droht Krenz mit dessen politischem Ende. Der Dresdner Parteisekretär Hans Modrow, der dem Politbüro nicht angehört, teilt Honecker mit, er erwarte ein Erklärung zur Lage und, dass die Führung den Ernst der Situation begriffen habe. Parallel dazu übergibt Mielke "ziemlich aufschlussreiche Informationen des MfS" zu den Ereignissen in der DDR an Mitglieder und Kandidaten des Politbüros.
Am Morgen nach der Montagsdemo in Leipzig herrscht in der SED-Spitze Katerstimmung. Die Verantwortlichen in der Partei- und Staatsführung können die Ereignisse sehr klar deuten. Doch die Bereitschaft, sich den nötigen Veränderungen zu öffnen, ist noch nicht bei allen angekommen. Während die Pläne zu einem Wechsel an der Staatsspitze Form annehmen, hält Erich Honecker unverdrossen an seiner Macht fest. In der DDR-Öffentlichkeit wird die große Zahl an Demonstranten weiter verschwiegen. Die Presseorgane bringen weiter verunglimpfende Berichte über "Rowdys" und von westlichen Medien "inszenierte Tumulte", angestachelter "Krimineller und Krawallmacher". In bestellten Leserbriefen, empören sich Bürger über die Tumulte und wünschen sich "Ruhe auf unseren Straßen." Doch die Mehrheit der Bevölkerung glaubt "Hofnachrichten" längst nicht mehr.
9. Oktober: "Wir sind das Volk" - Tag der Entscheidung in Leipzig.
21:00 Uhr: Der Leipziger Demonstrationszug löst sich auf - er hat das Gesicht der Republik verändert
Allmählich löst sich die Montagsdemo auf, die Menschen kehren heim. Später berichtet Pfarrer Christian Führer, am Telefon im Westfernsehen, dass die Leipziger Demonstration friedlich verlaufen ist. In der Drehtür des Leipziger Hotel Merkur reichen Schefke und Radomski ihr brisantes Videomaterial an Ulrich Schwarz, den Leiter des Spiegel-Büros in Ost-Berlin, weiter. Er soll es am nächsten Tag nach West-Berlin bringen.
20.00 Uhr: In Dresden ist die SED-Leitung schon weiter
In Dresden wird in vier Dresdner Kirchen über die Ergebnisse eines Gesprächs von Bürgerrechtlern ("Die Gruppe der 20") mit Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer (SED) berichtet. An diesen Veranstaltungen nehmen etwa 20 000 Bürger teil. Am Vortag hatte der 1.Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden, Hans Modrow, daraufhin gewirkt, dass die seit dem 3. Oktober täglich in der Dresdner Innenstadt stattfindenden Demonstrationen nicht mehr gewaltsam von den Sicherheitskräften zerschlagen werden sollen.
Wie es zu der Deeskalation in Dresden kam, daran erinnern sich im Tagesspiegel-Interview, das Sie hier nachlesen können, zwei Protagonisten der damaligen Ereignisse.
19:15 Uhr: "Nun sind se schon durch"
Als Egon Krenz in einem Anruf die Richtigkeit des Handelns vor Ort bestätigt, ist die Geschichte schon über ihn hinweggegangen. Vom Turm der Reformierten Kirche am Innenstadtring filmen Siegbert Schefke und Aram Radomski den Demonstrationszug.
Sehen Sie hier die Aufnahmen, die Schefke und Radomski am 9. Oktober 1989 vom Kirchturm am Leipziger Innenstadtring machten.
19 Uhr: "Wir sind das Volk!" - die Menschen finden ihre Sprache wieder
An der Montagsdemo nehmen über 70 000 Menschen teil. Die Demonstranten ziehen über den gesamten Leipziger Innenstadtring in Richtung der Stasi-Zentrale auf der anderen Seite der Innenstadt. Sie bleiben angespannt, aber ruhig. In Sprechchören fordern sie die Zulassung des Neuen Forums, Reformen, freie Wahlen und einen Wechsel an der Spitze des Staates. Der vielstimmige Chor „Wir sind das Volk!“, aber auch der Aufruf „Keine Gewalt!“ hallen durch die Straßen der Stadt. Die zahlreichen Sicherheitskräfte werden stumme Zeugen eines fundamentalen Mentalitätswechsels unter den Bürgern der DDR. Als die Demonstranten die Stasi-Zentrale passieren, rufen sogar einige Demonstranten: „Schließt Euch an!“
18:35 Uhr: Die Einsatzkräfte werden zurückgezogen
Straßenburg kapituliert vor der unerwartet hohen Zahl von Demonstranten und gibt die Order „Nicht schießen!“ heraus. Die Einsatzleitung geht zur „Eigensicherung der Einsatzkräfte“ über. Nach der Entscheidung zum Rückzug, macht sich auch unter den Einsatztruppen Erleichterung breit.
18:30 Uhr: Krenz vertröstet die Leipziger Einsatzleitung
Krenz sichert dem Leipziger Einsatzleiter Helmut Hackenberg einen raschen Rückruf zu. Später wird er sich darauf berufen, Honecker nicht erreicht zu haben. Er spielt auf Zeit. Im Falle einer Eskalation, würde diese Honecker angelastet werden. Krenz könnte sich dann als Reformer darstellen, der auf die Bürger zugeht.
18.26 Uhr: Auch die SED-Spitze in Berlin zögert
Die Leipziger Polizei-Leitung erwartet eine Weisung der SED-Spitze in Ost-Berlin, wie und ob gegen die Demonstranten vorgegangen werden soll. Dort offenbaren sich erhebliche Differenzen zwischen Staats- und Parteichef Erich Honecker und seinem Kronprinzen Egon Krenz. Noch vor wenigen Wochen hatte Krenz die „chinesische Lösung“ öffentlich gelobt. Unter dem Einwirken Gorbatschows neigt er nun eher zur Deeskalation.
18.15 Uhr: Innenminister Dickel gibt die Verantwortung ab
Generalmajor Straßenburg fordert Polizei-Verstärkung aus dem nahen Halle an, wo sich in der Innenstadt ebenfalls hunderte Bürger versammelt haben. Am Telefon informiert er Innenminister Dickel über die riesige, völlig friedliche Menschenmenge und fordert eine Entscheidung. Dickel erwidert, man solle in Leipzig in eigener Verantwortung nach Einschätzung der Lage der Dinge entscheiden.
18.10 Uhr: Gerüchte um einen Schießbefehl
Gerüchte um einen angeblichen Schießbefehl kommen auf. Doch die Panzerwagen, die auf Anweisung des Stabschefs der Bereitschaftspolizei, Oberstleutnant Wächtler, mit Maschinengewehren bestückt sind, bleiben in der Kaserne und stehen dort mit laufenden Motoren.
Nach den Ereignissen im Sommer in Peking lag eine so genannte "chinesische Lösung" durchaus in der Luft.
Lesen Sie hier, wie knapp die DDR einer Katastrophe entging.
18.05 Uhr: In Halle eskaliert die Situation
Die Teilnehmer der Andacht vor der Marienkirche werden von Polizeieinheiten attackiert und verprügelt. 37 Personen werden festgesetzt – gegen 4 Personen werden Verfahren wegen „Beschimpfungen von Sicherheitskräften“ angesetzt und gegen eine wegen „Tätlichkeiten gegenüber einem Angehörigen der Volkspolizei.“
18 Uhr: Die Montagsdemo beginnt - wird die Staatsmacht zuschlagen?
Nach und nach leeren sich die Kirchenhäuser in Leipzig, der Demonstrationszug setzt sich zunächst ohne konkretes Ziel Richtung Innenstadtring in Bewegung. Die Menschen sind weiterhin angespannt und ungewiss, ob die Staatsmacht nicht doch Gewalt anwenden wird. Die schiere Masse der Demonstranten und die Erklärung der „Leipziger Sechs“ gibt ihnen aber doch Mut.
17:45 Uhr: Auch in Halle beginnt das Friedensgebet
Die kirchlichen Amtsträger in Halle werden von Mitarbeitern der Staatssicherheit aufgefordert, die Versammlung aufzulösen und die Transparente zu entfernen. Wenige Minuten später beginnt das Friedensgebet. Etwa 200 Personen begeben sich mit den Transparenten in die Marienkirche. Ebenso viele harren weiter vor der Kirche aus.
17:15 Uhr: In Halle werden Transparente entfaltet
Vor der Marienkirche in Halle werden Kerzen angezündet und Transparente („Gewaltloses Widerstehen“, „Schweigen für Leipzig“, „Schweigen für Reformen“ und „Schweigen für Hierbleiben“) entfaltet. Am Schaukasten der Kirche wird ein Plakat („Wir schweigen, obwohl wir viel zu sagen haben“) angebracht.
17 Uhr: Tausende nehmen am Friedensgebet teil
Zu den Friedensgebeten versammeln sich in vier Kirchen 9 000 Menschen, etwa 1000 davon sind verdeckte Mitarbeiter der Staatssicherheit. Aber weit mehr noch halten sich rund um die Gotteshäuser auf. Während der Andacht berichten zwei Vertreter der Bürgerbewegung aus Dresden über die Bereitschaft der dortigen Bezirksleitung zum Dialog. Anschließend wird die Erklärung der „Leipziger Sechs“ verlesen. Sie trägt maßgeblich zum friedlichen Ablauf der Montagsdemo bei.
16.45 Uhr: Auch in Halle wird demonstriert - Zwei Junge Männer wollen das Geschehen in Leipzig filmen
In Halle/Saale versammeln sich zur gleichen Zeit bis zu 400 Demonstranten vor der zentralen Marienkirche. Nach Berlin, Dresden, Plauen und Leipzig wollen nun auch hier die Bürger für Reformen eintreten. In Leipzig suchen derweil zwei junge Männer aus Berlin einen guten Platz, um das Geschehen heimlich zu filmen. Siegbert Schefke und Aram Radomski versorgen westdeutsche Fernsehsender seit drei Jahren mit undercover aufgenommenen Berichten über Umweltzerstörung, das Waldsterben und den Verfall der ostdeutschen Städte. Ihr Filmmaterial gelangt über westdeutsche Journalisten und Politiker, die an der Grenze nicht kontrolliert werden dürfen, zum Sender Freies Berlin (SFB). Für ihre Aufnahmen wollen sie zunächst einen frei zugänglichen Balkon eines Hochhauses am Hauptbahnhof betreten. Doch ein Hausmeister warnt, hier sei überall Stasi. Der Pfarrer der Reformierten Kirche am Innenstadtring lässt sie schließlich den Kirchturm erklimmen. Dort harren sie - auf das Schlimmste gefasst - aus.
Wie Siegbert Schefke und Aram Radomski weiter vorgingen und was sie bewegt hat, können Sie hier in einer Reportage von Lothar Heinke nachlesen.
16.30 Uhr: Die Kirchen sind längst überfüllt - Masur nimmt den Aufruf der "Leipziger Sechs" auf
Die Erklärung der "Leipziger Sechs" wird von Masur im Tonstudio des Gewandhauses auf Band gesprochen und dem Leipziger Stadtfunk übergeben. Alle bewaffneten Einheiten haben sich postiert und sind zur „Zerschlagung der Montagsdemonstration vorbereitet.“ Die Verantwortlichen gehen von 30 000 bis 50 000 Teilnehmern aus. Immer noch strömen Tausende in die Innenstadt. Die Atmosphäre ist "bis zum Bersten gespannt." Wegen Überfüllung ist es inzwischen fast unmöglich, die Nikolaikirche zu betreten.
Als weltberühmter Kapellmeister am Leipziger Gewandhaus genoss Kurt Masur auch in der DDR große Popularität. Seiner moralischen Integrität ist die beruhigender Wirkung des Aufrufs der "Leipziger Sechs" zu verdanken. Später wurde Masur immer wieder als "Retter von Leipzig" geehrt. Voller Bescheidenheit wies Masur dagegen im Interview mit dem Tagesspiegel im Jahr 2007 darauf hin, das Wunder von Leipzig sei vor allem "ein Verdienst dieser klugen Stadt, aller Leute, ganz gleich in welcher Funktion" gewesen. Lesen sie hier das ganze Interview von damals noch einmal nach.
16 Uhr: Demonstranten kommen aus der ganzen Republik
Allmählich füllen sich die Straßen der Innenstadt. Auch von außerhalb reisen tausende Bürger an. Wie Jörg Köhnen, damals Lehrling beim Energiekombinat Halle und einer der Vielen, die der Wunsch nach Veränderung nach Leipzig zieht, berichtet, herrscht in den brechend gefüllten Zügen eine gespenstische Ruhe. Die meisten Insassen wissen, was ihre Mitfahrer vorhaben, aber keiner verliert darüber ein Wort. Viele kommen trotz einer diffusen Angst, die Regierung könnte das zarte Pflänzchen Demokratiebewegung zertreten. An fast jeder Ecke in der Leipziger Innenstadt stehen Einsatzwagen der mit Schilden und Gummiknüppeln ausgerüsteten Bereitschaftspolizei.
15:30 Uhr: Die "Leipziger Sechs" rufen zu Besonnenheit auf - Kurt Masur und fünf weitere Bürger übernehmen Verantwortung
Professor Masur, der bekannte Kabarettist Bernd-Lutz Lange und der Theologe Peter Zimmermann handeln mit den Sekretären der SED-Bezirksleitung Kurt Meyer, Jochen Pommert und Roland Wötzel ein Sicherheitsbündnis aus. In Masurs Haus in Leutzsch wird ein gemeinsamer Aufruf aufgesetzt. "Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung." Der freie "Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land" müsse "auch mit unserer Regierung geführt" werden. Und schließlich die Mahnung an Polizisten wie Demonstranten: "Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird."
14:30 Uhr: Stasi-Mitarbeiter besetzen die Plätze in der Nikolaikirche
Seit Mittag haben sich schon 600 Personen - viele von ihnen Stasi-Mitarbeiter – in der Nikolaikirche in Leipzig eingefunden. Christian Führer, Pfarrer der Nikolaikirche, begrüßt die Genossen und erklärt die Kirche stehe "selbstverständlich immer und für jedermann offen".
Christian Führer wird 1980 Pfarrer an der Nikolaikirche in Leipzig. Die Friedensgebete am Montag führt er in seinem zweiten Jahr ein. Im Herbst 1989 wird er zu einer zentralen Figur der friedlichen Revolution. Am 30. Juni diesen Jahres starb Führer im Alter von 71 Jahren. Im Jahr 2009 führten Robert Ide und Matthias Schlegel ein Interview mit Führer, das Sie hier noch einmal nachlesen können.
14:00 Uhr: Momper warnt in Berlin vor Scharfmacherei
Auch in Berlin herrscht an diesem 9. Oktober keine Normalität. Die seit dem 7. Oktober immer noch gesperrten Grenzübergänge nach West-Berlin werden nach Bonner Protest wieder geöffnet. Der West-Berliner Bürgermeister Walter Momper warnt vor Scharfmacherei.
Sie rufen nach Freiheit und "Gorbi" und werden dafür verprügelt - am Tag des DDR-Geburtstags: Wie der 7. Oktober in Berlin verlief zeichnet Lothar Heinke, der damals dabei war, in seiner Reportage nach. Lesen Sie den Text hier.
13:45 Uhr: Kurt Masur wendet sich an SED-Kultursekretär Meyer
Gewandhauskapellmeister Kurt Masur schaltet sich erstmals an dem Tag aktiv ein. Er wendet sich an den SED-Kultursekretär Kurt Meyer, um nach einer Lösung zu suchen, die das Schlimmste verhindert. Es wird nicht Masurs einzige Tat an diesem Tag bleiben.
Im Tagesspiegel-Salon am Mittwochabend erinnern sich Lothar Heinke, Robert Ide und der Zeichner mawil an die Zeit des Mauerfalls. Sie erzählen von der Schere im Kopf. Und von lustigen Begegnungen zwischen Ost und West. Hier der Text dazu.
13:30 Uhr: Erste Festnahmen vor der Oper
Vor der Leipziger Oper kommt es zu Festnahmen. Vom gegenüberliegenden Gewandhaus beobachtet Kurt Masur die Szenerie und sagt daraufhin die angesetzten Gewandhausproben ab.
Am 9. November fällt die Mauer in Berlin, aber Reste sind noch heute erhalten. Das berühmteste erhaltene Teilstück ist die East Side Gallery - einer der Touristenmagneten in Berlin. Unsere Fotografin Kitty Kleist-Heinrich ist die 1316 Meter der East Side Gallery abgelaufen und hat jedes einzelne Stück Mauerkunst im Bild festgehalten:
12:00 Uhr: Innenminister rät zur Mäßigung
In einem Telefonat berät sich Bezirkspolizeichef Generalmajor Straßenburg mit Innenminister Friedrich Dickel. Der 1913 geborene Dickel leitet seit 1963 das Innenministerium, gilt als Hardliner und war als Chef der Volkspolizei wesentlich für das massive Vorgehen gegen Demonstranten am 6./7. Oktober 1989 verantwortlich. Heute rät er angesichts der heiklen Lage aber zur Mäßigung.
07.30 Uhr: Die SED-Bezirksleitung tagt
Die SED ist nervös. Am Republikgeburtstag zwei Tage zuvor war es in Berlin zu Demonstrationen gekommen. Die Lage war aus Sicht der SED nur schwer unter Kontrolle zu halten.
Die Partei ist sich am Morgen des 9. Oktober sicher, dass die Montagsdemo an diesem Tag nicht verhindert werden kann und beim Einsatz von Sicherheitskräften, bürgerkriegsähnliche Zustände zu erwarten sind. Die SED-Bezirksleitung in Leipzig beschließt, 8000 Sicherheitskräfte zusammen zu ziehen – Bereitschaftspolizei, fünf Kampfgruppen-Hundertschaften, Wasserwerfer, Armee-Einheiten mit aufmunitionierten Schützenpanzerwagen und tausende „gesellschaftliche Kräfte“ in Zivil, die sich störend unter die Demonstranten mischen sollen. Die Auflösung der Demonstration (Abdrängen, Aufspalten, Einkesseln und die Isolierung von „Rädelsführern“) wird geprobt. Krankenhäuser und Ärzte werden in Alarmbereitschaft versetzt. Gerüchte, in Leipzigs Krankenhäusern seien zusätzliche Blutkonserven angekommen, verbreiten sich. Wird die Ost-Berliner SED-Führung dem chinesischen Beispiel folgen und die Oppositionsbewegung ohne Rücksicht auf Verluste niederschlagen? Die Innenstadt soll abgeriegelt werden und die Stasi das Geschehen von den Dächern der Stadt filmen.
Thomas Heil