Erich Mielke und sein geheimes Dossier: Die brisanten Akten über die Spitzengenossen
Stasi-Chef Erich Mielke hat einst ein umfangreiches geheimes Dossier über die Spitzengenossen von SED und Regierung anlegen lassen. Ein neues Buch enthüllt erstmals Details zur Ablage "Rote Nelke".
"Genossen, wir müssen alles wissen." Das war einst die Maxime von Stasi-Chef Erich Mielke. Und so ließ der Minister für Staatssicherheit nicht nur das gemeine Volk auf beispiellose Weise ausspähen und aushorchen, sondern er wollte auch über seine Genossen in der Führungsspitze von Partei und Staat alles wissen. Zu diesem Zweck legte Mielke eine geheime Ablage unter dem Namen "Rote Nelke" an, in der biografisches und auch kompromittierendes Material über die DDR-Funktionäre zusammengetragen wurde. In dem Buch "Die indiskrete Gesellschaft" von Christian Booß und Helmut Müller-Enbergs, beide wissenschaftliche Mitarbeiter bei der Stasiunterlagenbehörde, werden erstmals Details zu diesen Geheimakten präsentiert. Das Buch soll auf der Frankfurter Buchmesse der Öffentlichkeit vorgestellt werden.
Mielke selbst legte die interne Konspiration fest
Zwar wurden Teile der Ablage, für die Mielke selbst die interne Konspiration festlegte, noch im Jahr 1989 vernichtet. Doch aus den Resten konnte rekonstruiert werden, welch brisantes und potenzielles Erpressungsmaterial der Stasi-Chef damit in den Händen hielt. So umfassten die Akten, zu denen nur wenige hochrangige MfS-Funktionäre Zugang hatten, Informationen zu so prominenten SED-Funktionären wie Volksbildungsministerin Margot Honecker, Innenminister Friedrich Dickel, Politbüromitgliedern wie Günter Mittag und Hermann Axen, aber auch vom Präsidenten des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) Manfred Ewald, dem Maler Willi Sitte oder der früheren Justizministerin Hilde Benjamin. Allein für das Jahr 1989 sind in der Sammlung 199 Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees und des Politbüros der SED namentlich aufgelistet. Der Vorgang "Rote Nelke" enthielt aber auch Akten über Mitglieder des Ministerrates, des Staatsrates und des Präsidiums der Volkskammer, darunter auch führende Mitglieder der Blockparteien. Mielke verfügte damit zum einen über einen Erkenntnisstand zu den politischen Eliten, zum anderen wurden die Spitzenkader durch die Separierung dieses Aktenbestandes innerhalb der Stasi aber auch abgeschirmt vor unangenehmen Nachforschungen.
Aus den erhaltenen Dossiers geht hervor, dass etliche Nomenklaturkader schon vor ihrem Aufstieg in die Spitze inoffizielle Beziehungen zum Ministerium für Staatssicherheit hatten, also als IM, inoffizielle Mitarbeiter, registriert waren. Vor ihrem Karrieresprung wurden sie im Auftrag des Zentralkomitees vom MfS überprüft. "Offenbar war eine IM-Phase wie ein Initiationsritus Teil vieler Spitzenkarrieren in der DDR", heißt es in dem Buch.
Die Stasi wurde auf diese Weise zum Personalberater der SED.
Aus den Unterlagen wird auch deutlich, dass viele Nomenklaturkader auch nach ihrem Aufstieg weiter offiziell mit dem MfS zusammenarbeiteten. Es war eine für beide nützliche Wechselbeziehung: Sie informierten einerseits das MfS und ließen sich andererseits Informationen vom MfS zukommen, um ihre Personalpolitik im Interesse der SED zu steuern. Als Beispiele für solche personalpolitischen Verquickungen werden in den Unterlagen die für Frauenfragen zuständige ZK-Sekretärin Ingeburg Lange, der Reichsbahnpräsident Otto Arndt oder Bauminister Wolfgang Junker genannt.
Nach Ansicht der Autoren wurde "das Phänomen dieser offiziellen Partner des MfS bisher in der Forschung unterschätzt". Denn sie hätten nicht nur berichtet, sondern auf der Grundlage des Informationsaustausches mit dem MfS auch Personalentscheidungen getroffen, die in Biografien von Bürgern eingriffen. "Sie hatten also deutlich mehr Macht als der durchschnittliche IM. Die Nomenklaturkader waren die eigentlichen Machthaber in der SED-Diktatur", resümieren die Autoren.
Die Erkenntnisse aus Mielkes Geheimakte relativieren auch die verbreitete These, dass SED-Kader, zumal in Spitzenfunktionen, von der Stasi nicht als IM angeworben werden durften. Immerhin 22 Prozent der Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees der SED im Jahr 1986 waren einmal im Leben in einem IM-Vorgang oder einem Informantenvorgang des Militärnachrichtendienstes erfasst. Waren sie einmal Spitzenfunktionäre, bewegte sich die Kooperation mit der Stasi in vielen Fällen in einer Grauzone zwischen offizieller und inoffizieller Mitarbeit.
Eine Todsünde: Verheimlichte NS-Verstrickungen
In dem Dossier "Rote Nelke" ist auch belegt, dass zu manchen Spitzenfunktionären der Stasi auch kompromittierende Fakten vorlagen. Bei der Überprüfung der höheren Nomenklatura zog die dafür zuständige Stasi-Hauptabteilung Erkundigungen bei der Polizei ein und recherchierte zu Verwandten ersten Grades. Als besonders problematisch galten verheimlichte NS-Verstrickungen, Westkontakte und republikflüchtige Verwandte. Aber auch charakterliche Eigenschaften wurden registriert. So notierte das MfS zum späteren Oberbürgermeister von Ostberlin, Erhard Krack, er neige "etwas zur Überheblichkeit". Hintergrund war offenbar, dass Krack sich geweigert hatte, der Stasi die privaten Räume der Familie als konspirative Wohnung zur Verfügung zu stellen.
Jäh endete zum Beispiel auch die Karriere des Funktionärs der Bauernpartei DBD Werner Titel. Als IM "Lehmann" hatte er eifrig aus der Partei berichtet, war in die Volkskammer eingezogen und sollte 1971 erster Minister für Umweltschutz und Wasserwirtschaft werden. In der Ernennungsphase entdeckte das MfS, dass Titels Vater 1948 als ehemaliger SS-Offizier wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt worden war. Titel hatte das in seinen Personalunterlagen nicht offenbart. Das MfS drängte die Parteispitze der DBD, entsprechende personelle Konsequenzen zu ziehen. Kurz darauf starb Titel unter bislang nicht geklärten Umständen - womöglich aufgrund des psychischen Druckes.
Bei anderen – wie dem Politbüromitglied Hermann Axen – behielt Mielke sein Wissen offenbar für sich. Möglicherweise hortete er Erpressungsmaterial gegen einen möglichen Rivalen im Politbüro. Denn das MfS verfügte über Gestapo- und Gerichtsakten, aus denen hervorging, dass der von Jugendzeiten an als Kommunist und Antifaschist hervorgetretene Axen bei einer Vernehmung durch die Leipziger Polizei im Jahr 1934 Details über die Bildung einer illegalen Jugendgruppe und die Namen von fünf Mitkämpfern genannt habe. Axen selbst hatte in seinen Memoiren geschrieben, er sei "besinnungslos geschlagen" worden, weil er keine Aussagen gemacht habe.
Nicht jeder Informant war ein IM
Das Phänomen Denunziation in der "indiskreten" DDR-Gesellschaft
Seit langem wird beklagt, dass das Thema DDR-Vergangenheit zu stark auf das Wirken der Stasi und deren inoffizielle Mitarbeiter in allen Schichten der Gesellschaft reduziert wird. Über die "richtige" Zahl der IM entbrannte sogar in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen selbst eine erbitterte Debatte. Nun weiten Booß und Müller-Enbergs den Blick. Es gab, so arbeiten sie heraus, zahlreiche Informanten jenseits der IM: Auskunftspersonen berichteten über Nachbarn im Wohnumfeld, „offizielle“ Partner in Betrieben, staatlichen und politischen Institutionen.
Millionen von Personendossiers seien beim MfS mit Hilfe solcher Informanten entstanden, die zumeist keine IM waren. "Diese Dossiers enthalten teils sehr private, intime Informationen aus dem Wohnumfeld oder Arbeitsbereich der Ausgeforschten. Angaben zur Moral, dem Konsumverhalten, der Beteiligung an politisch-gesellschaftlichen Aktivitäten (etwa Fahne heraushängen) und Westkontakte gehörten zu den Kriterien, die vom MfS regelmäßig abgefragt wurden." Aus diesem Sachverhalt erklärt sich ihr Buchtitel: Die DDR sei insofern eine erstaunlich „indiskrete Gesellschaft“ gewesen.
Die Auswertung einer Kartei von Auskunftspersonen (AKP) in Rostock habe gezeigt, dass rund 18 Prozent der Bevölkerung überwiegend auskunftswillig gewesen seien. Für den Kreis Saalfeld liegt erstmalig eine Detailanalyse vor. Sie besagt, dass 5,7 Prozent aller Einwohner vom MfS als Auskunftspersonen erfasst waren. In dem Grenzkreis sind es meist Offiziere, Polizisten, Freiwillige Polizeihelfer , Mitglieder der SED, Hausbuchführer, Mitglieder von Hausgemeinschaftsleitungen (HGL), zum Teil auch hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter des MfS, Angehörige der Nationalen Volksarmee oder des Zoll, die als Informanten angeheuert wurden.
Ansprechpartner in Betrieben, staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen seien vor allem SED-Nomenklaturkader, also das Rückgrat der SED, die Machtelite der DDR, gewesen. Diese Gruppe der wirklich Entscheidenden in der SED-Dikatur sei im Vergleich zu den IM bisher vernachlässigt worden.
Gleichwohl warnen die Autoren davor, derartige Informanten pauschal als Denunzianten abzuqualifizieren: "Denn der klassische Denunziant wendet sich von sich aus an die Obrigkeit, um Dritte anzuschwärzen. IM wurden dagegen grundsätzlich vom MfS angesprochen. Die Auskunftspersonen wurden sogar unter Legende kontaktiert." Offizielle Partner des MfS seien teilweise sogar per Gesetz zur Zusammenarbeit verpflichtet gewesen. Zugleich habe es jedoch zahlreiche IM, AKP und Vorgesetzte und Kollegen im Betrieb gegeben, die jegliche ethische Barrieren fallen gelassen und ohne Not berichtet hätten, freiwillig und indiskret, dass man in diesem Fall von Denunziation sprechen solle. Die Autoren betonen: "Es geht also um Differenzierung statt Pauschalisierung."
Christian Booß, Helmut Müller-Enbergs: Die indiskrete Gesellschaft. Studien zum Denunziationskomplex und zu inoffiziellen Mitarbeitern. Frankfurt (Main): Verlag Polizeiwissenschaft 2014, 268 S., ISBN 978-3-86676-384-5, 29,80 €.