Massendemo auf dem Alex: Das Ende der Angst
Wir sind das Volk, skandiert die Menge. Einige singen sogar "So ein Tag, so wunderschön wie heute": Die Demo am 4. November 1989 auf dem Alex wird zum Protest-Happening gegen die Verhältnisse in der DDR. Lothar Heinke, damals Journalist bei der liberalen Ost-Berliner Tageszeitung "Der Morgen", erinnert sich.
Vor dem „Haus des Reisens“, an der nordöstlichen Ecke vom Alexanderplatz, stand am 4. November 1989 die Rednertribüne, ein zusammengezimmertes Podium auf einem Lkw-Hänger. Der Bürgerrechtler Jens Reich hatte da oben „ein beklemmendes Gefühl“, Berlins SED-Chef Günter Schabowski murmelte, bevor ihm Friedrich Schorlemmer aufmunternd auf die Schulter schlug: „Ich steig ja nicht aufs Schafott“, und Jung-Schauspieler Jan-Josef Liefers erinnert sich an eine Begegnung beim Warten auf seinen Auftritt: Da kam ein gut aussehender, großer Mann auf ihn zu, zeigte auf ein kleines Tischchen mit Kaffee und Backwerk und sagte: Möchten Sie ein Stück Pflaumenkuchen? „Der jahrzehntelang gesuchte Top-Spion und Geheimdienstchef Markus Wolf bietet mir ein Stück Pflaumenkuchen an – da wusste ich: Die DDR war am Ende.“
Ost-Berlin, die Hauptstadt der DDR, vor 20 Jahren. Es rumort im Land. Honecker ist gegangen worden. Die Gethsemanekirche wird zu klein für alle, die kommen und hören, was sich im Lande tut: Im Oktober vereinen mehr als 300 Veranstaltungen mit Forderungen nach einer anderen Politik tausende Menschen.
Am 17. Oktober meldet Wolfgang Holz vom Berliner Ensemble eine Kundgebung für Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit in der Hauptstadt an, Initiatoren sind Berlins Kunst- und Kulturschaffende, also Schauspieler und Schriftsteller. Die SED möchte, wie gewohnt, auch diese Sache unter ihre Kontrolle bringen, Genossen mischen sich unters Protestvolk. Viele Redner und die Texte der Transparente dürften manchen von ihnen aus dem Herzen sprechen. Andere fürchten zähneknirschend, dass hier die Konterrevolution marschiert, oder sie werden blass beim grandiosen Chor von Volkes Stimme. Die große Masse aber feiert ein friedliches und fröhliches Happening. Nie hat man sich freier gefühlt als an diesem Tag.
Unglaubliches geschieht an diesem Sonnabend. Wir Presseschaffende vom „Morgen“ treffen uns in der Karl-Liebknecht-Straße und marschieren Richtung Palast der Republik. Am Straßenrand lächeln Volkspolizisten, daneben stehen Organisationshelfer mit der grün-gelben Schärpe „Keine Gewalt“. Am Palast ist ein neuralgischer Punkt: Geradeaus zum Brandenburger Tor oder links herum zum Platz der Kundgebung auf den Alexanderplatz? Die Angst der Genossen und die Kette der Polizisten sind unbegründet: Niemand hatte die Absicht, eine Mauer zu durchbrechen oder den Republikpalast samt Staatsrat zu stürmen. Stattdessen wird hier der verknöcherte Sozialismus made in GDR einfach weggelacht. Um uns ist Volksfeststimmung bei dieser ersten Demo, zu der die Leute freiwillig, gern und mit einer lodernden Begeisterung gekommen sind. Dies ist das Ende der Angst. Plötzlich funktioniert der aufrechte Gang. Die Polizei schützt eine nach alter Terminologie „staatsfeindliche Zusammenrottung“, und für manche Losung, die tags zuvor spontan aufs Bettlaken gepinselt wurde, hätte es gestern noch drei Jahre Knast gegeben. Aber heute ist morgen.
Da lesen wir: „Keine Fußtritte mehr – Macht des Volkes muß her.“ „Freie Wahlen für mündige Bürger.“ „Schluß mit der Diktatur der SED.“ „Wann wird Wandlitz Feudalmuseum?“ „Danke Ungarn!“ „Wir sind das Volk“, skandiert die Menge, singt „Die Internationale“ oder „So ein Tag, so wunderschön wie heute“. Als der Himmel aufreißt und die Sonne kommt, ruft der Chor im Takt: „Reisewetter!“ Einer formuliert: „Honni war jut, Ejon is jut und allet wird jut.“ Den Gipfel der Satire erklimmt jener Bühnenbildner, der ein riesiges Plakat im Hochformat durch die Menge trägt, das unverkennbar einen Egon-Krenz-Kopf mit Schlafmütze grienend im Bett zeigt: „Großmutter, warum hast du so große Zähne?“ Drastischer verkündigt es ein Betttuch im Querformat: „Unsre Herzenssache ist, dass sich Egon Krenz verpisst!“ Ein Gast aus Ilmenau, der sich extra wegen dieser (übrigens nur im „Morgen“ angekündigten) Demonstration in den Zug gesetzt hatte, sagt staunend: „Ihr Berliner mit Eurem Einfallsreichtum seid nicht zu schlagen. Und diese klugen Köpfe wären uns um ein Haar verloren gegangen.“
Auf dem Platz wird gerade Markus Wolf ausgepfiffen. Die Kundgebung ist in vollem Gange. Nur an der Weltzeituhr ist noch etwas Raum. Der Veranstalter spricht später von 500 000 Teilnehmern, manche übertreiben mit einer Million. Das DDR-Fernsehen überträgt original, dies ist die eine Sensation des Tages.
Die andere sind die Reden. Bis heute klingen manche Sätze im Ohr, wie Hammerschläge gegen das verknöcherte System und gegen die Mauer. Hier wollen die meisten zur Reisefreiheit noch eine andere, modernere, von Parteidiktatur befreite DDR. „Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg!“ ruft Christa Wolf. Und „der Nestor unserer Bewegung“, Stefan Heym, formuliert unsere Gedanken in einem einzigen Satz: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit.“ Orkanartiger Beifall. Der wiederholt sich, als die Schauspielerin Steffi Spira für ihre Enkel wünscht, dass sie ohne Fahnenappell aufwachsen, dass die greisen Führer zurücktreten und dass – nach Brechts Lob der Dialektik – „Aus Niemals wird: Heute noch!“
20 Jahre später spricht Jens Reich von einem grandiosen Happening, für Friedrich Schorlemmer vollendete sich bei dieser öffentlichen Delegitimation der Herrschenden durch das Volk die friedliche Oktoberrevolution, und Schauspielerin Johanna Schall sagt, dass sie nach diesem „euphorischen Tag mit Disziplin und Anarchie“ nie wieder so viele wunderbar stolze Deutsche gesehen habe. Unvergessliche Stunden. Fünf Tage noch – dann drückt das Volk die Mauer ein.