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Kultur: Der IM in uns allen

Es gab einmal in der Gegend um Stuttgart, also weit weg von Berlin und jeder Stasi-Diskussion, einen Zollbeamten, der über lange Zeit ein Doppelleben geführt hatte.Nach außen war er der brave Zöllner, der zuverlässig seinen Dienst absolvierte.

Es gab einmal in der Gegend um Stuttgart, also weit weg von Berlin und jeder Stasi-Diskussion, einen Zollbeamten, der über lange Zeit ein Doppelleben geführt hatte.Nach außen war er der brave Zöllner, der zuverlässig seinen Dienst absolvierte.In Wahrheit ließ er sich aber für die unkomplizierte Abfertigung verschiedener Fahrzeuge jahrzehntelang schmieren.Irgendwann flog die Sache auf, die Lokalblätter waren daraufhin voll mit Berichten über den bestechlichen Beamten, und selten fehlte dabei die Frage: "Wie konnte der nur?" In seinem Abschiedsbrief schrieb der Zöllner, er könne mit der Schande nicht leben.Bevor er sich selbst erschoß, tötete er seine Frau und die drei Kinder.Auch seine Familie wolle er "auf diese Weise" vor der öffentlichen Häme beschützen.Mehr als zehn Jahre danach muß man feststellen: Wäre die kleine Korruption nicht ans Licht gekommen, würde er vermutlich heute noch seine Rolle als geachteter, vielleicht glücklicher Familienvater spielen.

Im Süden Deutschlands ereignete sich irgendwann auch noch eine andere Geschichte, die scheinbar wieder so gar nichts mit der aktuellen Stasi-Diskussion zu tun hat.Der wohlbeleibte Bürgermeister eines tief katholischen oberbayerischen Städtchens kam in einer für ihn doch eher unpassenden Situation ums Leben.Dieser Mann war nämlich sehr fromm gewesen und vergaß in keiner politischen Rede, den Sittenverfall der Welt anzuprangern.Besonders die Dinge zwischen Mann und Frau hatten es ihm angetan, gerne predigte er Tugenden wie Enthaltsamkeit vor der Ehe und partnerschaftliche Treue.Er sprach in diesem Zusammenhang gerne vom "Teufel, der besonders die jungen Menschen gepackt hat".Man weiß nicht, wie der Lieblingsprostituierten des Bürgermeisters diese Reden gefallen haben.Bekannt ist nur, daß er auch am letzten Freitag seines Lebens wie immer kurz nach Feierabend bei ihr im Bett lag und immer noch dort war, als der Notarzt nur noch den plötzlichen Herztod feststellen konnte.

Diese beiden Geschichten haben auf den ersten Blick natürlich nichts von der politischen Dimension etwa eines Falles wie desjenigen von Frau Oechelhaeuser, dieser ostdeutschen Kabarettistin, die sich all die Jahre auf der Bühne der "Distel" über die inoffiziellen Mitarbeiter aufgeregt hatte, obwohl sie doch die ganze Zeit wußte, daß sie selbst eine war.Nur eine, eher psychologische, Gemeinsamkeit gibt es vielleicht doch: Der Zöllner, der Bürgermeister und die Kabarettistin haben eine weitere Existenz gelebt, von der in ihrem persönlichen Umfeld kaum jemand eine Ahnung hatte.

Könnte man sich also vorstellen, daß zumindest das Phänomen des Doppellebens auch eine deutsch-deutsche Angelegenheit ist, daß Menschen sowohl im Osten als auch im Westen gelegentlich etwas zu verbergen haben? Wolfgang Hildesheimer hat in seinem Roman "Tynset" einst einen Mann beschrieben, der bei ihm unbekannten Nachbarn wahllos anruft und nur diesen einen Satz sagt: "Alles ist aufgeflogen." Die meisten antworten nur: "Wirklich alles?" - bevor sie mit einem hastig gepackten Koffer fluchtartig das Haus verlassen.Es fragt sich durchaus, wer sich heutzutage im Anschluß an einen solchen Telephonanruf häufiger aus dem Staub machen würde: eher mehr Ossis oder mehr Wessis? Sicher ist wohl nur, daß die Fluchtgründe recht unterschiedlich wären.

Vielleicht ist es ein bißchen hilflos, die Diskussion über die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit auf diese allgemeinpsychologische Ebene zu bringen, sozusagen nach dem Motto, irgendwelche Gemeinsamkeiten muß es doch geben zwischen Ost und West.Aber vielleicht ist Hilflosigkeit überhaupt das richtige Wort, um zu beschreiben, wie man sich als Beobachter dieser Diskussion fühlt, die vor zehn Jahren begonnen hat und die, gesamtdeutsch betrachtet, nur noch als erbärmlich zu bezeichnen ist.Das Muster des Jahres 1999 sieht so aus: Immer wenn ein neuer Fall eines inoffiziellen Mitarbeiters bekannt wird, wie jüngst die SPD-Sprecherin Dörte Caspary oder eben Gisela Oechelhäuser, dann reagiert der Westen mit Schweigen, mit einer Stille, die nach Verachtung klingt.Wie wenn der mißratene Sohn der Familie schon und doch wieder Drogen nimmt, was soll man noch groß sagen.Oder direkter formuliert: Na ja, wieder ein Spitzel, gibt es aus der ehemaligen DDR eigentlich irgendjemanden, der keiner war?

Und der Osten Deutschlands verkrampft sich, einer Depression ähnlich.Da gibt es welche, die nichtmal mehr hören wollen, wenn wieder einer aufgeflogen ist.Bei anderen scheint die Verwicklung in Stasi-Angelegenheiten so etwas wie eine Clubkarte zu sein, etwa bei der PDS, die sich ja schon aus historischen Ursachen in den Abgründen der ostdeutschen Seelen zu Hause fühlt.Und selbst diejenigen, die sich der Diskussion stellen und darüber reden und schreiben, tun dies auf eine merkwürdig distanzierte Art, als wären die Vorgänge vonNebel umhüllt.Alles Konkrete fragt man nicht, sagt man nicht.Spätestens im Angesicht von Andeutungen, die gelegentlich an Hieroglyphen erinnern, begreift man als Wessi, daß 40 Jahre doch eine ziemlich lange Zeit sind.Meint man als gebürtiger Bayer zum Beispiel, daß bei jedem spät enttarnten Stasispitzel eine der wichtigsten Fragen ist, warum er denn so lange geschwiegen hat, bekommt man von vielen Ossis oft nur ein Schulterzucken zur Antwort, was ausdrücken soll: Ach, diese Geschichten sind so unendlich kompliziert, das kann man gar nicht alles erklären.Schon gar nicht einem, der nicht dabeigewesen ist.Wenn jung und alt sich nicht verstehen, spricht man gerne vom Generationenkonflikt.Wie nennt sich das, wenn Ost- und Westmenschen aneinander vorbeireden?

Ziemlich rasch nach der Wende fing es an, und von da an begannen die Stasi-Verstrickungen fast im Jahreszeitenrhythmus bekannt zu werden.Verstrickungen auch von Menschen, die im neuen Deutschland wieder ins Rampenlicht wollten: Lothar de Maizière, Ibrahim Böhme, Wolfgang Schnur, Sascha Anderson, Manfred Stolpe, Lutz Bertram, Gregor Gysi.Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, mit kleinen und großen Leuten.Zurückbleiben Verwüstungen in der ostdeutschen Seelenlandschaft, die oft nicht mehr zu heilen sind.Die Stasi stiftete und zerstörte Liebesbeziehungen, brach Familien auseinander, organisierte das Ende von Berufslaufbahnen.Und die Täter waren eben nicht nur die Hauptamtlichen vom Apparat, die Typen mit Mantel und Hut, sondern auch der Arbeitskollege, der Nachbar, der beste Freund, die Geliebte und manchmal sogar der Ehepartner.

Die Motive der Spitzel sind erforscht.Und es ist keineswegs so, daß einem die Kenntnis der Beweggründe das Verständnis oder vielleicht sogar das Verzeihen leichter macht.In eher seltenen Fällen taten sie es, weil sie Angst vor Repressalien hatten.Häufiger war es eine Mischung aus Geltungsdrang, Minderwertigkeitskomplex und Allmachtsgefühlen.Plötzlich war man wer, mehr, als alle dachten.Ein Stasi-Offizier sagte unlängst in einem Interview, das Anwerben der IMs sei meistens sehr leicht gewesen: "Man muß Menschen nur das Gefühl geben, sie sind wichtig, dann tun sie sehr viel, fast alles." Schwer zu ertragen, dieser Zynismus.Und schwer zu ertragen, daß gegen die sogenannten Führungsoffiziere rein rechtlich so gar nichts unternommen werden kann.

Der Unterschied der beiden deutschen Staaten lag unter anderem darin, daß das Unterdrückungssystem der Stasi in der DDR alles versucht hat, um Menschen dazu zu bewegen, ihren Hang zum Doppelbödigen, zum Verrat, zur Denunziation auszuleben.In den alten Bundesländern kann man gar nicht froh genug darüber sein, in einem Staat gelebt zu haben, der einen nicht in diese Versuchung geführt hat.Aber diese Freude darf einen nicht blind machen gegenüber den Schicksalen aus dem anderen Deutschland, so als würde ein doppeltes Leben aus jeder Vorstellung fallen.

Man braucht übrigens nicht immer in den Osten Deutschlands zu fahren, um sich die Frage zu stellen, warum Menschen so lange über ihre Schuld schweigen, manchmal sogar dann noch, wenn bereits alle anderen darüber reden.Man braucht nur deutsche Gerichtssäle aufzusuchen.Für Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger gehören Menschen zum Alltag, die sich tiefinnerlich weigern, ihre Taten zu akzeptieren.Meist versuchen sie, ihre Erinnerung so sehr zu verdrängen, daß sie sich auch an die Verdrängung kaum mehr erinnern.

STEPHAN LEBERT

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