zum Hauptinhalt
Fabulierlustig: Lothar Heinke erzählt; Robert Ide, Lorenz Maroldt und mawil (v.r.) lauschen.
© Thilo Rückeis

Zeitzeugen der Wende: „Und wie kocht man jetzt diese Kiwi?“

Im Tagesspiegel-Salon erinnern sich Lothar Heinke, Robert Ide und der Zeichner mawil an die Zeit des Mauerfalls. Sie erzählen von der Schere im Kopf. Und von lustigen Begegnungen zwischen Ost und West.

Die Schere im Kopf war immer da. Auch wenn es ums Essen ging: „Wenn es in der DDR mal keinen Zucker gab, haben wir Journalisten keine Kochrezepte empfohlen, für die man Zucker brauchte“, erinnert sich Lothar Heinke. Die Selbstzensur funktionierte gut: Politisch Missliebiges floss erst gar nicht in die Feder.

Heinke hat mehr als 30 Jahre seines Berufslebens als Reporter und Lokalchef der Ost-Berliner Tageszeitung „Der Morgen“ verbracht und die Freude am Beruf zeitweilig ganz verloren. „Da waren überall rote Ampeln, die die Fabulierlust beschränkten. Dies geht nicht, das geht nicht – da konnte man ja nur hinterher in die Kneipe gehen und sich besaufen“, erzählte Heinke am Dienstagabend bei einem Tagesspiegel-Salon im Verlagshaus am Askanischen Platz. Zusammen mit Chefredakteur Lorenz Maroldt, Berlin-Chef Robert Ide und dem Zeichner mawil erinnerte er sich an die Zeit des Mauerfalls aus journalistischer Perspektive.

"Eine seltsame Wende der Wende"

1991 kam Heinke zum Tagesspiegel, und einer seiner ersten Einsätze bestand darin, über seine ehemaligen Kollegen zu schreiben. Denn der „Morgen“, zuletzt von Springer übernommen, wurde eingestellt: „Das war ein trauriger Moment. Wieder wurde über uns bestimmt: eine seltsame Wende der Wende.“

Auch heute, kurz vor seinem 80. Geburtstag, ist Lothar Heinke noch für den Tagesspiegel aktiv; zuletzt schrieb er über den 40. Geburtstag der DDR in Berlin, der gleichzeitig der vorgezogene Todestag des Staates war. Nun kam er als Autor und als Zeitzeuge im Salon. „Er hört einfach nicht auf zu arbeiten“, sagte Chefredakteur und Moderator Lorenz Maroldt über den Mann, der einmal sein Chef war – denn Maroldt kam nach dem Mauerfall als junger West-Journalist zum „Morgen“, bevor er zur „Neuen Zeit“ ging, die 1994 ebenfalls eingestellt wurde.

Robert Ide, heute Ressortleiter des Berlin-Teils, war 14, als die Mauer fiel, aber schon damals im Herzen Journalist. Jedenfalls konnte er den Salon-Besuchern eine von ihm persönlich handgeschriebene Schülerzeitung präsentieren – „Kopierer gab’s nicht, da hätten wir ja Unerwünschtes verbreiten können“.

Selbst Umfragen übers Schulessen waren in der DDR verboten

Seine Zeitung hing daher im Klassenzimmer aus. Ihr Titel „Brennpunkt“ machte die Lehrerin misstrauisch: „So heißt doch eine Sendung im West-Fernsehen!“ Darauf der junge Ide: „Das wusste ich gar nicht, wir gucken kein West-Fernsehen!“ Derartige Verteidigungs- und Ablenkungsmanöver beherrschten alle Ostdeutschen, meint Ide. Eine Umfrage zum Schulessen durfte der Schülerzeitungs-Chefredakteur aber nicht veröffentlichen, denn: „In der DDR waren Umfragen verboten!“

Umso größer die Neugier, als die Mauer aufging und die Familie den ersten Blick auf die Weddinger Altbauten werfen konnte. „Hier sieht’s ja aus wie bei uns!“, war die erste enttäuschte Reaktion der Mutter. Sie sorgte dann aber für einen befreienden, gesamtdeutschen Lacher, als sie den türkischen Gemüsehändler fragte: „Und wie kocht man jetzt diese Kiwi?“

Fasziniert von Kaugummiautomaten in West-Berlin

Auch für den Zeichner mawil, dessen Comics regelmäßig in der Sonntags-Beilage erscheinen, war der erste Besuch im Westen kein ungetrübtes Vergnügen. Er war damals 13, so wie Mirco, der Held in mawils Graphic Novel „Kinderland“ über den Sommer 1989, die mit dem wichtigsten deutschen Comicpreis ausgezeichnet wurde. Mirco jedenfalls, der schüchterne Junge, hätte an diesem historischen Tag viel lieber ein Tischtennisturnier gespielt. Sein Schöpfer mawil zeigte im Salon die Szenen aus dem Buch, in denen die Familie den Jungen gegen seinen Willen mit in den Westen zerrt: verloren und verängstigt in der Masse, aber auch fasziniert von Kaugummi-Automaten und der Auswahl an Tischtennisschlägern. „Für mich war die DDR das Land meiner Kindheit“, erzählte mawil. „Als Jugendlicher wäre es mir vielleicht zu eng geworden.“

„Und was waren Ihre ganz persönlichen Gefühle, als die Mauer fiel?“, fragte eine Leserin das journalistische Urgestein Lothar Heinke. Da brach noch einmal die Leidenschaft aus dem sonst eher zurückhaltenden Heinke heraus. „Man spürte ja schon vorher, dass etwas passieren musste“, sagte er. „Aber dann gab es plötzlich diesen innerlichen Knall, diese Euphorie, dass man über alles berichten durfte – dass wir das noch erleben durften!“ Die Freude am Beruf, die Fabulierlust: Sie kamen mit Macht zurück und haben ihn seither nicht mehr verlassen.

Zur Startseite