Macht der Bilder: Das Auge des Widerstands
Mit Fotoapparat und Videokamera dokumentierten Aram Radomski und Siegbert Schefke die Missstände in der DDR und übergaben das Material dann an West-Medien. Ihren spektakulärsten Einsatz hatten sie am 9. Oktober 1989 bei einer Großdemonstration in Leipzig.
Sie haben sich aufgelehnt. Waren mutig. Konspirativ, einfallsreich, frech. Eigene Erfahrungen führten sie zu der Überzeugung, dass dieser Staat DDR, der irgendwann nicht mehr ihr Staat war, bekämpft werden muss. Ihre Waffe: die Kamera. Sie war das Auge des Widerstands.
Die beiden Berliner Aram Radomski und Siegbert Schefke filmten Missstände in der DDR und tricksten dabei die Stasi regelmäßig aus. Helfer wie der damalige „Spiegel“-Korrespondent schmuggelten die heiße Ware durch die Grenze nach West-Berlin, wo das Fernsehen diese Beiträge in „Kontraste“ und „Kennzeichen D“ sendete. So erfuhren die Leute, was sie insgeheim ahnten, aber in ihren Zeitungen nicht fanden. Hier kam, dokumentiert in Bild und Ton, die schlichte Wahrheit in die ostdeutschen Wohnzimmer. „Heute würde man sagen: Wir sind als investigative Journalisten unterwegs gewesen und fühlten uns dabei der öffentlichen Wahrnehmung verpflichtet, für die wir mehrere Jahre lang an einer Story gearbeitet haben“, sagt Aram Radomski.
Diese Story ist ein Zeitdokument und hatte viele Kapitel. Sie handelte vom Umweltschutz, von der Zerstörung der Wälder und vom Verfall der Städte. Höhepunkt des Szenarios der beiden „Video-Desperados“ war die gewaltige Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989, den Schlusspunkt setzte der 9. November. Der Menschenjubel nachts an der offenen Grenze in der Bornholmer Straße war das Ende der Geschichte: die DDR erledigt, der Auftrag, den sie sich selbst gegeben hatten, erfüllt.
Alles hat seine Ursachen. Siegbert Schefke, Jahrgang 1959, ging in die Opposition, weil er es einfach leid war, sich ständig vorschreiben zu lassen, was er darf und was er nicht darf. Einmal, als er aus dem Ungarn-Urlaub kam, hatte er Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“ dabei – das Buch wurde ihm vom Zoll bei der Einreise abgenommen. Ein Beispiel von vielen. Ab 1986 durfte er die DDR nicht einmal mehr Richtung Osten verlassen. Mit dem Groll auch darüber wurde er Mitbegründer der Umweltbibliothek.
Sein Freund Aram Radomski, heute 46, war 21 Jahre alt, als er in Plauen „wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Herabwürdigung“ ins Gefängnis kam. „Als ich entlassen wurde, habe ich gesagt: Das lass’ ich mir nicht gefallen, ihr Schweine, eines Tages werde ich mich dafür rächen. Wir werden so lange mit dem Finger auf eure Wunden zeigen, bis es euch weh tut!“ Aram ging nach Berlin, „die DDR war ein großes Volksgefängnis, aber irgendwie haben wir uns alle immer wieder in der Kantine getroffen“. Die „Kantine“ war der Bezirk Prenzlauer Berg, wo die Szene zu Hause war, „schwierige Typen, renitente junge Männer und Frauen, Künstler, Heizer, Parkwächter, Friedhofsgärtner, Handwerker, wir wollten uns alle verwirklichen, aber nicht in der DDR-Volkswirtschaft.“ Der Mythos Prenzlauer Berg stammt gewiss aus dieser Zeit, da gab es berufliche Nischen, die Opposition, die Kirchenkreise. „Wir haben hier gelebt, weil wir das Gefühl hatten, wenigstens so ein bisschen an der Welt teilzunehmen.“ Die beiden begannen, aus den Kirchenkellern der Umweltbibliothek heraus zu wirken: Wie ruiniert waren viele Städte! Wie stand es um den Natur- und Landschaftsschutz? Wie war das mit dem sauren Regen? Und mit der Wahlfälschung? Mit Fotoapparat und Videokamera, die ihnen der ausgebürgerte Oppositionelle Roland Jahn besorgt hatte, dokumentierten sie den traurigen Zustand der Natur und Umwelt, das West-Fernsehen sendete die Beiträge, die Kassetten für die Kamera gab es im Intershop. Vorsichtshalber waren beim SFB Videobotschaften stationiert, in denen Radomski und Schefke ihre Identität lüfteten. Für den Fall, dass die Stasi ihnen auf die Schliche kam und sie ins Gefängnis brachte, sollten die Filme mit der Bitte um Hilfe und Solidarität im Fernsehen gezeigt werden. Doch die Streifen konnten im Tresor bleiben. „Wir waren immer einen Tick schneller als unsere Bewacher“, sagt Aram Radomski. Siegbert Schefke hörte von jenem Stasi-Offizier, der den „Operativen Vorgang Satan“ über den Dissidenten aus Prenzlauer Berg zu bearbeiten hatte, nach der Wende ein großes Lob: „Sie waren der Cleverste von allen.“
Zu ihrem spektakulärsten Einsatz fuhren die beiden am 9. Oktober 1989 nach Leipzig: Ein trüber Herbsttag. In der DDR brodelt es, Erich Honecker steht kurz vor der Ablösung, eine Ausreisewelle rollt durchs Land, ganze Familien flüchten über Ungarn in den Westen, in der Gethsemanekirche kommen immer mehr Menschen zur Mahnwache für politische Gefangene. Gerade hatte die Staatsmacht mit einer bis dahin nie dagewesenen Knüppelorgie in der Nacht auf den 8. Oktober hunderte friedliche Demonstranten in Prenzlauer Berg eingekreist, verfolgt, mit Lastwagen abtransportiert, verhört und verhaftet.
Was würde in Leipzig geschehen, wo die Nikolaikirche die Teilnehmer an den Montagsgebeten längst nicht mehr fassen konnte? „Als wir losfahren wollten, da standen im Innenhof von meiner Wohnung in Prenzlauer Berg vier Stasi-Leute“, erzählt später Siegbert Schefke in den ARD-„Tagesthemen“. „Ich kam quasi aus der Wohnung nicht heraus. Also habe ich Zeitschaltuhren eingebaut, bin übers Dach ausgestiegen, über die zusammenhängenden Dachböden gelaufen, wurde da von meinem Freund abgeholt, wir haben zweimal die Autos getauscht und sind dann mit dem Trabi nach Leipzig gefahren, an den Militärkolonnen vorbei. Wir haben unsere Aufnahmen gemacht und einem Vertrauten übergeben, der hat sie in den Westen gebracht.“ Nachts ist Schefke wieder in die Wohnung eingestiegen, die Stasi stand immer noch da und hatte nichts gemerkt. Über die Zeitschaltuhr war das Licht an- und ausgegangen, ebenso Radio und Fernsehapparat, sodass Leben in der Bude zu sein schien. In Wahrheit filmten die beiden in der Messestadt an der Pleiße, was sie nur filmen konnten. „Die Chuzpe bestand vor allem darin, undercover zu drehen, aber sich trotzdem unters Volk zu mischen. Wer da offen gefilmt hat, war sofort im Verdacht, einer von der Stasi zu sein“, erinnert sich Aram Radomski.
Wie haben sie das gemacht? Die Kamera war in ein Handtuch gewickelt oder lag in einer durchlöcherten Aktentasche. „Wir haben das so ähnlich praktiziert wie die Stasi, aber sozusagen Anti-Stasi. Die Öffentlichkeit war zugleich Schutz vor unserer Identifizierung.“ Diese Öffentlichkeit wurde von Montag zu Montag größer, die Demos waren „militärisch umrahmt, und sie boten Stress für alle Beteiligten – für die Bullen ebenso wie für die, die sich damals getraut haben, auf die Straßen oder in die Kirchen zu gehen“, sagt Radomski. Er stützt das Kinn auf die Hand, macht eine Pause, sagt: „Wir waren alle irgendwie adrenalin-hochgepeitscht.“
Es wird die Sternstunde der beiden Berliner. Weil die West-Journalisten Leipzig nicht betreten dürfen, sind sie so etwas wie die Springer, das fahrende und fliehende Auge. Pfarrer Siebert von der Reformierten Kirche nahe dem Hauptbahnhof und dem damaligen Centrum-Warenhaus, das die Leipziger wegen seiner gerundeten Metallfassade „Fischbüchse“ nennen, schließt ihnen die Tür zum Turm auf, sie steigen hoch, unten marschieren die Leipziger und rufen „Wir sind keine Rowdys – wir sind das Volk!“ Das „Neue Deutschland“ hatte zuvor in einem Kommentar all jene, die in diesen Tagen – nicht nur in Leipzig – auf die Straße gingen, um Bürgerrechte einzufordern, als „Rowdys“ bezeichnet. Nun antwortete das Volk. 70 000 Menschen. „Da war eine chinesische, militärische Lösung nicht mehr denkbar. Das war zu groß. Das war XXL. Das machte den Weg frei für alles, was danach kam“, sagt Aram Radomski. „Als ich da oben auf dem Kirchturm in der Taubenscheiße gehockt und eine Gänsehaut bekommen habe, da wusste ich: Hier passiert etwas ganz Besonderes, und wir können dem Aufbegehren ein Gesicht geben. Diese Kassette wird helfen, alles zu ändern. Es ist die Chance deines Lebens.“
Am nächsten Abend erfährt die Welt von dem Fanal aus Leipzig. Die Ausstrahlung sorgt dafür, dass der Film zwischen Rostock und Plauen den Mut und die Entschlossenheit zum aufrechten Gang befördert. Vier Wochen später fällt die Mauer. Radomski überlässt nun das Fotografieren den Profis. Er ist heute Galerist, hat eine Firma für Bildtapeten. Sein Freund ist Kameramann bei der ARD. Am 26. November erhalten beide in Potsdam den Bambi, da sie „durch ihr Tun und Handeln den Lauf der Geschichte verändert haben“.
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