Bundestagswahl in Berlin: Wie ticken die Bezirke?
Knapp 2,5 Millionen Menschen sind in Berlin wahlberechtigt. Die politische Stimmung in der Hauptstadt schwankt von Bezirk zu Bezirk. Eine Analyse.
Wie ist die politische Stimmung in den Berliner Bezirken? Wir haben alle zwölf einzeln betrachtet und analysiert.
Friedrichhain-Kreuzberg: Grün-rot-rote Stimmung in Friedrichshain-Kreuzberg
Berlin ist bunt, der Wahlkreis 83 ist bunter. Nirgendwo zeigen sich Wandel und Widerstand in der Hauptstadt treffender: das Leben zwischen Ost und West, zwischen Hipsterszene, Yoga-Müttern und Drogenkiez, zwischen Hausbesetzern und Investoren, zwischen Alteingesessenen, Neuberlinern, Feierwütigen und Touristen.
Eine Mischung, alternativ und hip zugleich, die eine magische Anziehungskraft auszustrahlen scheint. Wer nach Berlin zieht, will nach Friedrichshain-Kreuzberg, wer aus dem Schwabenland kommt, vielleicht sogar nach Prenzlauer Berg Ost – die drei Stadtteile, die dieser Wahlkreis umfasst.
Diejenigen, die schon länger hier leben, fürchten dagegen die Ballermannisierung, Disneyfizierung oder Gentrifzierung des Bezirks. Keine Woche vergeht ohne Streit um Kneipenlärm im Simon-Dach-Kiez, Anwohnerproteste gegen die Verdrängung kleiner Kiezinstitutionen oder linke Krawalle selbsternannter Gerechtigkeitsfanatiker in der Rigaer Straße. Über kurz oder lang bleiben diese Kontraste wohl auch die Streitpunkte, die den sich wandelnden Wahlkreis weiter beschäftigen werden.
Welches Duell wird spannend?
Die Ströbele-Nachfolgerin Canan Bayram gilt im Wahlkreis als Favoritin: Prognosen zufolge soll die Grünen-Kandidatin das Direktmandat und damit den gesicherten Einzug in den nur wenige Kilometer entfernen Bundestag gewinnen. Entschieden wird das allerdings erst in zwei Wochen. Bis dahin bleibt die Kandidatin mit Herz für linksaußen nicht nur bei der Konkurrenz, sondern auch parteiintern nicht unumstritten: Zuletzt hatte Berlins Ex-Grünen-Fraktionschef Volker Ratzmann Bayram als „nicht wählbar“ bezeichnet. Bayram selbst hatte zuvor ihren Wählern nahegelegt, ihr die Erststimme auch dann zu geben, „wenn Sie einer anderen Partei nahestehen und diese wählen“.
Fest steht kurz vor der Bundestagswahl eigentlich nur eins: Der Wahlkreis 83 tickt mehrheitlich grün-rot-rot. Ganze 75 Prozent der Wähler gaben 2013 den Grünen, Linken oder SPD ihre Erststimme, im Rennen um das Direktmandat wären damit neben Canan Bayram noch Pascal Meiser von den Linken und Cansel Kiziltepe von der SPD.
Die drei Herausforderer haben vor allem damit zu kämpfen, dass sie sich in ihren politischen Perspektiven nur wenig unterscheiden und den Eindruck erwecken, sie könnten sofort eine Koalition eingehen, die den ewigen Frieden in die Rigaer Straße trägt und der Gentrifizierung einen Milieuschutz-Riegel vorschiebt. Alle für alle, alle gegen den Mietenwahnsinn. Timur Husein hält derweil einsam und allein die CDU-Fahne hoch. Sein direkter Einzug in den Bundestag gilt als ausgeschlossen.
Hat man hier überhaupt eine Wahl?
Jein. Natürlich hat man immer die Wahl. De facto wurde Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost in den 2000ern allerdings zur grünen Bastion. Seitdem der Parteilinke Hans-Christian Ströbele 2002 in einem fulminanten Wahlkampf das bis heute bundesweit einzige grüne Direktmandat eroberte, verteidigte er es Jahr für Jahr.
Die Ankündigung des Urgesteins, in diesem Jahr nicht mehr antreten zu wollen, sorgte bei den Grünen wohl gerade deshalb zunächst für Verzweiflung, bei den politischen Gegnern erstmals wieder für Hoffnung. War es vielleicht gar kein Grünen-Hype, sondern einfach nur der Ströbele-Effekt, der über Jahre hinweg Bestand hatte? Achtung, Floskel: Es bleibt abzuwarten. Die Entscheidung fällt nach einigen weiteren Wahlwerbepausen am 24. September.
Was ist das Skurrilste am Wahlkampf?
Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Und zu lachen hatte man in diesem Wahlkreis viel, hat er sich doch auch zu einer Hochburg der Komödianten entwickelt. Fares Al-Hassan von der Bergpartei stellt sich gegen die politischen Dummweltschützer und fordert die Gleichsetzung von Mensch, Tier und Pflanze.
Der parteilose Nichtwähler Gregor Felde-Bajer setzt sich für eine Hipsterobergrenze ein und hat es sich zum Ziel gesetzt, eine Mauer nach Prenzlauer Berg West zu bauen. Und Serdar Somuncu, Spitzenkandidat der „Partei“, interessiert sich nach eigenen Angaben nicht für den Bezirk und will einfach nur „Kançler“ werden. Bleibt bei all dem Spaß nur noch zu begreifen, dass eine Wahl durchaus was Ernstes ist.
Mitte: Wer gewinnt den Wahlkreis im Herzen der Hauptstadt?
Mitte: Wer gewinnt den Wahlkreis im Herzen der Hauptstadt?
WER WOHNT HIER?
Der durchschnittliche Mitte-Bewohner ist 38,9 Jahre alt … aber was heißt schon Durchschnitt in diesem Bezirk, der so unterschiedlich ist? In Wedding, einst Arbeiterbezirk, gibt es in der Pankstraße gefühlt mehr türkische Supermärkte und Cafés als in Kreuzberg. Rund um den Rosenthaler Platz hat sich die urbane Elite niedergelassen, trinkt grüne Smoothies am Weinbergsweg, schlendert über die Brunnenstraße mit ihren Galerien und Pop-Up-Design-Stores und macht Yoga am Arkonaplatz.
Der Bezirk, der sich auf knapp 40 Quadratkilometern erstreckt und aus sechs Ortsteilen besteht, wächst schneller als jeder andere in der Stadt. Seit 2010 sind 44.325 Bewohner dazugekommen, nirgends ist die Dichte an Migranten und Berlinern mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit höher, fast 19 Prozent der Einwohner haben einen Migrationshintergrund. Verdrängung ist ein Thema, das in Mitte viele umtreibt. Deutschlandweit steigen die Mieten am schnellsten im Brunnenviertel, wo es viele Studenten und junge Familien hinzieht. Nicht weit entfernt, ebenfalls in Gesundbrunnen rund um die Badstraße, liegt die Kinderarmut bei 70 Prozent.
WELCHES WAHLDUELL WIRD AM SPANNENDSTEN?
Eva Högl, 48, will ihr Direktmandat auch bei dieser Wahl verteidigen. Die Vize-Fraktionschefin der SPD im Bundestag und Spitzenkandidatin der Partei in Berlin hat ihren Wahlkreis bereits seit 2009 – damals trat sie das erste Mal als Direktkandidatin an – und 2013 gewonnen. 2009 bekam sie 26 Prozent der Erststimmen – das war das niedrigste Erststimmenergebnis für einen Wahlkreis seit der Bundestagswahl 1953, das für den Gewinn eines Direktmandates ausreichte. Laut dem In-or-Out-Faktor des Tagesspiegels liegt Högl auch in diesem Jahr in den Umfragen vorne, ihr Sieg gilt jedoch als „unsicher“ (Meinungsforschungsinstitut Civey) oder sogar als „sehr unsicher“ (Forschungsgruppe Wahlen).
Högl ist zwar auf das Direktmandat nicht angewiesen, weil sie auf Platz eins der Landesliste der Berliner SPD steht. Es wäre allerdings ein Prestigeverlust für die Juristin, wenn sie den Wahlkreis ausgerechnet an Frank Henkel, 53, CDU verliert, der in seiner Partei kaum Rückhalt genießt. Özcan Mutlu, 49, Grüne, wird nach der Wahl sein Büro im Bundestag wohl räumen müssen. Er hat es nur auf den vierten Listenplatz geschafft.
Das Thema Mieten eint die großen Parteien, besonders der Direktkandidat der Linken, Steve Rauhut, 45, hat sich den Wohnraum zum Schwerpunkt gemacht und fordert mehr Wohnungen in öffentlicher Hand. Auch Högl möchte bei der Mietpreisbremse nachjustieren. Den Fokus auf die innere Sicherheit legen CDU und AfD. Beatrix von Storch, 46, Direktkandidatin der AfD, fordert mehr Polizeiwachen an öffentlichen Plätzen mit hoher Kriminalität und eine Strafrechtsreform, die Mindeststrafen für Gewaltverbrechen festschreibt. Henkel sagt, die CDU sei „für mehr Wachstum, mehr Arbeitsplätze, für Sicherheit und einen nachhaltigen gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Die Direktkandidatin der FDP, Katharina Ziolkowski, 43, ist Cyber-Politik-Expertin und träumt von einem überall verfügbaren freien und schnellen WLAN für den Bezirk. Um Wartezeiten in Behörden zu vermeiden, will sie die Durchsetzung des E-Government unterstützen. Und der Bundestagsabgeordnete Mutlu setzt auf Bildungsförderung als Instrument zur Integration.
HAT MAN HIER ÜBERHAUPT EINE WAHL?
Seit 2002 ist die SPD in Mitte Wahlkreissieger. Davor gehörte der Bezirk zum Bundestagswahlkreis Berlin-Mitte – Prenzlauer Berg. Kurz nach der Wende, bei der Wahl 1990, war der Westen des Bezirks, Gesundbrunnen und Wedding, noch schwarz, die CDU erreichte hier teilweise Zustimmungswerte um die 50 Prozent. Doch schon ab 1994 löste die SPD die Christdemokraten als stärkste Partei ab. 2009 wurden die Grünen dann für eine Wahl auch im Westen erfolgreich, in der City konnten sie auch 2013 noch in einigen Wahlbezirken Siege einfahren. Im Osten von Mitte hat die Linkspartei traditionell den besten Stand. Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus 2016 konnte die SPD vier der sieben Wahlkreise für sich entscheiden. Die Grünen kamen auf zwei, die Linke auf einen. Auf unserer historischen Wahlkarte können Sie sehen, wie Ihr Kiez seit der Bundestagswahl 1990 gewählt hat.
UND WAS WAR DAS SKURRILSTE IM WAHLKAMPF?
Die CDU hat ein begehbares Wahlprogramm. Mit dem #fedidwgugl-Haus im ehemaligen Kaufhaus Jahndorf macht die Partei auf digital und jung. #fedidwgugl was? Der Hashtag steht für den Wahlspruch „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“. Drinnen stehen unter anderem die Roboter Emma und Dave, die Zettel beschreiben und an die Fensterscheibe anbringen. Es gibt Lunch mit Yoga und manchmal legen auch DJs auf. Um die Ecke, am Rosenthaler Platz, trinkt Jens Spahn (CDU) seinen Kaffee nicht mehr gerne, weil er den so oft auf Englisch bestellen muss. Mit seiner Wutrede gegen Berliner Hipster war der Wahlkampf um eine Anekdote reicher. Und die AfD forderte noch den Rücktritt Eva Högls (wovon genau, ließ sie offen), weil diese bei einer Denkmaleinweihung in Kreuzberg hinter Martin Schulz, der gerade zum Terror in Barcelona sprach, Faxen machte. Sie hatte nicht mitbekommen, wovon der SPD-Kanzlerkandidat sprach und wies in einer wütenden Erklärung die Rücktrittsforderungen von sich.
Neukölln: Schwarzer Süden, bunter Norden
Neukölln: Schwarzer Süden, bunter Norden
Während sich im Reuterkiez ein internationales Publikum beim Soja-Latte-Macchiato über seine MacBooks beugt, beginnt nur wenige Meter weiter in der Sonnenallee die arabische Seite des Bezirks. Friseursalons reihen sich an Geschäfte mit orientalischen Backwaren, der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund liegt hier teilweise bei 70 Prozent.
Südlich der Ringbahn liegen die ehemaligen Arbeitersiedlungen in Britz und Buckow, auch hier ist der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund sowie der ohne Arbeit hoch. Der Altersdurchschnitt liegt etwa fünf Jahre über dem im nördlichen Teil. Noch weiter südlich in den Einfamilienhaussiedlungen in Rudow geht es derweil eher beschaulich zu.
Welches Duell wird am Spannendsten?
Bei den letzten Bundestagswahlen holte Fritz Felgentreu von der SPD mit 32,3 Prozent der Erststimmen das Direktmandat, mit nur 1,7 Prozent Vorsprung zur CDU-Kandidatin Christina Schwarzer. In den Jahren zuvor war es ähnlich knapp, stets trennten die Kandidaten von SPD und CDU nur wenige Prozentpunkte.
Am 24. September stehen sich Felgentreu und Schwarzer erneut gegenüber, es wird laut den Prognosen wieder eng. Die Themenschwerpunkte beider Kandidaten sind dabei ähnlich: Beiden liegt die Bildung und die Unterstützung von Familien am Herzen, beide legen einen Fokus auf die innere Sicherheit. Dennoch lohnt sich ein Blick in die Wahlprogramme, denn die von beiden Kandidaten vorgeschlagenen Maßnahmen unterscheiden sich durchaus.
Hat man hier überhaupt eine Wahl?
Durch den Bezirk ziehen sich klare politische Grenzen, wie ein Blick auf die Ergebnisse der vergangenen Wahlen zeigt. Die Stadtautobahn und die Gleise der Ringbahn trennen Nord- und Südneukölln nicht nur geografisch. Diese Polarisierung ist nicht neu, die Wahlkarte wird aber zunehmend bunter: Während der südliche Teil des Bezirks seit eh und je CDU wählt, sind der SPD im traditionellen Stammgebiet Nord-Neukölln viele Wähler verloren gegangen.
Hier schimmerte die Karte bei den vergangenen Wahlen zunehmend grüner: „Wir Grünen profitieren von den linksliberalen Zuzüglern“, sagt die Grüne-Direktkandidatin Susanna Kahlefeld. „Bald wird es dann wahrscheinlich eher knapp zwischen CDU und Grünen.“ Auch die Linke konnte sich bei den vergangenen Wahlen in Nord-Neukölln über Stimmenzuwachs freuen. Fritz Felgentreu sieht die SPD im Bezirk recht stabil bei 30 Prozent der Stimmen, leichte Schwankungen erklärt er mit dem Bundestrend. Allerdings: „In Neukölln war es schon immer knapp.“
Christina Schwarzer gibt sich hingegen gelassen und sagt, ihre potentiellen Wähler seien nicht an Wahlkampf und Prognosen interessiert. Doch auch der Union droht in diesem Jahr bei den Wahlen womöglich ein Stimmenverlust: Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zur Bezirksverordnetenversammlung im vergangenen Jahr konnte die AfD in einigen traditionell CDU-schwarzen Wahlbüros die meisten Stimmen holen.
Was war das Skurrilste aus dem Wahlkampf?
Angesichts des knappen Kopf-an-Kopf-Rennens lassen sich Schwarzer und Felgentreu einiges einfallen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die CDU wirbt unter anderem mit dem Slogan „Orange is the new Black“ – und spielt dabei auf die gleichnamige Netflixserie und Schwarzers Haarfarbe an. Felgentreu vertraut derweil auf seine bewährten Comic-Wahlkarten.
Außerdem fällt eine gewisse Vorliebe für kulinarische Genüsse auf, die beide offenbar verbindet: Während Schwarzer zu Abenden mit kostenloser Pizza einlud und Bier in einer Nord-Neuköllner Kneipe ausschenkte, schwenkte der Sozialdemokrat Felgentreu Currywürste in Britz und lädt potentielle Wähler regelmäßig zu seinem Stammtisch „Fritz & Friends“.
Offenbar verbindet beide auch eine Sympathie für Bayern: An Felgentreus Infoständen werden „leckere Brezeln" angeboten, Schwarzer bewirbt gleich das Neuköllner Oktoberfest. Beide scheinen sich also darin einig zu sein, dass bei den Neuköllnern die Wahl (auch) durch den Magen geht.
Tempelhof-Schöneberg: Zweigeteilt
Tempelhof-Schöneberg: Zweigeteilt
Wer wohnt hier?
Dieser Bezirk ist zweigeteilt – Metropole und Vorstadt gleichermaßen. Genauso zweigeteilt ist das Wahlverhalten. Die Innenstadt – also Schöneberg – wählt vor allem rot-grün. Je weiter man Richtung Süden in die Tempelhofer Stadtteile Mariendorf, Marienfelde und Lichtenrade kommt, desto schwärzer wird es auf der politischen Landkarte.
In diesem Teil des Bezirks kommt der rapide Wandel in der Stadt erst mit Verzögerung an. Die Behauptungskräfte der Alteingesessenen sind groß. Gerade in Lichtenrade gibt es viele Familien, die seit Generationen dort leben und wohl auch bleiben werden. Trotzdem ist ein Problem des Stadtrands die Überalterung der Einwohnerschaft. Dabei sind auch die südlichen Ortsteile durchaus heterogen: Gewachsene Einfamilienhausquartiere wechseln sich mit Großsiedlungen mit all ihren sozialen Problemen ab, unterbrochen werden sie immer wieder von großen Gewerbe- und Industrieflächen. Und auch ein bisschen ländliche Atmosphäre wird rund um die alten Dorfkirchen geboten.
Ganz anders präsentiert sich Schöneberg mit seinem urbanen Leben. Am Nollendorfplatz gibt sich der Bezirk vielfältig und queer: Hier lebt und feiert sich die LGBTI-Szene. Am Wittenbergplatz mit dem KaDeWe hat die Shopping-Welt ihr Zuhause, in Friedenau lebt das Bildungsbürgertum. Der Akazienkiez mit einem abwechslungsreichen Einzelhandel ohne große Ketten und mit vielen Restaurants und Kneipen ist attraktiv. So attraktiv aber, dass auch hier wie in anderen Teilen der Stadt viele Gentrifizierungstendenzen und Verdrängung einkommensschwacher Bewohner fürchten. Gleiches gilt für die Rote Insel, das einstige klassische Arbeiterviertel, das immer beliebter wird. Vom Wahlverhalten wird das Quartier allerdings inzwischen immer grüner.
Ein Verbindungsglied der ungleichen Bezirksteile ist auf jeden Fall die Tempelhofer Freiheit, das ehemalige Flughafengelände, das von Tempelhofern und Schönebergern gleichermaßen genutzt wird.
Welches Duell wird am spannendsten?
Am interessantesten ist in Tempelhof-Schöneberg vor allem, ob Renate Künast, eine der bundesweit bekanntesten Grünen-Politikerinnen, wieder den Sprung in den Bundestag schafft. Nach den derzeitigen Umfragen ist das mehr als fraglich. Anders als bei den vorangegangenen Wahlen steht sie nicht mehr auf Platz eins der Landesliste, sondern nur noch auf drei. Künast hatte von sich aus auf den Spitzenplatz verzichtet, um einen Generationswechsel zu ermöglichen. Zu diesem Zeitpunkt im Frühjahr aber konnte man noch davon ausgehen, dass der dritte Platz ebenfalls eine gute Ausgangsbasis ist.
Das hat sich inzwischen geändert. Inzwischen sieht es fast danach aus, dass es für Künast, die in ihrer Karriere schon viele Partei- und Fraktionsämter innehatte und Verbraucherschutzministerin war, nur dann reicht, wenn die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg kein Direktmandat erringen. Denn mehr als drei Berliner Grüne werden dem Bundestag wahrscheinlich nicht angehören.
Dass der CDU-Mann Jan-Marco Luczak, aus Lichtenrade stammend, das Triple schaffen wird, also den Wahlkreis zum dritten Mal hintereinander holt, gilt als sehr wahrscheinlich. Luczak hat in diesem Jahr Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als er als Redner der Union in der überraschend angesetzten Debatte und Abstimmung zur „Ehe für alle“ sich eindringlich dafür aussprach. 2013 erzielte er bei den Wahlen satte 35 Prozent und ließ seine Konkurrentin von SPD, Mechthild Rawert, neun Prozentpunkte hinter sich. Ihr war es 2005 gelungen, das Direktmandat zu holen und damals zum ersten Mal ins den Bundestag einzuziehen, sie landete dann aber 2009 hinter Luczak und Künast. Wie bei den nachfolgenden Wahlen ist Rawert auch diesmal wieder gut auf der Landesliste abgesichert, so dass sie auch in der kommenden Legislaturperiode wieder einen Platz im Parlament haben wird.
Hat man hier überhaupt eine Wahl?
Auf jeden Fall. Man kann nicht sagen, dass der Bezirk fest in der Hand einer Partei oder einer bestimmten Koalition ist, auch die Ergebnisse auf Landes- und auf Bundesebene sind hier nicht deckungsgleich. Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus etwa im vergangenen Jahr lag beispielsweise die SPD mit 24,9 Prozent fünf Prozentpunkte vor der CDU.
Bei der Bundestagswahl vor vier Jahren lag wiederum die Union vier Prozentpunkte vor den Sozialdemokraten. Die Grünen sind traditionell stark. Die Bezirksbürgermeisterin Angelika Schöttler (SPD) kam durch eine rot-grüne Zählgemeinschaft ins Amt. Bei den drei anderen Parteien, die voraussichtlich in den Bundestag einziehen werden, die Linke, FDP und AfD, sind in Tempelhof-Schöneberg keine extremen Ergebnisse zu erwarten.
Was war das Skurrilste aus diesem Wahlkampf?
An Außergewöhnlichem war der Wahlkampf im Bezirk arm. Auffallend war vor allem, dass einem nur CDU-Mann Luczak flächendeckend auf den großformatigen Wahlplakaten, den so genannten Wesselmännern, begegnete. Das erste dieser Plakate zeigte Luczak mit seinem Jagdhund Edgar auf dem Tempelhofer Feld. Die Unterschrift „modern, mutig, mittendrin“ erschließt sich bei diesem Motiv weder auf den ersten noch den zweiten Blick. Die politische Konkurrenz nutzte die Gelegenheit, auf Facebook darüber zu spotten. SPD-Frau Mechthild Rawert setzte in den sozialen Medien wie Twitter und Facebook auf eine Kampagne, bei der Wählerinnen und Wähler erklärten, warum sie ihre Stimme Rawert geben. Ansonsten bot sie Werbemittel zum Vernaschen: Schokorollen und Rotes Wassereis mit ihrem Namen.
Renate Künast war persönlich äußerst defensiv und schrieb auf ihren Plakaten: „Wer Renate will, wählt Zweitstimme grün!“ Nach einem ernsthaften Kampf um die Erststimme sieht das nicht aus.
Lichtenberg: Alles links?
Lichtenberg: Alles links?
Lichtenberg, der Wahlkreis 86, erstreckt sich vom Stasi-Museum bis zum Tierheim. Unter den Einwohnern sind 19,6 Prozent Rentner und 14,3 Prozent Ausländer. Die größte Wählergruppe stellen die 45- bis 59-Jährigen mit 24,3 Prozent. 20,2 Prozent der Wähler sind älter als 70. Frauen sind mit 51,7 Prozent knapp in der Mehrheit. Unter den Wählern haben 6,3 Prozent einen Migrationshintergrund. Einige Bereiche, wie zum Beispiel Hohenschönhausen mit seinen Plattenbauten, gelten traditionell als linke Hochburg. Aber auch die AfD hat hier großes Wählerpotenzial. Viele Bewohner Lichtenbergs fürchten steigende Mieten bei gleichbleibenden Löhnen oder Sozialleistungen. Der Bezirk hat viele Sozialwohnungen. 19,4 Prozent der Einwohner leben von Hartz-IV-Leistungen. Die Linke sammelt daher mit ihrem bundesweiten Wahlversprechen von steigenden Löhnen und fallenden Mieten treffsicher Punkte.
Welches Duell wird spannend?
Die Linke ist sich ihres Sieges mit ihrer Direktkandidatin Gesine Lötzsch sehr sicher. Größter Konkurrent von Lötzsch dürfte Martin Pätzold von der CDU sein, der aber auch über die CDU-Liste in den Bundestag gelangen dürfte. Außenseiter, aber durchaus mit Chancen, sind Kevin Hönicke von der SPD und Hannah Neumann für die Grünen. Neben Lötzsch und Neumann von den Spitzenparteien stehen mit den Kandidatinnen für die rechtsradikale NPD (Manuela Tönhardt) und die marxistisch-leninistische MLPD (Dagmar Arnecke) nur noch zwei weitere Frauen zur Wahl.
Neumann kämpft nicht nur für Gleichberechtigung, sondern beispielsweise auch für Fahrradwege und gegen einen Ausbau der A 100, die einmal bis Lichtenberg führen soll. Die Grünen haben es aber im Bezirk seit jeher sehr schwer und sich zuletzt etwas an Pätzold und seine CDU angekuschelt. Kevin Hönicke von der SPD, der sich oft verbal mit der AfD anlegt und offensiv gegen die „Partei der Schande“ wettert, wie er sie nennt, könnte bei Leuten punkten, die bewusst gegen rechts wählen wollen. Hönicke ist als Einziger unter den Direktkandidaten der Spitzenparteien ohne Doktortitel, als gelernter Kfz-Mechaniker und praktizierender Lehrer bodenständig und volksnah beliebt. Hönicke und Neumann betreiben einen ordentlichen Haustürwahlkampf. Die Kandidatin der Grünen klingelte sich sogar durch die Lichtenberger Kleingartensiedlungen – auch ein Wahlkampfthema, denn die Kleingartenpächter fürchten ihre Verdrängung.
Hat man hier überhaupt eine Wahl?
Eigentlich ist ganz Lichtenberg seit 2002 eine sichere Nummer für die Linkspartei. Mit Gesine Lötzsch hat sie vier Mal hintereinander das Direktmandat gewonnen, 2013 mit 23 944 Stimmen Vorsprung. Doch mit der AfD tritt Konkurrenz an, deren Aussichten außerordentlich schwer einzuschätzen sind. Bei der Bundestagswahl 2013 erhielt die AfD mit 4,3 Prozent der Erststimmen 0,1 Prozent mehr als die Grünen.
Dennoch hat die Linke eher ihre traditionellen Konkurrenten in der SPD und CDU zu fürchten. Die AfD könnte höchstens in Sachen Zweitstimmen punkten, denn den Direktkandidaten Marius Radtke kennt hier kaum jemand. Er führt seine Arztpraxis in Weißensee und ist für viele nicht nah genug mit dem Bezirk Lichtenberg verbunden. Doch ein Kreuz bei der Partei AfD zu machen, davor haben schon bei der Abgeordnetenhauswahl viele nicht zurückgeschreckt, nämlich 19,4 Prozent der Wahlberechtigten. Damit wurde die AfD zur drittstärksten Kraft im Bezirk, nach Linken und SPD und noch vor der CDU – dieser Trend könnte sich fortsetzen und Radtke somit über die Liste in den Bundestag gelangen.
Was ist das Skurrilste aus dem Wahlkampf?
Die FDP spielte 2013 mit 0,7 Prozent so gut wie keine Rolle. Ihr jetziger Kandidat heißt Dirk Gawlitza – dem unbekannten Liberalen gebührt zumindest Respekt. Ebenso wie Olaf Lengner von der Piratenpartei. Eher könnte noch die Satirepartei „Die Partei“ für Furore sorgen und von der steigenden Beliebtheit bei jüngeren Wählern profitieren. Kandidat Stefan Sacharjew will, bescheiden wie es sich für eine Satirepartei gehört, „König von Lichtenberg“ werden. Da ihn jedoch kaum jemand kennt, wird seine Partei wohl allenfalls bei den Zweitstimmen einen Achtungserfolg erringen können.
Charlottenburg-Wilmersdorf: Wo die politische Mitte die Mehrheit hat
Charlottenburg-Wilmersdorf: Wo die politische Mitte die Mehrheit hat
Wer wohnt hier?
Bei dem Bau-Boom geht es keineswegs nur um Hochhäuser und Geschäftsbauten rund um den Kurfürstendamm. Auf fast jeder noch bebaubaren Fläche entstehen Wohnungen, wobei es sich größtenteils um Eigentumswohnungen für eine kaufkräftige Klientel handelt. Schrittweise verändert sich damit die soziale Struktur. Eine der meistdiskutierten Fragen in der Bezirkspolitik lautet, wie man bezahlbaren Wohnraum erhalten kann – unter anderem ist dafür die Ausweisung mehrerer Milieuschutzgebiete geplant. Das Durchschnittsalter der Bevölkerung ist das zweithöchste in Berlin (nach Steglitz-Zehlendorf).
Doch Charlottenburg-Wilmersdorf ist nicht homogen. Traditionell ist Wilmersdorf der wohlhabendere und konservativere Ortsteil – deshalb wurden die „Wilmersdorfer Witwen“ aus dem Musical „Linie 1“ des Grips-Theaters zu einem geflügelten Wort. Speziell im Ortsteil Schmargendorf hat die CDU bei Abgeordnetenhaus- oder Bundestagswahlen schon oft Rekordergebnisse im stadtweiten Vergleich erzielt. Charlottenburg mit alten Arbeitervierteln wie dem Kiez um den Klausenerplatz ist politisch etwas „linker“. Charlottenburg-Nord gilt als sozialer Brennpunkt, was im Wahlkreis 80 bei der Bundestagswahl allerdings keine Rolle spielt, weil dieses Gebiet zum Wahlkreis 78 des Nachbarbezirks Spandau gehört.
Die Mehrheit in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) besitzt seit 15 Jahren eine Zählgemeinschaft der SPD und Grünen. Nach den Berliner Wahlen im vorigen Herbst kamen drei neue BVV-Fraktionen hinzu: die Linken – die mit SPD und Grünen eine „Tolerierungsvereinbarung“ abgeschlossen haben – sowie die FDP und die AfD. Letztere spielt mit nur fünf der 55 Bezirksverordneten eine untergeordnete Rolle und erhielt keinen Stadtratsposten.
Welches Duell wird spannend?
Das Rennen um das Bundestags-Direktmandat wird aller Voraussicht nach zwischen Klaus-Dieter Gröhler (CDU) und Tim Renner (SPD) entschieden, wobei Gröhler nach ersten Umfragen die besseren Chancen hat. Ihn lernten die Wähler bereits als langjährigen Stadtrat und Vize-Bezirksbürgermeister kennen, bis er 2013 durch einen Sieg über die damalige SPD-Kandidatin Ülker Radziwill in den Bundestag einzog. Zuvor allerdings hatte die SPD-Politikerin Petra Merkel drei Mal den Wahlkreis gewonnen, bis sie aus Altersgründen nicht mehr antrat. Gröhler ist beliebt und hat einen untadeligen Ruf, konnte sich als Haushaltspolitiker im Bundestag allerdings bisher wenig profilieren.
Ein ganz anderer Typ ist Tim Renner, der frühere Berliner Kulturstaatssekretär und Musikmanager. Er wirkt auch mit 52 Jahren noch ziemlich jugendlich und kommt anscheinend vor allem bei jüngeren Wählern gut an. Als Quereinsteiger kann er aber nicht mit großen politischen Erfolgen in der Vergangenheit punkten.
Hat man hier überhaupt eine Wahl?
Die Kandidaten der übrigen Parteien können nicht mit dem Direktmandat rechnen, sind aber mehr oder weniger gut über die Landeslisten ihrer Parteien abgesichert und können so trotzdem auf den Einzug in den Bundestag hoffen. Die grüne Finanzpolitikerin Lisa Paus kam auf diese Weise bereits 2009 zu einem Parlamentsmandat. Als Direktkandidatin unterlag sie 2013 dem CDU-Kandidaten Gröhler, der mehr als doppelt so viele Stimmen erhielt. Diesmal tritt die 48-jährige Paus als Grünen-Spitzenkandidatin für ganz Berlin an. Auch der Charlottenburg-Wilmersdorfer FDP-Direktkandidat Christoph Meyer führt die Landesliste seiner Partei an. Der auf das Thema Innere Sicherheit spezialisierte AfD-Bewerber Nicolaus Fest, früher Vize-Chefredakteur der Zeitung „Bild am Sonntag“, steht bei seiner Partei auf dem fünften Listenplatz – ob ihm das in den Bundestag verhelfen wird, ist fraglich. Bei den Linken schaffte es die 30-jährige Direktkandidatin Friederike Benda nur auf Platz elf der Landesliste.
Was ist das Skurrilste aus dem Wahlkampf?
SPD-Kandidat Tim Renner erregte Aufsehen mit einem Video auf seiner Webseite, das Stationen seines Lebens zeigt – und ihn zum Schluss mit nacktem Oberkörper. Andererseits musste er erleben, dass Unbekannte seinen Namen auf einigen Plakaten verunstalteten: Aus „Renner“ wurde mit einer kleinen Retusche „Penner“ – ein mäßig origineller Gag.
Die AfD löste Zorn unter Anwohnern und Eltern von Schülern aus, weil sie eines ihrer Plakate an einen Laternenmast direkt vor dem Eingang der Grundschule Alt-Schmargendorf hängte. Bei der Kreiswahlleitung des Bezirksamts gingen deshalb Beschwerden ein, woraufhin sich Ordnungsstadtrat Arne Herz (CDU) dazu veranlasst sah, die Rechtslage klarzustellen: Vor öffentlichen Gebäuden sei Wahlwerbung grundsätzlich erlaubt. Ein Verbot würde auch dem „Parteienprivileg“ aus Artikel 21 des Grundgesetzes widersprechen.
Marzahn-Hellersdorf: Ungleiche Rivalinnen
Marzahn-Hellersdorf: Ungleiche Rivalinnen
Der Kontrast zwischen den Großsiedlungen Marzahn und Hellersdorf sowie den kleineren Ortsteilen Biesdorf, Kaulsdorf und Mahlsdorf prägt auch die Bevölkerung im Bezirk. In den Wendejahren, als die Hochhäuser noch relativ neu waren, zählte er zu den jüngsten Berlins. Heute liegt das Durchschnittsalter mit 43,6 Jahren über dem Landesdurchschnitt von 42,7 Jahren. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Kinder zu.
Viele Familien, die sich die teuren Kieze im Zentrum nicht mehr leisten können, sind in den letzten Jahren – nach Zwischenstopp in Lichtenberg – zugezogen. In einigen Quartieren gibt es erhebliche soziale Probleme, verfestigte Armut schlägt sich auch in der Verwahrlosung von Kindern nieder.
Demgegenüber ist in den Einfamilienhausgebieten im Süden die Mittelschicht zu Hause. Grün ist es übrigens hier wie dort. 16 Prozent der 262 000 Einwohner haben einen Migrationshintergrund, geringer ist dieser Anteil nur noch in Treptow-Köpenick. Die Zahl der Ausländer hat sich seit 2010 jedoch mehr als verdoppelt.
Was ist das spannendste Duell?
Marzahn-Hellersdorf ist einer von zwei außergewöhnlichen Wahlkreisen in der Hauptstadt. Nur hier und in Mitte treten zwei Spitzenkandidatinnen der Landeslisten direkt gegeneinander an. Während es im Zentrum Eva Högl von der SPD und Beatrix von Storch von der AfD sind, treffen im Osten die linke Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau und die CDU-Landesvorsitzende Monika Grütters aufeinander. Nach einer Prognose von Tagesspiegel und mandatsrechner.de hat Pau das Direktmandat sicher. Es wäre das fünfte Mal in Folge, dass sie den Wahlkreis gewinnt. Für Grütters bliebe demnach – wie schon 2013 – nur der zweite Platz.
Der Unterschied zwischen den ungleichen Rivalinnen ließ sich kürzlich bei der Debatte der Berliner Spitzenkandidierenden im Tagesspiegel-Haus beobachten. Pau und Grütters standen Seite an Seite, bekundeten einander Respekt und Eintracht im Kampf für demokratische Werte. Doch hier stand die Wahlkreisabgeordnete und dort die Kulturstaatsministerin.
Die Linken-Politikerin, fest im Bezirk verwurzelt, sprach direkt ihre Klientel zu Hause an, warb für eine Mindestsicherung im Alter und eine Angleichung der Renten in Ost und West. Sie forderte die endgültige Schließung des Flughafens Tegel und nebenbei noch ein Freibad für „MaHe“ sowie die Öffnung des Wuhletals nach der IGA. Grütters hingegen musste immer auch an fein austarierte Interessen in ihrem Landesverband denken. Bei der Rente verwies sie auf die Kosten, bei TXL wich sie nach mehrfachen CDU-Loopings lieber aus.
Interessant wird deshalb sein, wie weit Pau (2013: 38,9 Prozent) Grütters (25,7 Prozent) diesmal auf Distanz halten kann. Die Christdemokratin kann sich nicht einmal ihres zweiten Platzes sicher sein. Denn als unkalkulierbarer Faktor kommt die AfD ins Spiel.
Es gibt in Marzahn-Hellersdorf ein solides Potenzial rechts der CDU. Die NPD und die damals noch junge AfD kamen schon vor vier Jahren zusammen auf zehn Prozent der Zweitstimmen. Bei der Abgeordnetenhauswahl im vergangenen September verbuchte die AfD mehr als 23 Prozent – was nicht nur an armen Plattenbaugebieten lag, sondern auch an überdurchschnittlichen Ergebnissen in den bürgerlichen Ortsteilen.
Damit rangierte sie auf Augenhöhe mit den Linken, die auf Bezirksebene durchaus als Teil des Establishments wahrgenommen werden. Für Pau gilt das im Bund nicht. Sie amtiert zwar seit elf Jahren als Parlamentsvize, ist aber immer unbequeme Oppositionspolitikerin geblieben.
Besonders spannend wird deshalb, ob die AfD-Bezirksvorsitzende Jeannette Auricht der Merkel-Vertrauten Grütters den Rang ablaufen kann. Die Mahlsdorferin gibt sich gemäßigt, verantwortet aber auch einen offenen Kurs gegenüber dem radikalen Flügel um Björn Höcke, der vor zwei Wochen ihr Gast im Wahlkampf war.
Auch gegenüber Rechtsextremen im Bezirk zeigt die AfD wenig Berührungsängste. In Sachen Engagement macht der Partei niemand etwas vor. Ein Beispiel: Im August bat der Deutsche Gewerkschaftsbund zum Wahlforum. Grütters war verhindert, Hauptstadt-Verpflichtungen eben. Auricht war nicht eingeladen, aber protestierte im Publikum dagegen. Ihre Mitstreiter drückten am Ausgang jedem, der wollte, Flyer in die Hand. An den Laternen hingen sechs ihrer Plakate, wo tags zuvor nur ein einsamer Christian Lindner zu sehen war.
Hat man hier überhaupt eine Wahl?
Das Herz der Linkspartei schlägt im Osten. Doch Marzahn-Hellersdorf ist nicht immer schon und überall tiefrot. Gleich nach der Einheit wechselten die Mehrheiten in den Kiezen zwischen Linken, SPD und CDU. Bei den Wahlsiegen Gerhard Schröders 1998 und 2002 dominierten die Sozialdemokraten bei den Zweitstimmen, während Gregor Gysi und später Pau die Direktmandate errangen.
Erst seit der Wahl 2005, die das Ende der rot-grünen Koalition besiegelte, gewann die Linke beinahe durchweg die Oberhand. Vor vier Jahren allerdings triumphierten die Christdemokraten in den südlichen Ortsteilen. Auffällig ist auch: Direktkandidatin Pau lag immer deutlich vor dem Zweitstimmenergebnis ihrer Partei. Grütters profitierte 2013 vom bundesweiten Trend der CDU.
Was war skurril im Wahlkampf?
Der 28-jährige Dmitri Geidel ist der jüngste Kandidat der Berliner SPD. Er soll auch bei den tausenden russlanddeutschen Wählern Stimmen holen. Ein forscher Auftritt brachte ihn gleich in die Boulevardmedien: In der Tradition der Londoner „Speakers’ Corner“ stellte Geidel sich auf eine Holzkiste und forderte eine Umbenennung von Marzahn-Hellersdorf in Marzahn.
Der Doppelname sei ein „blutleeres Verwaltungskonstrukt“, seine Länge mache vielen zu schaffen. Parteifreund Sven Kohlmeier schlug daraufhin den Namen Kienberg vor, Ex-Senator Mario Czaja (CDU) plädierte für Wuhletal. Bezirksbürgermeisterin Dagmar Pohle (Linke) verzichtete lieber auf einen Kommentar.
Pankow: Dreigeteilt
Pankow: Dreigeteilt
Wer wohnt hier?
Mit seinen nunmehr 400 000 Einwohnern ist Pankow zur drittgrößten Großstadt Ostdeutschlands avanciert. Als solche sieht sie sich mit vielschichtigen Problemen konfrontiert. In den urbanen Zentren wie Prenzlauer Berg oder dem Florakiez verdrängen wohlhabende Zuzügler aus der ganzen Republik und dem Ausland die angestammte Bevölkerung. Der Milieuschutz greift kaum, die Mietpreisbremse ebenfalls nicht. Ein Teil des Bezirks, der Ostzipfel Prenzlauer Bergs, gehört nicht zum Wahlkreis 76, sondern zum Wahlkreis 83 mit Friedrichshain-Kreuzberg.
Auch an den Rändern des Bezirks, wo es noch dörfliche Strukturen mit Einfamilienhaussiedlungen, aber auch alte DDR-Plattenbausiedlungen gibt, wird es allmählich eng. Vor allem Familien zieht es nach Rosenthal, Wilhelmsruh, Weißensee oder Buch.
Weil die Infrastruktur über Jahrzehnte vernachlässigt wurde und jetzt viele Straßen und Brücken gleichzeitig erneuert werden, sind Ortsteile wie Blankenburg und Karow praktisch von der Stadt abgeschnitten. Entsprechend groß ist die Unzufriedenheit der Bürger. Bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus erhielt in dieser Region die AfD teilweise mehr als 20 Prozent der Stimmen. Nun geht AfD-Landeschef Georg Pazderski in Pankow als Direktkandidat ins Rennen. Nachdem dessen Fraktionskollegen im Abgeordnetenhaus die Kandidatur kritisiert hatten, erklärte Pazderski, er werde der Landespolitik treu bleiben. Auf einen Listenplatz verzichtete er.
Welches Duell wird spannend?
Zweimal schon hat Stefan Liebich von der Linken in Pankow die Wahl für sich entschieden. Auf seinen Plakaten heißt es schlicht „Pankow: Liebich“, wahlweise „Prenzlauer Berg: Liebich“ und „Weißensee: Liebich“. Das erinnert irgendwie an „Sie kennen mich“ – die Bundeskanzlerin lässt grüßen.
Doch sicher scheint ein dritter Sieg des linken Realos und Außenpolitikers nicht zu sein. Liebichs Partei schnitt zwar bei den Bezirkswahlen 2016 gut ab und konnte sich den Bürgermeisterposten von der SPD zurückholen. Bei Bundestagswahlen stimmen die Bürger in Berlins bevölkerungsreichstem Bezirk aber erfahrungsgemäß anders ab als auf Landes- und Bezirksebene.
Spannend ist vor allem, wie sich Gottfried Ludewig von der CDU schlagen wird. 2013 kam der damalige CDU-Kandidat bis auf 4,4 Prozent an Liebich heran. Das Zweitstimmenergebnis fiel noch knapper aus. Liebich und Ludewig buhlen vor allem um Stimmen der vielen, nicht selten schwäbischstämmigen grünen Stammwähler in Prenzlauer Berg, Liebich hängte dort Plakate seiner Partei mit dem Solgan „Die wo links isch“ auf und stellte ein Video ins Netz, in dem er Spätzle kocht.
Doch auch SPD-Kandidat Klaus Mindrup, der 2013 auf dem dritten Platz landete, ist nicht ganz aus dem Rennen. Dass er sich für Wohnungsbaugenossenschaften stark macht und gegen Gentrifizierung kämpft, könnte ihm Aufwind verleihen. Der Direktkandidat und frühere Landesparteichef der Grünen, Stefan Gelbhaar, hat dagegen wenig Chancen. Das Biomarkt-Publikum von Prenzlauer Berg macht eben nur einen kleinen Teil des Bezirks aus.
Hat man hier überhaupt eine Wahl?
In Pankow gab es schon bemerkenswerte Ergebnisse. Als der Linke Stefan Liebich 2009 zum ersten Mal den Wahlkreis gewann, löste er mit Wolfgang Thierse (SPD) ein politisches Schwergewicht ab. Thierse war zu dieser Zeit zwar nicht mehr Bundestagspräsident, aber immerhin noch Vizepräsident und durch seinen Wohnsitz am Kollwitzplatz eine Lokalgröße. Thierse selbst hatte nach der Wahlkreisreform, bei der Pankow grob gesagt Hohenschönhausen verlor, dafür aber den größten Teil Prenzlauer Bergs hinzugewann, 2002 Manfred Müller von der PDS das Direktmandat abgenommen – mit 44,7 Prozent der Stimmen. 2005 schnitt er mit 44,1 Prozent kaum schlechter ab. Traditionell konkurrierten in diesem Bezirk also Linke und SPD um die Vorherrschaft. Bei der ersten Wahl nach der Wende, 1990, ging das Direktmandat an die SPD, damals vertreten durch den Pfarrer Konrad Elmer-Herzig.
Was ist das Skurrilste aus dem Wahlkampf?
Beim frauenpolitischen Abend im Rathaus Pankow sollten die Bundestagskandidaten Farbe bekennen, was sie für Frauen erreichen wollen. Maria von Bolla brachte aber zunächst Farbe auf ihre Nägel, rote Farbe, um genau zu sein. Mit den beiden überdimensionierten Ballons unter dem Pullover und der über dem Pulli eng zusammengeschnürten Corsage wirkte die Spitzenkandidatin der „Partei“, die eigentlich Christian Rall heißt, wie eine Provokation in der von Frauen dominierten Runde.
Bolla versuchte inhaltlich zu punkten und versprach eigene Fahrspuren für Doppelkinderwagen. Mit ihrem Wahlspruch „Make Pankow grey again“, umwarb sie jene, „die sich die alte Patina zurückwünschen“. Außerdem kündigte sie ein Matriarchat für Pankow an – und empfahl Männern als Exitstrategie, ihrem eigenen Beispiel zu folgen. „Auch ich hatte ein Vorleben als Mann.“ Doch was ändert sich, wenn alle Männer Frauen werden?
Steglitz-Zehlendorf: Schwarzer Südwesten
Steglitz-Zehlendorf: Schwarzer Südwesten
Wer wohnt hier?
Steglitz-Zehlendorf, der reiche Südwesten, hat auch arme Ecken: Wer sich in der Thermometersiedlung in Lichterfelde-Süd, in der Belß- oder Wichura-Straße in Lankwitz oder in Zehlendorf-Süd mit ihren Geschossbauten umsieht, erkennt schnell, dass die Bewohner nicht zu den Spitzenverdienern gehören.
Gleichwohl ist der Bezirk statistisch der wohlhabendste in Berlin – was an der anderen Bezirkswelt liegt, die zum Beispiel in Lichterfelde-West, in Dahlem und Wannsee besichtigt werden kann (zumindest von außen). Wie weit die Schere des Wohlstands im Bezirk auseinanderklafft, zeigen die Zahlen zur Kinderarmut, die die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung regelmäßig veröffentlicht: In der Thermometersiedlung sind von 100 Kindern 61 auf Geld vom Staat angewiesen (60,57 Prozent); in Dahlem muss dagegen nur jedes 100. Kind von Sozialhilfe leben (0,63 Prozent).
Noch zwei statistische „Spitzendaten“: Steglitz-Zehlendorf ist der älteste Bezirk (25,6 Prozent der Einwohner sind 65 Jahre alt oder älter), und er ist die Hochburg der Ehe in Berlin, jeder zweite Einwohner ist verheiratet (47,3 Prozent).
Ein wichtiges Thema ist bezahlbarer Wohnraum. Viele langjährige Mieter, deren ehemals günstige stadteigene Siedlungswohnungen an private Investoren verkauft wurden, können die steigenden Mieten nicht mehr bezahlen. Allein die für ihre rigorose Sanierungs- und Mieterhöhungspolitik gefürchtete Deutsche Wohnen besitzt 10 909 Wohnungen im Bezirk.
Hinzu kommt, dass in den letzten Jahren vor allem Eigentumswohnungen und -häuser gebaut wurden. Die neuen Quartiere rund um den U-Bahnhof Oskar-Helene-Heim sind nur ein Beispiel für diese Entwicklung. Auf dem Gelände der früheren Trainingsstadt „Parks Range“ des US-Militärs in Lichterfelde-Süd entsteht eines der größten Wohnungsneubauprojekte der Stadt. Rund 2500 Miet- und Eigentumswohnungen werden dort in den kommenden Jahren hochgezogen.
In Sachen Sport und Wissenschaft ist Steglitz-Zehlendorf mit vielen Vereinen, der Freien Universität, einer Uni-Klinik und diversen Forschungseinrichtungen gut versorgt. Mit Sorge blicken die Bewohner dagegen der kulturellen Zukunft entgegen: Sowohl für den Museums- Standort Dahlem als auch für das Areal des Alliiertenmuseums liegen noch keine tragfähigen Konzepte vor.
Welches Duell wird spannend?
Alle Meinungsforschungsinstitute sehen den CDU-Direktkandidaten und Ex-Justizsenator Thomas Heilmann als nächsten Steglitz-Zehlendorfer Bundestagsabgeordneten. Die Kandidaten von FDP, Hartmut Ebbing, und AfD, Sabine Gollombeck, müssten der CDU schon große Anteile des konservativen Stimmenanteils abjagen, damit die bisher Zweitplatzierte, die Sozialdemokratin Ute Finckh-Krämer, auf direktem Weg in den Bundestag einziehen könnte. Dass Heilmann so oder so im nächsten Bundestag Platz nehmen kann, ist relativ sicher: Er steht auf Platz vier der Landesliste. Finckh-Krämer kann auf den Weg über die SPD-Liste (Platz 7) nicht zählen.
Hat man hier überhaupt eine Wahl?
Hat man (immer). Zwar hatte die CDU bei der Bundestagswahl 2013 bei den Erststimmen mit mehr als 13 Prozentpunkten einen deutlichen Vorsprung vor der SPD, doch verloren die Christdemokraten bei der Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses im letzten Herbst bei den Erststimmen 10,6 Prozentpunkte. 2016 verteilten die Wähler ihre Erststimmen folgendermaßen: CDU 28,9 Prozent, SPD 25 Prozent, Grüne 17,5 Prozent.
Was war das Skurrilste aus dem Wahlkampf?
Die Bezirks-CDU war schon vor der heißen Phase des Wahlkampfes fast Alleinunterhalter – was nicht positiv gemeint ist. Erst wurde im Kreisverband betrogen und gefälscht, als es um die Frage ging, ob der Direktkandidat für den Bundestag von den Mitgliedern (das wollte Thomas Heilmann) oder von den Delegierten (dafür stand Karl-Georg Wellmann) gewählt werden sollte. Heilmann gewann, Wellmann zog sich schmollend zurück. Die CDU-Südwest erhielt die wenig schmeichelhaften Titel „Kreisverband des Grauens“, „Intrigantenstadl“ und „Fälscherwerkstatt“ – und zwar von Christdemokraten.
Auch der vermeintliche Riesen-Werbecoup von Thomas Heilmann am Steglitzer Kreisel nahm eine unerwartete Wende: Auf dem größten Wahlplakat Berlins (624 Quadratmeter) wirbt Heilmann mit dem Spruch „Berlin hat noch Luft nach oben“ für sich.
Die Linke warf ihm einen Verstoß gegen das Parteiengesetz vor, weil die CDU die kostenfreie Überlassung der Fassade seitens des Kreisel-Eigentümers, der CG-Gruppe, nicht als Spende angemeldet hatte. Die SPD sprach von schwarzem Filz: Die CG-Gruppe wolle bei der CDU im Bezirk gut Wetter machen, damit die Umbau-Genehmigungen zum Wohnturm im Rathaus glatt durchgingen.
Der Kreisel-Besitzer sah sich drei Wochen vor der Wahl gezwungen, SPD, FDP und Grünen die anderen elf Seiten des Kreisels als kostenfreie Werbeflächen anzubieten, was keine der Parteien annahm. Die Linke wurde gar nicht erst gefragt, da sie „eine Folgeorganisation der SED“ sei.
Übrigens stehen zwei ehemalige Stadträtinnen aus Steglitz-Zehlendorf über die Landeslisten ihrer Parteien zur Wahl: Auf Platz elf steht bei der SPD Barbara Loth, Christa Markl-Vieto kandidiert auf Platz neun bei Bündnis 90/Die Grünen.
Reinickendorf: Keine Experimente
Reinickendorf: Keine Experimente
Wer wohnt hier?
Eigentlich gibt es „den“ Bezirk Reinickendorf nicht. Er ist ein Kunstprodukt der Verwaltungsreform aus der Zeit, als die Großstadt Berlin gebildet wurde. Es gibt das alte Dorf gleichen Namens, von dem noch die Kirche und der Dorfanger und einige alte Häuser erhalten geblieben sind, das sich aber gewaltig ausgedehnt hat.
Außerdem sind da noch zehn weitere Ortsteile von völlig unterschiedlicher Sozialstruktur und Geschichte. Heiligensee, Wittenau und Lübars haben das dörfliche des Ortskerns bis heute liebevoll konserviert. Frohnau entstand als Siedlung im englischen Landhausstil zu Beginn des 19. Jahrhunderts, ähnlich entwickelte sich auch Waidmannslust. Eine Sonderstellung nimmt das Märkische Viertel ein, die von den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts an aus dem Boden gestampfte Großsiedlung mit all den sozialen Problemen, die solche künstlich geschaffenen Menschenagglomerate an sich haben.
Mit 260 000 Einwohnern, darunter 16 Prozent Ausländern, hat Reinickendorf unter den zwölf Berliner Bezirken eine mittlere Größe. Die Arbeitslosenquote beträgt 12,8 Prozent, das durchschnittliche monatliche Haushaltsnettoeinkommen liegt bei 1850 Euro und damit mehr als 100 Euro höher als im Berliner Durchschnitt. 25 000 Haushalte verfügen über mehr als 3200 Euro im Monat.
Es gibt im Bezirk ein deutliches Wohlstandsgefälle vom wohlhabenden Frohnau im Norden bis zum oft Not leidenden Märkischen Viertel im Südosten und den Siedlungsgebieten von Reinickendorf-Ost und Reinickendorf-West. Die Menschen hier leiden am meisten unter dem Flughafen Tegel und dem Lärm der startenden und landenden Maschinen. Man könnte meinen, dass die nun alle den Moment der Schließung von Tegel herbeisehnen. Aber dem ist nicht so – die Sorge, dass der Schließung Tegels eine Gentrifizierungs- und Mieterhöhungswelle folgt, ist massiv.
Direkt hängen 10 000 Arbeitsplätze an diesem Flughafen, indirekt weitere 10 000 in Zulieferfirmen und Dienstleistern. Diese Menschen wohnen nicht alle in Reinickendorf, aber zu einem hohen Prozentsatz. Deshalb setzt der Bezirk, allen voran Bürgermeister Frank Balzer (CDU), auch so stark auf die Umwandlung des dann ehemaligen Flughafengeländes in ein großes Areal für Firmenneugründungen und die innovativen Unternehmen, die sich dort im Rahmen der „Urban Tech Republic“ ansiedeln könnten.
Welches Duell wird spannend?
Ein spannendes Duell um das Direktmandat ist in Reinickendorf nicht zu erwarten. Frank Steffel, CDU, holte den Wahlkreis erstmals 2009 und dann wieder 2013, sogar mit dem besten Erststimmenergebnis Berlins. Auch 2017 trauen ihm Civey und andere Meinungsforscher einen sicheren Vorsprung vor dem sozialdemokratischen Bewerber, Thorsten Karge, zu.
Hat man hier überhaupt eine Wahl?
Historisch betrachtet, ist Reinickendorf keine Bank für die CDU. 1998, 2002 und 2005 gewann der Sozialdemokrat Detlef Dzembritzki das Direktmandat. Er war zuvor, von 1989 bis 1995, Bezirksbürgermeister gewesen und profitierte von seinem hohen Bekanntheitsgrad. Bei der geschilderten, unterschiedlichen Sozialstruktur des Bezirks ist es durchaus möglich, dass sich das Wählerverhalten hier einer verbreiteten Wechselstimmung anschließen würde – aber diese Wechselstimmung ist allen Umfragen zufolge nicht erkennbar.
Was war das Skurrilste im Wahlkampf?
Das Skurrilste aus dem Wahlkampf war ein Empfehlungsbrief der CDU-Bundesvorsitzenden Angela Merkel zur Wahl Frank Steffels, von dem Merkel nichts wusste – er war von der Werbeagentur der CDU zusammengestoppelt und erst im Nachhinein vom Adenauer-Haus abgesegnet worden.
Spandau: Kopf-an-Kopf-Rennen
Von der Neustadt mit ihrem traditionell hohen Anteil an Bewohnern mit Migrationshintergrund über die Großsiedlungen Falkenhagener Feld und Heerstraße-Nord sowie die Industriegebiete Haselhorst und Siemensstadt bis zum ländlichen Gatow und dem vornehmen Kladow.
Kaum ein Bezirk hat eine solche Vielfalt zu bieten wie Spandau, dem als Bundestagswahlkreis auch der Teil Charlottenburgs nördlich der Spree zugeschlagen wurde. So unterschiedlich wie die Bevölkerungsgruppen der einzelnen Ortsteile ist auch das Stimmverhalten, von der SPD dominierten Neustadt bis zur CDU-Hochburg Kladow.
Mit 3523 Hektar bestehen fast 40 Prozent der Gesamtfläche von Spandau aus Wald, Grünanlagen (einschließlich Campingplätzen) und Wasser. Doch nicht alles ist Idylle. Von den wahlberechtigten Bewohnern im Wahlkreis sind 37,3 Prozent über 60 Jahre alt, aber nur 8,6 Prozent unter 25. Nicht alle sind freiwillig an den westlichen Stadtrand gezogen.
Jeder Vierte unter 65 ist Hartz-IV-Empfänger, so mancher musste umziehen, weil die Mieten anderswo explodiert sind. Nur in Spandau und Marzahn-Hellersdorf gibt es noch Wohnungen für unter sechs Euro Miete pro Quadratmeter. 57,4 Prozent der Wohnungen befinden sich in einfacher Wohnlage, die Arbeitslosenquote des Bezirks Spandau pendelt bei elf Prozent.
Welches Duell wird spannend?
Traditionell ist die Wahl in Spandau eine Persönlichkeitswahl. Im Bundestag ist der Wahlkreis seit vielen Jahren doppelt vertreten. Swen Schulz (SPD) und Kai Wegner (CDU) begannen beide ihre Politkarriere in der Bezirksverordnetenversammlung und genießen ein hohes Ansehen im Bezirk. Schulz zog 2002 erstmals in den Bundestag ein und festigte seine Position drei Jahre später mit dem Rekordergebnis von 46,8 Prozent. Wegner kam 2005 über die Landesliste seiner Partei erstmals ins Parlament und konnte dann 2009 und 2013 den Wahlkreis knapp gewinnen, während Schulz sein Mandat über die Landesliste behielt. Auch in diesem Jahr liefern sich die Kandidaten ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Doch egal wer gewinnen wird, um seine politische Zukunft muss sich auch der diesjährige Verlierer keine Gedanken zu machen. Beide sind parallel auf dem zweiten Listenplatz ihrer Parteien abgesichert.
Hat man hier überhaupt eine Wahl?
Keine Aussicht auf einen Platz im Bundestag haben die Kandidaten der übrigen Parteien. Die Grünen schicken Bettina Jarasch ins Rennen. Die damalige Landesvorsitzende kandidierte im vergangenen Jahr noch in Pankow erfolglos für das Direktmandat und zog über die Landesliste ins Berliner Abgeordnetenhaus ein. Für die FDP bewirbt sich der Bezirksvorsitzende Paul Fresdorf. Die Linkspartei hat den Schüler Manuel Lambers aufgestellt. Die AfD schickt ihren frischgebackenen Stadtrat für Facility Management, Umwelt- und Naturschutz, Andreas Otti, ins Rennen. Nur Manuel Lambers befindet sich auch auf der Landesliste seiner Partei, allerdings auf dem wenig aussichtsreichen, zwölften Platz. Und dann treten noch Direktkandidaten von drei Kleinparteien in Spandau an: Rhavin Grobert (Die Partei), Jens-Eberhard Jahn (ÖDP) und Chaker Araki (MLPD).
Was ist das Skurrilste aus dem Wahlkampf?
Setzte sich Kai Wegner bei früheren Wahlen gerne mit Frau und Sohn ins Bild, ist er in diesem Jahr auf den Hund gekommen. Labrador „Casper“ wirbt nicht nur auf Großplakaten zusammen mit seinem Besitzer um das Vertrauen der Wähler, sondern geht mit dem Christdemokraten in den Spandauer Hundeauslaufgebieten bei anderen Herrchen und Frauchen auf Stimmenfang. Ohne seinen Vierbeiner war Wegner kürzlich an der Kasse eines Supermarktes anzutreffen, der den Umsatz seines einstündigen „Praktikums“ – stolze 1400 Euro – zu gleichen Teilen einer Kinderklinik und einer Behindertenwerkstatt spendete.
Treptow-Köpenick: Zwischen den Extremen
Treptow-Köpenick: Zwischen den Extremen
Die Müggelheimer fahren Bus – es gibt nichts anderes. Dabei sehen sie auf dem Weg zum nächsten S-Bahnhof minutenlang nur Bäume. Gemessen am Busfahren in Mitte fühlt sich das an wie eine Reise durch die russische Taiga. Die Sorgen der Müggelheimer sind Fluglärm, Grundstückspreise, die Ruderfähre über die Müggelspree und die Wildschweinplage.
In Alt-Treptow ahnt davon niemand etwas – hier geht es um steigende Mieten und Partymacher im Treptower Park. Wahlkämpfer in Treptow-Köpenick müssen immer damit rechnen, dass sie an den Sorgen ihrer Zuhörer gerade vorbeireden.
Die Ausländerquote im Bezirk ist immer noch unterdurchschnittlich, trotz der wachsenden Zuwanderung. Zu hoch ist traditionell das Durchschnittsalter. Weil Familien zuziehen – in Mietshaus-Quartiere früherer Problemkieze oder in neue Eigenheime auf alten Gewerbeflächen –, hat sich die Altersstruktur aber insgesamt verbessert. In Treptow-Köpenick zu wohnen bedeutet, mehr tagsüber zu leben als in der Nacht, Ausflüge in die Natur zu machen statt im Club um die Ecke durchzufeiern.
Welches Duell wird am spannendsten?
Ein Duell liefern sich in Treptow-Köpenick allenfalls die Verlierer, also CDU-Mann Niels Korte und sein SPD-Kollege Matthias Schmidt. Linken-Zugpferd Gregor Gysi hat den Wahlkreis im Griff. An seiner rhetorischen Eleganz perlt jede kritische Frage ab. Schmidt und Korte können mit ihrer nüchternen Programmatik emotional kaum punkten.
Grünen-Kandidat Erik Marquardt kann seine Erfahrungen als Flüchtlingshelfer auf dem Mittelmeer in die Waagschale werfen, aber die Grünen haben seit jeher einen schweren Stand. Naturschutz wird von vielen Bewohnern als übertriebenes Regelwerk empfunden, um Hobbys zu verbieten. Wenn Stege wegen geschützter Röhrichtbestände zurückgebaut werden müssen, Flugzeuge aber weiter darüber hinwegdonnern dürfen, fühlen sich die Betroffenen vom Politikbetrieb betrogen. Diesen Frust kann auch Gysi nicht mehr wegdiskutieren.
Hat man hier überhaupt eine Wahl?
Die Ergebnisse der Bundestagswahlen 2009 und 2013 ähneln sich stark: Linke vorne, dahinter CDU, SPD und Grüne. Die AfD trat 2013 erstmals im Wahlkreis an und holte aus dem Stand 5,5 Prozent der Zweitstimmen. Auch die NPD schnitt mit 2,6 Prozent besser ab als in anderen Gegenden der Republik.
Die AfD könnte weiter zulegen, weil sie ihre Präsenz verbessert hat und bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus 2016 mehr als 20 Prozent holte, bei den Zweitstimmen sogar knapp vor der SPD auf dem zweiten Platz landete. Das lag vor allem am Flüchtlingsthema. Da viele Flüchtlingsheime aber anders als angekündigt gar nicht gebaut wurden, haben sich die Gemüter wieder etwas beruhigt.
Bis 2005 lag die SPD im Wahlkreis vorne, doch die Agenda-Politik Kanzler Schröders machte den Genossen schon damals schwer zu schaffen. Anschließend brach die SPD während der ersten großen Koalition weiter ein. Niedriglöhner und Arbeitslose fühlen sich bei den Linken besser aufgehoben.
Was war das Skurrilste aus dem Wahlkampf?
Gregor Gysi hat sich am Strandbad Müggelsee mit nackten Badegästen fotografieren lassen – was sein Gespür für knackige Themen beweist. Bevor er das Zurückdrängen ostdeutscher FKK-Kultur durch glotzende West-Männer beklagte, gab er schon im Frühjahr werbewirksam einer von der CDU verfemten Ausstellung mit Aktfotos Asyl in seinem Parteibüro.
Sex im Wahlkampf? Klar, wenn man den richtigen Dreh hat – gegen Diskriminierung und für die Freiheit der Kunst. Sonst kommt der Wahlkampf im Südosten fast unbemerkt über die Wähler. Die AfD holte sich den Hauptmann von Köpenick aufs Plakat – und wetterte gegen „politische Willkür“, weil ihr Bundestagskandidat zu einer Diskussionsrunde der Parteien nicht eingeladen wurde.