Arbeit im Jobcenter: Wo über die Hartz-IV-Höhe entschieden wird
Sie berechnen die Höhe der Hartz-IV-Sätze, kürzen das Geld, wenn jemand seinen Termin verpasst. Nicht ohne Konflikte. Ein Besuch in der Leistungsabteilung des Jobcenters.
Der Mann hat bis auf seinen Totenkopfring am Finger nicht viel. Er hat kein Geld, keine Wohnung, keine Krankenversicherung, kein Konto, nur ein paar T-Shirts und eine grüne Mappe aus Pappe, die vor ihm auf dem Tisch liegt. Seit drei Wochen lebt er wieder in Deutschland, streunt durch Berlin. Zwar hat er keine Idee, wo er arbeiten, nicht einmal, wo er schlafen soll, aber er hat diesen zentimeterdicken Zettelhaufen. Ausweise, Nachweise. Was er eben so braucht.
Es ist Montagmorgen, zehn Uhr. Der Mann ohne Zuhause ist zum Termin im Jobcenter Lichtenberg pünktlich erschienen. Soll seine Aus- und Nachweise vorlegen. Weil ihm 20 Euro Pfand für einen Schlüssel fehlten, wurde er vor einigen Tagen aus dem Obdachlosenheim geworfen. Jetzt sucht er was Neues. „Aber woanders verlangen sie doch bestimmt auch Pfand, oder?“, fragt er die Sachbearbeiterin, die ihn berät. „Wie viel Geld bekomme ich also?“ 409 Euro. Den Hartz-IV-Regelsatz. „Und wann? Jetzt?“ Noch in dieser Woche bekomme er einen Scheck, verspricht sie. Der Mann mit den strubbelig-blonden Haaren und sehnigen Unterarmen, gebräunt von der jahrelangen Arbeit auf einem italienischen Weingut, spielt an seinem klobigen silbernen Ring herum. „Okay“, sagt er, „ sonst weiß ich nicht, was ich machen soll.“
Das Zimmer, in dem er sitzt, ist ein schlichter grauer Verwaltungsraum. Mit einem Schreibtisch, drei Stühlen, Regalen voller Akten, Ordner, Gesetzesbücher. Ein unscheinbarer Ort. Doch hier, in der Leistungsabteilung des Jobcenters, sagen die Mitarbeiter, geben sie den Ärmsten nicht nur das Nötigste zum Leben. Sie erhalten den sozialen Frieden der Stadt.
Seine Akte muss erst einmal liegen bleiben
In Lichtenberg liegt die Arbeitslosenquote bei 7,5 Prozent. 30 000 Menschen sind erwerbsfähige Leistungsberechtigte; bekommen Hartz IV. Knapp ein Drittel davon hat einen Job, muss aber aufstocken. Um all jene kümmern sich im Jobcenter 600 Frauen und Männer. Der eine Teil versucht, die Menschen in Arbeit zu vermitteln. Der andere berechnet, was ihnen an Hilfe vom Staat zusteht, überweist Geld für Lebensmittel, Kleidung; zahlt die Miete. Im Jahr wird dafür rund eine Viertelmilliarde Euro ausgegeben.
Kirsten Kamp*, die den Mann mit dem Totenkopfring betreut, hat um viertel vor elf den nächsten Termin. In den zehn Minuten dazwischen wird sie es nicht schaffen, all seine Daten in den Computer einzutippen und die Zahlung an ihn zu veranlassen. Seine Akte muss erst einmal liegen bleiben. Muss warten. „Dabei geht das hier noch ziemlich schnell“, sagt Kirsten Kamp. Der Mann hat kein Einkommen, keine Wohnung, keine Extra-Ansprüche. „Bei einer Familie mit sieben Kindern kann das Prüfen und Rechnen einen ganzen Vormittag dauern.“
Sie hat oft die verzwickteren Fälle. Manchmal muss sie den Regelsatz mit vorrangigen Leistungen wie dem Kinder- und Elterngeld verrechnen, manchmal brauchen ihre Kunden, wie es im Jobcenter-Jargon heißt, nicht den ganzen Hartz-IV-Satz, sondern nur ergänzende Gelder. Um wen sie sich noch kümmert, sind Frauen, die zu Hause misshandelt worden sind und in Frauenhäusern wohnen. Ihre Daten werden besonders geschützt. Damit ein Mann nicht herausbekommt, wo seine Frau ist.
Hier hat jeder im November Geburtstag
Pro Jahr werden im Jobcenter rund 50 000 Termine allein in der Leistungsabteilung gemacht. Dazu kommen eine halbe Million Poststücke: Bescheinigungen, dass sich die Höhe des Einkommens geändert hat; Widersprüche gegen zu niedrige, nicht bewilligte, gekürzte oder gestrichene Leistungen. Wenn das Jobcenter an diesem Tag um halb eins mittags schließt, hat Kirsten Kamp noch nicht frei. Dann heißt es abarbeiten, was liegen geblieben ist. „Manche denken, wir hätten Zauberkräfte“, sagt sie. „Haben wir nicht.“
Viele, sagt Kirsten Kamp, würden die Arbeit, die sie macht, unterschätzen. Sie muss grob wissen, was in den Gesetzesbüchern SGBI, II, III, X, XII steht. Zusammen sind sie fast 2000 Seiten dick. Jeden Tag schlägt sie Paragrafen nach. „Am Anfang dachte ich, das kriege ich nie hin“, sagt die gelernte Bürokauffrau. Dazu komme der Druck, dass jeder Antrag in zehn Tagen bearbeitet sein soll. Momentan sei das machbar. Ihr Team sei personell gut aufgestellt. Während Beschäftigte in Deutschland im Schnitt 15,2 Tage fehlen, weil sie krank sind, fallen Mitarbeiter in Berliner Jobcentern zwischen 17,9 und 25,6 Tagen im Jahr aus. So viele wie in keiner anderen Branche sonst. Für die Gesunden bedeutet das: Überstunden machen, erschöpft nach Hause gehen, frustriert wiederkommen.
„Wir hatten auch mal Phasen, da waren unsere Kalender so voll, da kamen wir nicht hinterher“, sagt Kirsten Kamp. Zum Beispiel, als die vielen Geflüchteten kamen. Wobei es woanders viel extremer war. Die Menschen in Berlin werden nach ihrem Geburtsmonat auf die Jobcenter verteilt. Mitte ist der erste Bezirk, und weil alle Geflüchteten, die keinen Pass dabei haben, ihr Geburtsdatum am 1. Januar eingetragen bekommen, kamen alle dorthin. Lichtenberg ist der elfte Bezirk. Hier hat jeder im November Geburtstag.
Notrufknöpfe, Wachschutz, Polizei
Auch wenn die Flure gerade nicht voll sind: Kirsten Kamp sei es wichtig, Anträge schnell zu bearbeiten. „Es geht hier ja um Existenzfragen.“ Der Ruf ihrer Branche ist trotzdem schlecht. Nicht immer gefallen den Menschen die Entscheidungen, die getroffen werden. Der nicht immer nette Umgangston. Die bürokratischen Begründungen. Die Sanktionen, die manche als ungerecht, als willkürlich empfinden. "Es ist sicherlich schlimm, unter welchen Bedingungen diese Personen arbeiten müssen. Aber das kann keine Entschuldigung sein für menschenverachtendes Verhalten, dass leider viel zu häufig passiert", sagt einer. Manche hätten sogar Freude daran, zu strafen. "Ich kenne Leute denen wurde Gelder gekürzt, weil sie statt zehn Bewerbungen im Monat nur sieben oder acht vorweisen konnten", sagt jemand anders.
Weil viele Menschen wütend oder ängstlich hierherkommen, ist das Aggressionspotenzial hoch. Die Mitarbeiter haben deswegen Notrufknöpfe am Schreibtisch. Sie können an Deeskalationstraining und Anti-Stress-Workshops teilnehmen. Es gibt einen Wachschutz im Haus, der auch mal Hausverbote erteilt. Manchmal kommt die Polizei.
Trotz der Sicherheitsvorkehrungen hören die Mitarbeiter immer mal wieder von schockierenden Einzelfällen in deutschen Jobcentern: Kunde ohrfeigt Sachbearbeiter, weil er Antrag neu stellen muss. Kunde schlägt Sachbearbeiterin einen Stapel Akten gegen den Kopf, weil er Leistungen nicht sofort bekommt. Kunde versucht Sachbearbeiterin mit Hammer zu töten, weil er sich schlecht behandelt fühlt. Kunde ersticht Sacharbeiterin.
Kirsten Kamp hat noch nicht viele Ausraster erlebt. Einmal ist ein Mann wütend geworden und boxte gegen ihre Tür. Zwei Mal gab es einen Amokalarm, der sich aber als Fehlalarm entpuppte. Trotzdem ist da manchmal dieses komische Gefühl. Sie sitzt in dem Einzelbüro am Fenster, der Kunde ganz nah am Ausgang, mit dem Rücken zur Tür. Er muss nur aufstehen, schon versperrt er den Weg.
Da sind Zweifel am System, für das er arbeitet
Bei einem anderen Sachbearbeiter sitzt jetzt ein junger Syrer. Er ist gerade 18 Jahre alt geworden, geht in die zehnte Klasse, spricht flüssig Deutsch. Seitdem er volljährig ist, bekommt er keine Jugendhilfe mehr. Er lebt von nun an von Hartz IV, von 409 Euro im Monat, wie der Mann mit dem Totenkopfring. Bei Fällen wie diesem hinterfragt der Sacharbeiter Martin Lammert* das System, für das er arbeitet, dieses Geflecht aus umständlichen Regeln. Die Eltern des Jugendlichen leben in Warendorf, im Münsterland, aber sie sind zu einem anderen Zeitpunkt nach Deutschland eingereist. Wegen der Wohnsitzauflage kann der 18-Jährige nicht zu ihnen ziehen. Er muss alleine in dieser großen Stadt zurechtkommen.
Was den Mitarbeiter bei diesem Fall noch zum Zweifeln bringt, ist die Sache mit den Wohnkosten. Gerade lebt der junge Syrer in einem Gästehaus am Tierpark. Sein Zimmer kostet dort 18 Euro am Tag. Macht rund 560 Euro im Monat. Bei Familien, die pro Kopf abgerechnet werden, übernimmt das Jobcenter mehrere tausend Euro. Gleichzeitig ist die Miethöhe gesetzlich festgelegt. In Berlin darf der Quadratmeterpreis für eine Person bei 5,71 Euro liegen, die maximale Größe bei 50 Quadratmetern. Nur: Der durchschnittliche Mietpreis in Berlin liegt bei 10,92 Euro pro Quadratmeter. „Es gibt kaum noch Wohnungsleerstand und viel zu wenig sozialen Wohnraum“, sagt der Geschäftsführer des Jobcenters, Lutz Neumann. „Vor Jahren gab es in Berlin auch schon Wohnungslosigkeit, aber der Druck im unteren Segment hat sich deutlich verschlimmert.“
Von 400 Euro zu leben sei schwer, aber machbar
400 Euro im Monat: Ist das genug zum Leben? „Es ist schwierig, man muss sich einschränken“, sagt Kirsten Kamp. „Aber es ist machbar.“ Ihr Kollege nickt. „Es muss ja noch ein Reiz da sein, arbeiten zu gehen“, meint er. Die oft kritisierten Sanktionen können die beiden Mitarbeiter auch verstehen.
Erscheint ein Hartz-IV-Empfänger ohne wichtigen Grund nicht, werden ihm für die kommenden drei Monate zehn Prozent abgezogen. Wer eine – aus Sicht des Jobcenters – zumutbare Arbeitsstelle ablehnt oder eine Beschäftigungsmaßnahme abbricht, bekommt 30 Prozent weniger Geld. Auch wenn die Maßnahme überhaupt keinen Sinn macht. Wie etwa, wenn jemand Dromedare spazieren führen soll. Rund acht Millionen Euro gibt das Jobcenter Lichtenberg im Jahr für Maßnahmen und Weiterbildungen aus. Bei unter 25-Jährigen führt eine schwere Pflichtverletzung zur Kürzung der kompletten Leistung. Nach der zweiten Sanktion wird alles gestrichen: Sogar die Miete. Was hart ist. Was dazu führen kann, dass diese jungen Menschen nicht mehr kommen, verschwinden, auf der Straße landen, kriminell werden. Die SPD ist für mehr Milde bei den Jungen. Grüne und Linke wollen Sanktionen ganz abschaffen.
Manchmal nervt es Martin Lammert, wenn er bei einem Kunden über Monate „null Bewegung“ steht. Dann hat er auch kein Problem, seine Gelder zu kürzen. „Diese Das-steht-mir-zu-Haltung kann ich auch nicht leiden“, sagt er. Viele, die kämen, seien aber nett. Höflich. Aggressiv wurde ihm gegenüber nur einer. Er kam auf ihn zu, stand vor ihm, Nase an Nase. Vielleicht, sagt der Sachbearbeiter, waren das aber auch nur die Drogen.
Namen von der Redaktion geändert