Internationaler Strafgerichtshof: Moral und Schuld
Der Internationale Strafgerichtshof funktioniert nicht. Gerechtigkeit kann er nicht schaffen. Denn dafür bräuchte er Beweise für die individuelle Verantwortung von Angeklagen, die er selten hat.
Der Internationale Strafgerichtshof ist gescheitert. Und vielleicht war er auch nie lebensfähig. Am 5. Dezember 2014 hat die Chefanklägerin des IStGH, Fatou Bensouda, nach drei Jahren Ermittlungen eingestehen müssen, dass sie nichts hatte, was ausreichen würde, um den kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta wegen seiner Verantwortung für die Gewaltexzesse nach der Präsidentenwahl Ende 2007 vor Gericht zu bringen. Sie musste den Fall zurückziehen. Damit ist der Beweis erbracht, dass es unmöglich ist, regierende Präsidenten vor ein Internationales Strafgericht zu bringen.
Tatsächlich ist der Fall Kenyatta nur der, an dem sich am deutlichsten zeigen lässt, warum die Konstruktion des IStGH nicht funktionieren kann. Der Versuch, Gerechtigkeit mit den Mitteln des internationalen Strafrechts zu erreichen, konnte gar nicht gelingen. Denn moralische Schuld und individuell nachweisbare Schuld sind zwei verschiedene Dinge. Mit dem Letzten hat sich der IStGH schwergetan, seit er 2002 zu arbeiten begann.
Warum es so viel politische Unterstützung für den IStGH gegeben hat und erstaunlicherweise auch immer noch gibt, ist schnell erklärt. Nach dem Völkermord in Ruanda und den Verbrechen der Kriege im sich auflösenden Jugoslawien gab es ein großes Bedürfnis, wenigstens bei der Aufarbeitung der Verbrechen nicht zu versagen. Politisch war die internationale Gemeinschaft ein Ausfall. Die Vereinten Nationen machten weder im Bosnienkrieg noch in Ruanda eine gute Figur. Das Massaker von Srebrenica steht dafür sinnbildlich. In einer von den UN-Friedenstruppen gesicherten Schutzzone wurden 8000 Männer und Jugendliche niedergemetzelt. Und in Ruanda kämpfte der Chef der UN-Friedenstruppe, General Roméo Dallaire, im Angesicht des Genozids wochenlang um Verstärkung – und bekam sie nicht. Die Verantwortlichen für diese Verbrechen sollten wenigstens nicht straflos bleiben. Das war die Stimmung, die bewirkte, dass der im vergangenen Jahr verstorbene deutsche Richter am IStGH, Hans-Peter Kaul, und andere einflussreiche Menschenrechtler über die Einrichtung eines dauerhaft tagenden Gerichtshofs zu verhandeln begannen. Er sollte schwerste Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ahnden.
Die Zuständigkeit des Gerichtshofes sollte ergänzend zu den nationalen Rechtssystemen sein. Nur wenn die nationale Gerichtsbarkeit schwerste Menschenrechtsverbrechen nicht verfolgt, wenn der betreffende Staat das Römische Statut, das Gründungsdokument des Gerichtshofs, ratifiziert hatte, oder die Verbrechen zumindest auf dem Staatsgebiet einer Vertragspartei stattgefunden hatten, sollte der IStGH in Aktion treten. Länder, die ihrem eigenen Justizapparat nicht trauten, oder die ihn nicht ausreichend aufgebaut hatten, sollten auch Fälle an den Gerichtshof überweisen können. Und auch der UN-Sicherheitsrat kann den Gerichtshof mit Ermittlungen beauftragen.
Der erste Chefankläger des IStGH, Luis Moreno Ocampo, hatte sich seine Meriten zuvor in Argentinien erworben, wo er in den frühen 1980er Jahren alles daransetzte, die Junta-Generäle, die sich zuvor hatten Straflosigkeit garantieren lassen, doch noch vor Gericht zu bringen. Er war mit diesen eingeschränkten Zuständigkeiten womöglich nicht ganz ausgelastet. Zwar hatten Uganda und die Demokratische Republik Kongo schon kurz nach der Gründung des Gerichtshofs erste Fallkomplexe an den IStGH überwiesen. Doch im Fall der nordugandischen vorgeblich christlichen Miliz LRA (Lord’s Resistance Army) um Joseph Kony hat es erst in diesem Jahr eine erste Festnahme gegeben. Im Ostkongo ging es etwas schneller.
Jedenfalls versuchte Moreno Ocampo, die Verfahren des Gerichts thematisch so zu ordnen, dass jeder Fall zum Präzedenzfall werden sollte. Als der kongolesische Präsident Joseph Kabila 2006 damit begann, die ihm missliebigen Milizenchefs von Mörderbanden im Osten des Landes an den IStGH auszuliefern, machte sich Ocampo ans Werk. Thomas Lubanga, der in der ostkongolesischen Provinz Ituri eine Blutspur hinterlassen hatte, sollte für die Rekrutierung von Kindersoldaten stehen. Das Thema hatte wegen der Praxis der LRA als auch wegen der Praxis der ostkongolesischen Milizen Fahrt aufgenommen. Filmstars und Rocksänger machten das Thema zusätzlich populär. Ein Prozess wegen der Rekrutierung von Kindersoldaten musste einfach ein publizistischer Erfolg für das Den Haager Gericht werden.
Schon beim ersten Fall zeigten sich die Schwächen des IStGH
Ganz so einfach war es dann aber doch nicht. Denn schon beim ersten Fall zeigten sich alle Probleme, die auch die künftigen Fälle begleiten sollten: Die Anklagebehörde hat es nicht geschafft, eigene glaubwürdige Ermittlungen wegen der dem Angeklagten vorgeworfenen Verbrechen zu führen. Es gibt keine Polizei. Ermittler im Auftrag des Chefanklägers sind immer auf die Kooperation des Staates angewiesen, der den Fall vor das Gericht gebracht hat. Aber die politische Gemengelage kann sich ändern. Milizenführer, die einst unbequem waren, wie beispielsweise der Stellvertreter Lubangas, Bosco Ntaganda, können plötzlich nützlich sein. Jahrelang machte Joseph Kabila keinerlei Anstalten, Ntaganda auszuliefern. Erst als er in Nord-Kivu, einer im Süden an Ituri angrenzenden Provinz, wieder eine neue Rebellion mit der M23-Miliz anzettelte, verlor Ntaganda wieder zeitweilig das Wohlwollen des Präsidenten. Ntaganda floh schließlich 2013 in die amerikanische Botschaft in seinem Heimatland Ruanda und lieferte sich selbst nach Den Haag aus.
Im Fall Lubanga fiel es Luis Moreno Ocampo jedenfalls sehr schwer, plausible Beweise für die Rekrutierung von Kindersoldaten heranzuschaffen, obwohl es Tausende von ihnen gegeben hat und teilweise immer noch gibt. Weil der Strafgerichtshof keine eigenen Kapazitäten hat, in einem fremden Land zu ermitteln, hat sich die Anklagebehörde auf Vermittler verlassen. Die brauchte sie ohnehin, weil die Informationssammler aus Den Haag die Landessprachen nicht beherrschten.
Dabei stießen sie auf das zweite Grundproblem: Der IStGH kann die Sicherheit und Unversehrtheit seiner Zeugen nicht garantieren. Obwohl die Zeugen mit Nummern versehen werden und in den Dokumenten in der Regel anonym bleiben, gelingt es den gut vernetzten Angeklagten und ihren Helfern meist, ihre Identität zu ermitteln. Selbst wenn ein anderes afrikanisches Land bereit ist, einen Zeugen samt Familie aufzunehmen, hat es in der Regel keine Kapazitäten, diese Familie dann auch zu beschützen. Dass Zeugen unter Druck gesetzt werden, ist ein immer wiederkehrendes Element der Verfahren vor dem IStGH.
Und dann kommt ein Element dazu, das der Verteidiger von Uhuru Kenyatta, der britische Staranwalt Steven Kay, nach dem Ende des Verfahrens in einem 27-seitigen Dossier skandalisiert hat: Die Anklagebehörde arbeitet nicht so präzise, wie man das von einem so hochrangigen Gerichtshof erwartet. Die Ermittlungsakten lesen sich oft wie Räuberpistolen. „Was fehlt, sind die Beweise“, sagte Kay vor wenigen Wochen bei der Jahrestagung der Internationalen Strafverteidigervereinigung in Berlin. „Der Gerichtshof bietet keinerlei internationale Gerechtigkeit“, klagte er. Und fügte hinzu, dass er nach dem Ende des Verfahrens gegen seinen Mandanten in der Stimmung gewesen sei, „das Gebäude in die Luft zu sprengen“. Gegen die „Propagandamaschine des IStGH“ habe ein Angeklagter, selbst wenn er Präsident eines Vertragsstaates sei, kaum eine Chance, beklagte Kay.
Luis Moreno Ocampo stand kurz davor, seinen ersten Prozess vor dem Strafgerichtshof zu verlieren, weil er der Verteidigung relevante Unterlagen beharrlich verweigerte. Da brachte ihm der UN-Sicherheitsrat den damals populärsten Schauplatz von Menschenrechtsverbrechen auf den Tisch: Er überwies die Massaker und Massenvergewaltigungen in Darfur an den Den Haager Gerichtshof. Moreno Ocampo beantragte wenig später einen Haftbefehl für den sudanesischen Präsidenten Omar al Baschir, der nicht gerade zu den populärsten Diktatoren der Welt gehörte und bis heute nicht gehört. Zwar ist nach bald sechs Jahren immer noch keiner der Haftbefehle im Fall Darfur vollzogen, und seit diesem Jahr scheint sich der Konflikt von einem eingefrorenen wieder zu einem heißen zu entwickeln – kein Wunder, im April will sich Baschir wieder einmal wählen lassen. Aber Moreno Ocampo ließ sich als mutiger Chefankläger feiern. Den Lubanga-Fall hat seine Stellvertreterin und heutige Chefanklägerin, Fatou Bensouda, irgendwie zu Ende gebracht. Lubanga sitzt seine 14 Jahre Haft ab. Aber es war kein Ruhmesblatt.
Im Fall Kenia wurde Moreno Ocampo dann selbst aktiv. Er zog die Nach-Wahlgemetzel in Kenia an sich, nachdem die kenianische politische Klasse es jahrelang nicht geschafft hatte, die Verbrechen im Land selbst zu ahnden. Und am Anfang war das äußerst populär. Die Opfer der Gewalt – mehr als 1000 Tote, mehr als 300000 Vertriebene und tausende Verletzte – waren 2011 noch nicht vergessen. Die Öffentlichkeit wollte endlich sehen, dass die Verantwortlichen bestraft würden. „Don’t be vague, go to Den Hague“ (Sei nicht unentschieden, geh nach Den Haag) lautete die Parole, die auch der inzwischen als Angeklagter vor Gericht stehende Vize-Präsident William Ruto damals rief. Direkt nach den Exzessen hatte eine Ermittlungskommission unter dem Richter Philip Waki hunderte Zeugen interviewt und dokumentierte deren Aussagen in einem mehr als 500 Seiten starken Report. Die kenianische Menschenrechtskommission legte ebenfalls einen Bericht vor, und Human Rights Watch auch. All diese Dokumente waren die Basis für die Anklage, die schließlich gegen sechs Kenianer vorbereitet wurde. Drei hatten auf der Seite der Opposition um den gescheiterten Kandidaten Raila Odinga gestanden, unter ihnen William Ruto, drei hatten auf der Seite des nach offenkundigen Wahlmängeln eilig eingeschworenen Präsidenten Mwai Kibaki gestanden. Dazu gehörte auch Uhuru Kenyatta, der später Kibakis Finanzminister werden sollte. Raila Odinga wurde in der großen Koalition schließlich Premierminister.
Am Ende wurde der Prozess nur gegen zwei Kenianer tatsächlich eröffnet: William Ruto und der Radiojournalist Joshua Sang stehen seit 2013 vor Gericht. Kenyatta verließ das Gericht nach seiner letzten Anhörung im Oktober, bei der er stundenlang stumm im Gerichtssaal saß, deshalb als freier Mann, weil Fatou Bensouda immer mehr Zeugen abhandengekommen waren. Zwei Jahre lang beklagte sie, dass Zeugen unter Druck gesetzt würden. Einer nach dem anderen zog seine Aussagen zurück. Drei ihrer wichtigsten Zeugen gaben in der Tagespresse bekannt, sie hätten gelogen. Derweil waren Kenyatta und Ruto mit einer antikolonialen Wahlkampagne gegen den IStGH zum Präsidenten und Vizepräsidenten gewählt worden. Am Ende stand Bensouda ohne jeden Zeugen da.
Doch das, argumentiert Steven Kay, sei schon 2012 klar gewesen. Wenn nur die Hälfte dessen stimmt, was er in seinem Dossier schreibt, wäre das ein Justizskandal. Kay berichtete in Berlin, dass zwei der Hauptzeugen Bensoudas erst nach der Eröffnung des Vorverfahrens zu Zeugen der Anklage wurden – nachdem sie versucht hatten, Kenyatta zu erpressen. Gegen Geld wollten sie zu seinen Gunsten aussagen. Ein weiterer Zeuge habe sechs verschiedene Versionen präsentiert. Schon 2012 habe festgestanden, dass der Zeuge nichts wisse. Er hatte ausgesagt, er habe Kenyatta bei drei Treffen beobachtet. Kenyatta habe einer kriminellen Bande Geld versprochen, wenn sie Oppositionsanhänger angreifen und verstümmeln würde. Anhand von Ortungsdaten seines Mobiltelefons hatte ein Experte im Auftrag von Bensouda und Kay nachgewiesen, dass der Zeuge bei keinem dieser Treffen gewesen sein konnte.
Es ist eine schwierige Aufgabe, überhaupt Zeugen gegen einen amtierenden Präsidenten zu finden. Aber Moreno Ocampo und seine Nachfolgerin Bensouda haben offenbar keine Zweifel zugelassen. Sie wollten beweisen, dass sie auch einen Präsidenten vor Gericht bringen können. Doch haben sie darauf verzichtet, genügend Beweise für die Schuld dieses Präsidenten zu sammeln. Kenyatta ist vermutlich nicht unschuldig. Aber dumm ist er nicht. Und die Drecksarbeit hat der Sohn des Gründungspräsidenten Kenias sein ganzes Leben lang nicht selbst erledigt. Ein kurzes Nachdenken hätte Fatou Bensouda vor dieser Niederlage bewahren können – auch wenn es ihr Vorgänger ist, der ihr die Suppe eingebrockt hatte. In Kenia sind zuerst die Täter verschwunden. Inzwischen werden die Opfer aus ihren provisorischen Lagern vertrieben – auf dass auch sie verschwinden.
Bundeskanzlerin Angela Merkel oder ein anderer westlicher Staatschef wäre jedenfalls ohne Beweise nie vor ein Gericht gestellt worden, schon gar nicht vor den Internationalen Strafgerichtshof. Kein Wunder, dass die afrikanischen Präsidenten den Eindruck haben, dass sich die Moral des IStGH nur gegen sie richtet.
- bbbbbb
- Brandenburg neu entdecken
- Charlottenburg-Wilmersdorf
- Content Management Systeme
- Das wird ein ganz heißes Eisen
- Deutscher Filmpreis
- Die schönsten Radtouren in Berlin und Brandenburg
- Diversity
- Friedrichshain-Kreuzberg
- Lichtenberg
- Nachhaltigkeit
- Neukölln
- Pankow
- Reinickendorf
- Schweden
- Spandau
- Steglitz-Zehlendorf
- Tempelhof-Schöneberg
- VERERBEN & STIFTEN 2022
- Zukunft der Mobilität