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Ein Land zieht aus. Innerhalb der ersten 24 Stunden nach dem Beginn des Völkermords waren 250 000 Tutsi aus Ruanda ins Nachbarland Tansania geflüchtet. Drei Monate später zogen mehr als eine Million Hutu ins damalige Zaire - auf der Flucht vor Vergeltung. Das Foto zeigt den Flüchtlingstreck aus Zaire zurück nach Ruanda im Jahr 1996.
© imago

20 Jahre nach dem Völkermord in Ruanda: Alle zwanzig Minuten tausend tote Tutsi

Es war ein Völkermord in unvorstellbarem Tempo, von bestialischer Brutalität. 800 000 Tutsi und Hutu starben in nur drei Monaten. Das war 1994, und die Welt schaute weg. Als das ganze Ausmaß klar wurde, hieß es: So etwas darf sich nie wiederholen. Doch die Vergangenheit reicht bis in die Gegenwart.

Ein Hügel der schwarzen Zelte im Land der 1000 Hügel – bizarr lag das Parlamentsgebäude in Ruandas Hauptstadt Kigali im Januar 1994 da. Draußen hatten sich 600 Rebellen-Soldaten eingegraben, drinnen lebten seit Wochen die designierten Minister und Abgeordneten der Tutsi-Rebellen von Paul Kagames Ruandischer Patriotischer Front (RPF). Tagsüber war das Foyer Büro, Matratzen lehnten an den Wänden, meist gab es kein Wasser, keinen Strom. Sie wollten von dort endlich die im Friedensabkommen von Arusha vereinbarte Übergangsregierung bilden, die sie der Hutu-Regierung von Juvénal Habyarimana im Sommer zuvor abgetrotzt hatten, ihre Kämpfer standen 30 Kilometer vor Kigali. Und sie redeten den ethnischen Konflikt weg, den die sogenannte Hutu Power längst gezielt gegen die Tutsi-Minderheit schürte. „Wir haben gemischtes Blut, niemand kann mehr sagen, ob er Hutu oder Tutsi ist“, sagte Vizepremierkandidatin Christine Umutoni. Die UN-Soldaten, die rund um den massiven Metallzaun wachten, waren zu dieser Zeit schon reichlich nervös, ihr Panzer vor dem Tor wirkte eher pittoresk.

Deutsche Diplomaten waren entnervt

In der Stadt gab es immer wieder Schießereien, Deutsche und europäische Diplomaten waren entnervt: Das Land werde nicht mehr regiert, die Ministerien, die die RPF bekommen sollte, seien quasi verwaist; die Polizei komme nur, wenn man sie selbst abhole. Ihre große Sorge war ein neuer Bürgerkrieg – wenn die RPF abermals losschlagen sollte.

Romeo Dallaire war 1994 Chef der UN-Friedensmission in Ruanda. Er bat mehrfach verzweifelt um eine Aufstockung seiner Blauhelmtruppe - sie wurde ihm verwehrt. In seinem Buch über das Versagen vor dem Völkermord in Ruanda schriebt Dallaire über sein Zusammentreffen mit einem Interahamwe-Milizenchef: "Ich habe dem Teufel die Hand geschüttelt."
Romeo Dallaire war 1994 Chef der UN-Friedensmission in Ruanda. Er bat mehrfach verzweifelt um eine Aufstockung seiner Blauhelmtruppe - sie wurde ihm verwehrt. In seinem Buch über das Versagen vor dem Völkermord in Ruanda schriebt Dallaire über sein Zusammentreffen mit einem Interahamwe-Milizenchef: "Ich habe dem Teufel die Hand geschüttelt."
© AFP

In Deutschland nahm davon kaum jemand Notiz, nach der Rückkehr aus Ruanda fragten die Kollegen: Wo warst du? Warum sollen wir denn die Geschichte drucken? Außer Entwicklungshelfern kannte kaum jemand das überbevölkerte Land mit damals 7,7 Millionen Einwohnern, das Jahr für Jahr 200 bis 300 Millionen Dollar Auslandshilfe bekam.

Am 6. April wurde die Präsidentenmaschine abgeschossen

Das Grauen brach los, nachdem am 6. April das Flugzeug von Präsident Juvénal Habyarimana abgeschossen wurde. Bis heute ist ungeklärt, von wem, vielleicht von den eigenen Leuten. Sofort startete das „Netzwerk null“, das systematische Morden. Im Hass-Sender, dem sogenannten Freien Radio der 1000 Hügel mit hippen Songs und coolen Moderatoren wurden Todeslisten verlesen, die Interahamwe-Milizen („Die zusammen kämpfen“) zogen in Kigali von Haus zu Haus, aber auch fern der Hauptstadt schlugen Mörder los. Es war ein Blutrausch, in rasantem Tempo von einem Ausmaß ohnegleichen. Viele mordeten mit einfachsten Waffen: Macheten, die Geschäftsleute seit Monaten in horrenden Mengen importiert und versteckt hatten. Unter den Augen und mit Wissen der Vereinten Nationen. Fachleute schätzen, dass innerhalb von 100 Tagen 800 000 bis eine Million Tutsi und moderate Hutu bestialisch ermordet wurden. Milizen kontrollierten an Straßensperren die Ausweise, darin stand, wer als Tutsi oder Hutu galt, auch wenn viele Familien Mitglieder beider Ethnien hatten. Auch Nachbarn töteten Nachbarn, Kollegen Kollegen, Kinder Kinder, Mütter Mütter. Sie mordeten daheim und dort, wo Menschen Zuflucht suchten. Sogar in Kirchen.

Ausländer in den ersten Apriltagen in Kigali telefonisch zu erreichen, war praktisch unmöglich. Die meisten versteckten sich, versuchten irgendwie zu entkommen. Viele wussten nicht, wem sie noch vertrauen sollten. „Die UN-Blauhelmtruppe hat vollständig versagt“, schimpfte der Berliner Helmut Asche, der mit seiner auch als Entwicklungshelferin arbeitenden Frau nahe dem Camp der Präsidentengarde wohnte, direkt nach seiner Flucht. Asches hatten nur über Funk von einem US-Konvoi ins Nachbarland Burundi erfahren, dem sie sich „mit einem weißen Bettlaken an der Antenne“ anschlossen. Die Blauhelme seien „in ihren Kasernen geblieben, obwohl die Panzer und Schützenpanzer hatten“. Sein Eindruck: Bei den Massakern gehe es weniger um einen Konflikt zwischen Hutu und Tutsi als darum, wer zum Präsidentenclan gehöre und wer nicht.

Viele Korrespondenten und Kommentatoren waren anfangs der Ansicht, Hutu und Tutsi lieferten sich mal wieder eine Stammesfehde. Der Bürgerkrieg sei wieder aufgeflammt, marodierende Banden „nutzten die Gelegenheit und machten den Kommandos des Militärs, der Präsidentengarde und der Polizei die Herrschaft auf den Straßen streitig“, hieß es in Berichten aus Kigali. Die Aufgabe der 2500 Blauhelme sei hinfällig geworden, da sie nur Frieden bewahren könnten, wenn die Kriegsparteien Frieden wollten, hieß es in Kommentaren.

Die Vereinten Nationen haben versagt

Dabei wussten es mindestens die UN eigentlich längst besser. Blauhelmkommandeur Romeo Dallaire hatte um die Aufstockung auf 5500 Mann gebeten, um einen Völkermord zu verhindern. Schon am 11. Januar berichtete er an die Abteilung für Friedensmissionen unter Kofi Annan, die Interahamwe bilde nach Aussage eines Informanten aus der Nähe des Präsidenten Männer aus, um die Tutsi zu vernichten, alle 20 Minuten bis zu 1000. Er solle Todeslisten aufstellen. Dallaire wollte die Waffenlager ausheben. Annans Referat verbot es und forderte, Dallaire solle stattdessen Präsident Habyarimana einweihen, die Botschafter der USA, Belgiens und Frankreichs informieren. Die Welt schaute und hörte weg. Die Präsidentengarde ermordete in den ersten Tagen auch zehn belgische Blauhelme, die die tutsi-freundliche Premierministerin schützen sollten, ihre Körper warfen sie vor dem Krankenhaus auf einen Stapel. Belgien zog sofort seine 450 Fallschirmjäger ab, die am besten ausgebildeten Männer. Wenig später gingen auch fast alle anderen. Internationale Soldaten flogen nur Ausländer aus – für die Völkermörder das Signal zur Apokalypse, glaubt Dallaire. Für ihn war der Chef der Interahamwe, Robert Kajuga, an dessen Kragen bei ihrem Treffen noch Blut klebte, der Teufel in Person. Er habe „in Ruanda dem Teufel die Hand geschüttelt. Ich habe ihn gesehen, gerochen und berührt“, schrieb er in seinem Buch über die Mitverantwortung der Völkergemeinschaft. Auch als er am 24. April nach New York kabelte, es geschehe ein Völkermord, wollte das keiner hören. In dem Fall hätten die UN eingreifen müssen. Der demütigende Fehlschlag in Somalia war noch gut in Erinnerung. Als zehntausende Leichen im Viktoriasee trieben, war das Grauen nicht mehr zu übersehen. Mitte Mai beschlossen die UN zwar eine zweite Mission, sie wurde aber ständig verzögert. Französische Truppen schafften ab Juni in der umstrittenen „Operation Türkis“ sogenannte Sicherheitszonen für Hutu-Flüchtlinge – die auch Völkermörder als Fluchtkorridore nutzten. Den Genozid an den Tutsi beendete die Rebellenarmee des heutigen Präsidenten Kagame. Am 4. Juli nahmen sie Kigali ein.

Die Bilder der Massenflucht schockierten die Welt

Zwei Millionen Ruander flohen in die Nachbarländer, teils nutzten die Mörder Hutu-Dörfler als Schutzschilde. Binnen Tagen kamen im Juli eine Million Menschen nach Zaire, heute Demokratische Republik Kongo. Es war, als zöge ein Volk aus. Unschuldige Hutu fürchteten Rache. Völkermörder schürten absichtlich Angst, zum Teil war sie berechtigt. Auch Kagames Rebellenarmee brachte Studien zufolge auf ihrem Marsch Zivilisten um, es ist von 25 000 bis 60 000 die Rede, Hunderte sollen es allein in einem Stadion gewesen sein.

Die Bilder der Massenflucht schockierten die Welt, nun wollten alle helfen – vor allem in den riesigen Lagern, die wohl schlimmsten der jüngeren Geschichte. Die Einheimischen wurden bei der Hilfe weitgehend vergessen. Niemand war auf das Chaos vorbereitet. Auch deutsche Helfer wussten nicht, was sie erwartet, Cholera war ausgebrochen. In der Enge der unzähligen blauen Plastikplanen starben wieder Menschen, auch dort: überall Leichen. Jeder konnte sie riechen noch ehe er einen Körper sah. Niemand wusste, ob ein Flüchtling unschuldig oder auch ein Mörder war. Und bald war klar, dass sich die Milizen in den Lagern neu formierten. Hinter Goma hatte sich zum Beispiel auf einer Landzunge eine ruandische Einheit ungeniert mit Funkgeräten und Jeeps eingerichtet, niemand behelligte sie. Die Interahamwe rekrutierten auch zwangsweise Kämpfer – und starteten Angriffe auf Ruanda. Ende 1996 versuchte Kagame zusammen mit Kinshasa die Lager gewaltsam aufzulösen. Hunderttausende kehrten zurück nach Ruanda. Viele flohen in die Berge. Kigali forderte, dass Rückkehrer gemeldet werden sollten – nicht alle kamen dann noch bis zur Grenze. Immer wieder wurden auch Ruanda Übergriffe angelastet, es gab zwei Kongokriege. Und der Vorwurf eines zweiten Genozids steht im Raum: an Hutu.

Ruandas Gefängnisse waren völlig überfüllt. Im Zentralgefängnis von Kigali hausten die meisten dicht gedrängt unter freiem Himmel. Schließlich wurde entschieden, die meisten Beschuldigten vor Dorfgerichten, Gacacas, abzuurteilen. Danach kamen viele Täter zurück in ihre Dörfer.

Die neuen Herrscher gaben rigoros die Losung aus: Wir sind alle Ruander. So, wie es die Rebellen damals im Januar gesagt hatten. Keiner sollte mehr von Hutu und Tutsi reden. Obwohl natürlich jeder weiß, wer wer ist.

Wie Täter und Opfer in Ruanda heute zusammenleben, lesen Sie hier: Frieden finden

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