Essay: Das Weltgericht im Blick
Sperriges Terrain, aber unverzichtbar für die Globalisierung des Rechts, von Nürnberg bis Den Haag: Über Filme zum Thema Internationale Strafjustiz.
Aggressiv gehen sie vor, von nichts gebremst. Milizionäre im Kongo zerren ein zitterndes Kind auf die Ladefläche eines Lastwagens. Jemand filmt das. Der Junge, höchstens zwölf, ist vollständig unbekleidet. Die Männer werfen ihn hin, Stricke ziehen sich um seine Handgelenke. Das Kind wehrt und windet sich in Panik, wie ein Fisch auf den Planken eines Schiffsdecks. Jemand filmt auch das.
Ereignet haben sich solche Szenen im zweiten Kongokrieg von 1998 bis 2003. Für Warlords wie Thomas Lubanga entführten Soldaten Kinder, die unter Drill und Drogen zu Serienkillern wurden. Als damals Kinder verschleppt, Frauen vergewaltigt, Männer verstümmelt, Hütten abgefackelt und Läden geplündert wurden, hatte keiner der Täter mit der Justiz gerechnet. Doch das Unwahrscheinliche geschah: Was sie wie im Zwang zur Wiederholung kolonialer Gräueltaten angerichtet hatten, brachte einige der Täter in die Räume eines Hochhauses voller Juristen, Akten und Computer, tausende Kilometer vom Tatort entfernt: der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag.
Zitiert wird die Filmsequenz mit dem geraubten Jungen in dem deutschen Dokumentarfilm „The Court“ von Marcus Vetter und Michele Gentile, der ab 2. Mai in Kino zu sehen sein wird. „The Court“ versucht ein Porträt des ICC, der 1998 durch das Römische Statut und 120 Vertragsstaaten gegründet wurde. Damit war am Ende des 20. Jahrhunderts eine Art „Weltgericht“ entstanden – eine zivilisatorische Sensation. Erster Angeklagter des ICC wurde im Januar 2009 der Warlord Thomas Lubunga. Im Juli 2012 verurteilte das Gericht den 1960 geborenen Psychologen und Vater von sieben Kindern zu 14 Jahren Haft.
Internationale Strafjustiz entstand erstmals für Nürnberger und Tokioter Prozesse nach 1945, ihre modernen Nachfolger sind den meisten Zeitgenossen noch kaum vertraut. Wenn das über die Nachrichten hinaus geschehen soll, sind gute Filme, Dokumentationen und Berichte zur Globalisierung des Rechts unverzichtbar. Leider gleitet „The Court“ ab zu einer Personalityshow für den Chefankläger Luis Moreno-Ocampo, der zu sehen ist als munterer Manager, telefonierend in der Limousine, zufrieden zurückgelehnt im Chefsessel, in Feierlaune bei einem Erfolg, besorgt allenfalls darüber, dass einiges noch außerhalb der ICC-Jurisdiktion liegt. Damit zielt er nicht etwa auf Nordkorea oder Weißrussland, sondern auf Israels Behandlung der Palästinenser. Neben dem Star Ocampo verblasst hier alles, die Fragmente aus Beweisvideos, die Einsprengsel von Zeugenaussagen und Plädoyers am Tribunal.
Legendäre: Sydney Lumets "Die zwölf Geschworenen"
Wenn ein Film so sehr entgleist, ist das an sich und in sich ein Symptom. Es ist fraglos herausfordernd, für Prozesse solcher Dimension, wie sie am ICC verhandelt werden, ästhetisch und politisch wirksame, zulässige Formen der Repräsentation zu finden. Zudem sind Gerichtsfilme kein deutsches Genre. Während deutsche Darstellungen von Kriminalfällen mit der erfolgreichen Jagd enden, mit der Festnahme der Täter, setzt das angelsächsische „court room drama“ gerade da erst ein. „Trial is unscripted drama“, lautet eine englische Redeweise, Prozesse seien Dramen ohne Skript, vor allem da, wo die Parteien, wie im angelsächsischen Rechtssystem, den Geschworenen engagierte Kreuzverhöre und Plädoyers bieten. So entstanden Romane und Filme, wie Robert Mulligans „Wer die Nachtigall stört“ von 1962 oder Sydney Lumets „Die zwölf Geschworenen“ von 1956. Seit je tragen angelsächsische Filme dazu bei, einer breiten Öffentlichkeit die juristische Aufklärung krimineller Handlungen transparent zu machen.
Zu den für Deutschland historisch konstitutiven Prozessen entstand 1961 ein amerikanischer Spielfilm, Stanley Kramers „Das Urteil von Nürnberg“, mit Spencer Tracy als Richter im Verfahren gegen Vertreter der NS-Justiz, und Marlene Dietrich als Gattin eines der Angeklagten. Bei der Premiere sprach Willy Brandt als Berlins Regierender Bürgermeister in der Kongresshalle. Auch Dokumentarfilme zu Nürnberg waren nicht in Deutschland entstanden, sondern 1946 in der UdSSR und 1948 in den USA mit Stuart Schulbergs „Nuremberg and its Lesson“. Für die Vorstellung im Berliner Sportpalast warb die Zeile: „Nürnberg. Symbol des Völkerrechts gegen internationale Gesetzlosigkeit“. Finanziert hatte die Dreharbeiten das Office of Military Government, U.S. (OMGUS). Am Den Haager Jugoslawientribunal wunderten sich die Berichterstatter aus ganz Europa, warum dort in den ersten Jahren überhaupt keine deutschen Kollegen aufgetaucht waren. „Ihr hattet doch Nürnberg!“, hörte man von ihnen.
Heidi Specognas Film "Carte Blanche" setzt Maßstäbe
Nun sind Prozesse gegen Kriegsverbrecher, internationale Tribunale, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandeln, an sich ein sperriges Terrain, nicht nur für deutsche Filmemacher. Bei Gericht gelten strikte Regularien, phasenweise kommt es zu hypnotischer Langsamkeit, stundenlang können Experten zu Ballistik oder Funktechnik reden. Nirgends scheint die Diskrepanz zwischen den Verbrechen und dem Setting so unermesslich wie hier, und nie können die Verfahren den Traumatisierten vollends gerecht werden. Sie sollen ja nur Tatbestände aufklären, den individuellen Anteil des Angeklagten daran gewichten und ein Urteil finden.
Angesichts der immens reduzierten Struktur scheint eine der wenigen, ethisch vertretbaren Möglichkeiten, solche Prozesse zu repräsentieren, die maximal reduziert dokumentarische. Als Peter Weiss 1965 „Die Ermittlung“ über die Auschwitzprozesse schrieb, stützte er sich für das Theaterstück ausschließlich auf Zeugenprotokolle. Die Bühne wirkte ähnlich asketisch, wie der Gerichtssaal. Vergleichbar ging Eyal Sivans Dokumentarfilm „Ein Spezialist“ von 1999 vor, der den Eichmann-Prozess in Jerusalem darstellt. Karg und intensiv ist auch die britische Dokumentation „Milosevic on Trial“ von Michael Christoffersen aus dem Jahr 2007, die sich auf Zeugen und Reaktionen des Angeklagten und des Richters konzentriert; ebenso verfährt Mirko Klarins „Against all odds. The first ten years of the Tribunal“ von 2004. Eine Pionierin des ICC ist die Schweizer Dokumentarfilmerin Heidi Specogna mit ihrem preisgekrönten Film „Carte Blanche“ von 2011.
Während Specogna die Ermittler des ICC bei Exhumierungen und Beweissicherung in Zentralafrika begleitet, beweist sie eine präzise beobachtende Geduld und Ruhe, die geradezu mimetisch dem Rhythmus und dem Modus von Ermittlungsarbeit folgt. Zugleich darf der Film empathisch über das Gerichtsverwertbare hinausweisen, den Zeugen auch da zuhören, wo sie nichts konkret zur Tat sagen, und den Ermittlern auch da zusehen, wo sie erschöpft sind und sich selber Fragen stellen.
„Carte Blanche“ setzt Maßstäbe. Dieser Film zeigt auch: Längst wäre es Zeit, einen Preis auszuschreiben für herausragende Filme allein zum Thema Internationale Strafjustiz. So neu diese ist, so sehr braucht sie solche Impulse.
Caroline Fetscher