Gespaltenes Polen: Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen
Die nationalkonservative Regierung in Warschau spaltet die Gesellschaft. Ihr Machtanspruch ist zur Gefahr für die Demokratie geworden. Eine Analyse.
Lang, lang ist’s her, da kannte Europa eine Ära des Investiturstreits um die Einsetzung der Bischöfe und eine Epoche der Päpste und Gegenpäpste. Im Kern war beides ein Ringen darum, wie weit die weltliche Macht des Königs reicht. Oder ob es eine andere, unabhängige Machtinstanz gibt, der sich der Regent unterwerfen muss. Der Investiturstreit liegt 900 Jahre zurück, die Zeit der Gegenpäpste mit Sitz in Avignon endete vor 700 Jahren.
Der moderne Investiturstreit betrifft Verfassungsrichter, nicht Bischöfe
2017 droht sich Vergleichbares zu wiederholen. Im nächsten Kapitel der polnischen Tragödie. Heute geht es nicht mehr um die Frage, wer den göttlichen Willen auf Erden repräsentiert, sondern den Volkswillen in einer Demokratie. Der moderne Investiturstreit betrifft nicht Bischöfe, sondern Verfassungsrichter. Bereits in der kommenden Woche könnte dieses Ringen um die Grenzen irdischer Regierungsmacht zu einer sichtbaren Zweiteilung der Institutionen in Warschau führen: Parlament und Gegenparlament. Verfassungstribunal und Gegentribunal.
28 Jahre nach der Wende zur Demokratie und 13 Jahre nach dem EU-Betritt fällt Polen in eine Konfrontation zurück, die überwunden schien. Eine Regierung maßt sich an, so absolut zu regieren wie einst ein König und später die kommunistische Diktatur. Und Dissidenten reagieren mit brachialen Protestformen wie der Besetzung des Parlaments – so wie einst in Polens Adelsrepublik Andersdenkende mit ihrem „Liberum Veto“ einen Reichstag oder die Königswahl sprengen konnten.
Es klingt wie der blanke Irrsinn. Kann das wirklich wahr sein – im 21. Jahrhundert mitten in Europa? Gibt es in etablierten Demokratien und Rechtsstaaten nicht erprobte Mechanismen der Konfliktvermeidung und des Interessenausgleichs vor der Eskalation?
Kommenden Mittwoch: Parlament und Gegenparlament
Polen hat diese Optionen hinter sich gelassen. Die Institutionen, die an der friedlichen Streitschlichtung mitwirken könnten wie das Verfassungstribunal, wurden längst in den Machtkampf hineingezogen, um sie zu neutralisieren.
Beide Seiten, Regierung und Opposition, sagen, dass sie das Recht auf ihrer Seite haben. Sie verfolgen es mit einem heiligen Ernst, als könne es nur eine Wahrheit geben. So spaltet sich der politisch aktive Teil der Gesellschaft in zwei Vaterländer mit zwei konkurrierenden Patriotismen. Und zwei getrennt tagenden Rumpfparlamenten.
Am Mittwoch sollen die Abgeordneten des Sejm beraten. Doch es wird wohl keine Plenarsitzung geben. Regierungsfraktion und Opposition werden getrennt tagen. Schon bei der Beschreibung, was für eine Sitzung das ist, prallen die Sichtweisen unversöhnlich aufeinander. Für die Regierungspartei PiS („Recht und Gerechtigkeit“), die die absolute Mehrheit der Sitze hat, ist es eine neue Sitzung nach der Weihnachtspause. Für die Opposition – die zuvor regierende Bürgerplattform (PO) und die neue Partei Nowoczesna – ist es die Fortsetzung der letzten Sitzung von 2016, da sie nie rechtskräftig geschlossen worden sei.
Die Opposition möchte den Haushalt beraten. Unsinn, meint das Regierungslager. Der sei schon verabschiedet. Die Opposition sei selbst schuld, dass sie nicht beteiligt war. Vor Weihnachten hatte sie aus Protest gegen Versuche der Regierungspartei, die Medienrechte im Parlament einzuschränken, das Rednerpult im Plenarsaal besetzt. Daraufhin war die PiS-Fraktion ausgezogen und hatte in einem anderen Saal das Budget verabschiedet.
Dabei habe die PiS jedoch versäumt, festzustellen, ob dieser reduzierte Sejm beschlussfähig war, argumentiert die Opposition. Ohne diesen Nachweis sei der Budgetbeschluss nicht rechtskräftig. Und in welcher westlichen Demokratie gebe es das: Ein Staatshaushalt wird ohne Aussprache mit der Opposition beschlossen?
Seit Weihnachten hält die Opposition den Sejm besetzt
Aus Protest hält ein Dutzend Abgeordnete seit Mitte Dezember den Plenarsaal besetzt, Tag und Nacht. Sie sind über die Feiertage nicht zu ihren Familien gefahren und haben nicht mit ihren Angehörigen die Weihnachtsoblate geteilt – ein großes Opfer für traditionsbewusste Polen. „Jetzt müssen wir jenen Polen Hoffnung geben, die weiter an die Demokratie glauben“, schreiben sie in einer Erklärung, die die einflussreichste oppositionelle Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ veröffentlichte.
Das Regierungslager spricht seither von einem Putsch. Die Proteste gefährdeten die öffentliche Ordnung und destabilisierten den Staat. Als die PiS im Dezember die Medienrechte beschneiden wollte, versammelten sich Gegendemonstranten vor dem Parlament und blockierten die Ausgänge. Sie seien „sehr aggressiv“ gewesen, begründet die PiS die Putsch-Theorie. „Die Anspannung ist groß, und die Anhänger einer Destabilisierung sind bereit, sehr weit zu gehen“, warnt der PiS-Fraktionschef. Die Gewalt gehe von der Opposition aus. Manche PiS-ler fordern einen Polizeieinsatz, um die Besetzung des Plenarsaals zu beenden.
Das Volk ist gespalten: 40 zu 41 Prozent
Das Volk ist gespalten. Auf die Frage „Unterstützt du den Protest der Opposition im Sejm?“ antworten 40 Prozent mit Ja, 41 Prozent mit Nein, 19 Prozent haben keine Meinung. Nahezu alle Bereiche in Polen sind gespalten, auch die Medien. Sie berichten je nach Lagerzugehörigkeit. Die PiS hat den öffentlichen Rundfunk ihrer Kontrolle unterstellt. Seither sind die Einschaltquoten gesunken. Es gibt Alternativen wie den privaten Fernsehsender „tvn 24“, private Radiostationen wie „Tok FM“, Zeitungen wie die „Gazeta Wyborcza“.
Gäbe es solche Szenen im Bundestag, könnte man das Bundesverfassungsgericht als unabhängige Instanz anrufen. Doch in Polen ist selbst das Verfassungstribunal gespalten. Auch dort könnte es nun dazu kommen, dass sich Verfassungsrichter, die auf Vorschlag der Opposition gewählt wurden, weigern, gemeinsam mit Richtern Recht zu sprechen, die kürzlich auf Vorschlag der PiS vereidigt wurden. Denn deren Berufung war nach dem Urteil des höchsten Gerichts verfassungswidrig.
Kampf um das Verfassungstribunal
Kurz vor Weihnachten hat jedoch der Vorsitz im Verfassungsgericht gewechselt. Der alte Vorsitzende Andrzej Rzeplinski hatte drei neue Verfassungsrichter, die nach Gerichtsmeinung nicht rechtmäßig berufen wurden, nicht an den Sitzungen teilnehmen lassen. Rzeplinski war noch von der Vorgängerregierung berufen worden.
Inzwischen gibt es eine neue Vorsitzende: Julia Przylebska, eine Parteigängerin der PiS und Ehefrau des neuen polnischen Botschafters in Berlin Andrzej Przylebski. Sie erkennt die unrechtmäßigen Verfassungsrichter an und hat sie an ihrer Wahl mitwirken lassen. Die Umstände, unter denen sie an die Spitze des Verfassungstribunals kam, sind darum rechtlich fragwürdig.
Präsident Andrzej Duda, der ebenfalls zum PiS-Lager gehört, hatte sie am Ende der Amtszeit ihres Vorgängers mit der Leitung der Sitzung betraut, in der zwei Personen gewählt werden sollten, die dem Präsidenten als Kandidaten vorgeschlagen werden. Er hat dann die Wahl, wen davon er ernennt. Julia Przylebska, ohnehin Favoritin, legte diese Wahlsitzung auf einen Tag, an dem ein zur Opposition zählender Richter verhindert war und weigerte sich, auf den nächsten Tag auszuweichen, an dem er gekonnt hätte. Sie ließ die drei unrechtmäßigen PiS-Richter an der Wahl teilnehmen.
Nur sechs Richter stimmten für die neue Vorsitzende
Nur sechs Richter stimmten ab. Der noch bis Juni 2017 amtierende Vizevorsitzende des Verfassungstribunals Stanislaw Biernat wies darauf hin, dass eine Beteiligung von mindestens der Hälfte der 15 Verfassungsrichter vorgeschrieben ist. Dennoch wurde offiziell mitgeteilt, es habe eine gültige Wahl gegeben und Kandidaten für den Vorsitz seien Julia Przylebska und Mariusz Muszynski, einer der unrechtmäßigen Richter.
Die PiS-Regierung und Präsident Duda haben sich um das Urteil des Verfassungstribunals, welche Richter rechtmäßig seien und welche nicht, nie geschert – mit der Begründung, ein Urteil des Verfassungstribunals sei erst gültig, wenn es veröffentlicht sei. Und die Regierung dürfe entscheiden, ob und wann sie es veröffentliche. Präsident Duda hat den Beschluss des höchsten Gerichts, dass er die vor dem Machtwechsel ordnungsgemäß gewählten Richter vereidigen müsse, nicht befolgt. Und stattdessen drei PiS-loyale Richter vereidigt, obwohl das Tribunal diese für rechtswidrig befunden hatte. Regierung und Präsident führen den Sinn eines Verfassungsgerichts, das unabhängig von ihnen arbeitet – ja, sie sogar kontrollieren soll –, ad absurdum.
Polens Weg nach Westen ist unterbrochen
1989 hat Polen seinen langen Weg nach Westen begonnen, zu einer vitalen Demokratie mit Gewaltenteilung. Er war nicht immer gradlinig. Auch die Kräfte, die heute die Opposition bilden, haben bisweilen demokratische Regeln missachtet, aber nie so brutal. Die PiS hat den Weg nun unterbrochen. Ihr absoluter Machtanspruch unter nationaler rechter Flagge bewirkt dasselbe wie früher der absolute Machtanspruch der Kommunisten unter internationalistischer linker Flagge: Polen hat kaum noch Institutionen, die von allen Lagern als Autorität anerkannt werden. Gerade wird das Vertrauen in Parlament und Gerichte unterminiert. Pessimisten fürchten, dies sei das eigentliche Ziel des PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski: Destabilisierung als Vorwand für die Einführung eines halbautoritären Präsidialsystems. Die Optimisten hoffen, Kaczynski wolle nur möglichst viele Machtpositionen besetzen, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die PiS weitere Wahlen gewinnt.
Die Opposition bestreitet nicht das Recht der Regierung zu regieren und im Rahmen ihrer Kompetenzen Personal in Position zu bringen. Sie fordert aber Respekt vor der Gewaltenteilung. Die Regierung muss sich dem Verfassungstribunal beugen, nicht umgekehrt. So beurteilt das auch die Europäische Kommission. Sie hat ein Verfahren eingeleitet aus Sorge, dass Polens Demokratie und Rechtsstaat bedroht seien. Zu Sanktionen wird das am Ende wohl nicht führen. Die müssten alle anderen EU-Mitglieder einstimmig beschließen. Ungarn wird einen solchen Beschluss verhindern.
Für die PiS steht der Volkswille über dem Gesetz
Gibt es noch Kompromisslinien? Wer könnte die Deeskalation vermitteln? Da prallen nicht nur Machtansprüche aufeinander, sondern verschiedene Demokratieverständnisse. Für die PiS ist der Volkswille die oberste Instanz – wie man das auch aus der gaullistischen Tradition in Frankreich kennt oder aus dem halbautoritären Pilsudski-Polen der Zwischenkriegszeit. Die PiS habe die absolute Mehrheit im Parlament und dürfe damit schalten und walten, wie sie wolle.
Auf Vorhaltungen, sie müsse aber die Formalien einhalten, zum Beispiel auf die Beschlussfähigkeit achten, reagiert sie mit Achselzucken. Sie findet das unerheblich. Da sie die Abstimmung dank ihrer absoluten Mehrheit jederzeit wiederholen könnte, brauche sie das in der Praxis nicht zu tun.
Das erzürnt die Opposition. Für sie sind die Regeln von Demokratie und Rechtsstaat eine historische Errungenschaft nach dem Sturz der Diktatur. Ihre Rechte und die der Minderheiten dürfen nicht vom Volkswillen abhängen. Sie gelten unbedingt.
Die Sprache der Diktatur kehrt zurück: "Regime-Fernsehen"
In die Alltagssprache kehren Begriffe aus der Zeit vor der Wende von 1989 zurück. Oppositionelle nennen die staatlichen Sender wieder „das Regime-Fernsehen“ – so wie damals, als sich die Zivilgesellschaft von 1980 an in der Gewerkschaft Solidarnosc organisierte. Auch damals gab es zwei Vaterländer und zwei Patriotismen. Die Ironie: Beide Lager, die sich da ineinander verbissen haben, stammen aus der Solidarnosc, die nationalkonservative PiS wie die liberale Bürgerplattform, die mit der „Nowoczesna“ das Rückgrat der Opposition bildet. Alle reklamieren das Erbe des Freiheitskampfs der Solidarnosc für sich.
Langfristig ist nur ein Weg zu sehen für die Rückkehr zur Demokratie westeuropäischen Musters. Die Opposition muss bei der Wahl 2019 geeint antreten, um die PiS zu besiegen. Vorerst hat die PiS alle Macht in der Hand.
Eine kleine Hoffnung ruht auf Präsident Duda
Eventuell mit einer Einschränkung, das muss sich erst noch zeigen. Präsident Duda, der lange wie ein Handlanger der PiS agierte, versucht unabhängiger aufzutreten. Anfangs hatte er, zum Beispiel, die Urteile des Verfassungstribunals zu den Richtern ignoriert. Die jüngste Eskalation scheint ihm Sorge zu machen. Er bietet sich als Vermittler an, lädt die Fraktionsvorsitzenden zu Sondierungsgesprächen ein. Umstrittene Gesetzesvorhaben der PiS unterschreibt er nicht mehr sofort. Er behält sich eine juristische Prüfung vor. Duda müsste freilich viel mehr Unabhängigkeit zeigen, um zur Hoffnung für die Rettung der Demokratie in Polen zu werden.