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Jaroslaw Kacyznski, Chef der polnischen Regierungspartei PiS.
© dpa

Streit um Abtreibungsrecht in Polen: Ist Kaczynski nun verwundbar?

Mit ihrer Verschärfung des Abtreibungsrechts sind die Nationalkonservativen in Polen gescheitert. Das zeigt, der Wandel muss von innen kommen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Der Machtkampf in Polen hat in der vergangenen Woche eine erstaunliche Wendung genommen. Bedeutet sie auch einen Wendepunkt? Zum ersten Mal seit der Eroberung der absoluten Parlamentsmehrheit vor einem Jahr hat die nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) eine Niederlage hinnehmen müssen. Sie hat den Gesetzesvorschlag einer drastischen Verschärfung des Abtreibungsrechts ins Parlament eingebracht und ihn dann am Mittwoch überstürzt zurückgezogen. Der öffentliche Widerstand wurde ihr offenbar zu groß. Frauen hatten am Montag zum Generalstreik aufgerufen. Schätzungsweise hunderttausend Frauen blieben der Arbeit fern. In 140 Städten kam es zu öffentlichen Protesten.

Ein Rätsel bleibt: Warum hat die PiS – ganz voran Parteichef Jaroslaw Kaczynski – diese Niederlage geschehen lassen? Sie hätte das Anliegen einiger hunderttausend religiöser Kirchgänger und des Klerus, die das Projekt mit einer Unterschriftenliste in Gang gesetzt hatte, entweder nicht zu ihrem machen müssen. Oder das Gesetz, wenn es ihr so wichtig erschien, mit ihrer ungefährdeten absoluten Mehrheit durchdrücken können. Die Abgeordneten hätten gekuscht. Die PiS ist eine straff geführte Partei, die keine interne Insubordination duldet. Generell ist erstaunlich, wie unangefochten Kaczynski, den alle nur ehrfurchtsvoll den „Präses“ nennen, die Fäden zieht, obwohl er kein Regierungsamt innehat. Präsident Andrzej Duda und Premierministerin Beata Szydlo machen wenig Anstalten, ihre imponierenden Wahlsiege zu nutzen, um ein eigenständiges Profil zu entwickeln und eigene Machtzentren in der Partei aufzubauen.

Polen ist eine widerständige Gesellschaft

Was sind die Folgen dieser öffentlichen Niederlage? Ist die PiS, ist Kaczynski nun verwundbar? Protest gab es schon zuvor. Auch andere Regierungsprojekte stießen auf erbitterte und kontinuierliche Gegenwehr: die Entmachtung des Verfassungstribunals und die Unterstellung der staatlichen Medien unter Parteigänger der Regierung. Eine Protestbewegung entstand, das Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD). Es brachte selbst im Winter und bei Regen die Bürger auf die Straße. Polen ist eine widerständige Gesellschaft. Kein anderes Land im Ostblock hat so konsequent aufbegehrt gegen die kommunistische Diktatur. Es war kein Zufall, dass die Solidarnosc dem System den Todesstoß versetzte. Dieser Geist lebt bis heute fort – in deutlichem Kontrast zu Ungarn, wo sich keine gesellschaftliche Massenbewegung einem Viktor Orbán entgegenstellt.

Dennoch: Kaczynski hat sich durch die Proteste in Sachen Verfassungsgericht und Medien sowie die Mahnungen der EU nicht beeindrucken lassen – kühl kalkulierend, dass externe Kräfte der PiS diesmal nicht so einfach die Macht wieder nehmen können wie in ihrer ersten kurzen Regierungszeit 2005 bis 2007. Damals war sie auf einen Koalitionspartner angewiesen; der ging ihr nach zwei Jahren von der Fahne. Diesmal hat sie eine bequeme absolute Mehrheit und nutzt sie, um möglichst viele Bereiche in Staat, Verwaltung und Gesellschaft ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Den Machtkampf um Gerichte und Medien sitzt sie unbekümmert aus.

Als Nächstes möchte sie die Dezentralisierung rückgängig machen. Ihr Ziel ist eine straff geführte „Vierte Republik“ zum 100. Geburtstag der Wiedergeburt Polens 2018. Das Projekt würde zudem die Großstädte entmachten, die Zentrum der Opposition sind. Die Basis für eine Wiederwahl legt die PiS mit sozialen Wohltaten wie der großzügigen Erhöhung des Kindergelds und Rentengeschenken. Wie sie das auf Dauer finanzieren will, bleibt offen. Gerade hat sie sich die Kontrolle der Rentenversicherung und deren Kassen gesichert.

Die Niederlage entwickelt ihre eigene Strahlkraft

Nun kann man spekulieren, das Abtreibungsrecht habe für einen Patriarchen wie Kaczynski und eine männerdominierte Partei wie die PiS weder Symbolkraft noch praktische Bedeutung im Machtkampf. Deshalb fiel es ihnen leicht, nachzugeben.

Das könnte sich jedoch als Irrtum erweisen. Erstens entwickelt die Niederlage ihre eigene Strahlkraft, nachdem sich zuvor der Eindruck festgesetzt hatte, Kaczynski sei schwer beizukommen. Der Erfolg wird die Gegenbewegung mobilisieren. Zweitens mag das Abtreibungsrecht für Kaczynski zweitrangig sein. Für die Polen, die auf die Straße gingen, gehört es zu den Symbolthemen der alles überragenden kulturellen Auseinandersetzung: Soll Polen liberal, offen, urban, tolerant gegenüber Andersdenkenden sein? Oder konservativ, autoritär, zentralisiert, mit engen Vorgaben, was erlaubt und verboten ist? x Die Wendung muss kein Wendepunkt sein. Sie kann aber dazu werden. Klar ist einmal mehr: Wenn Wandel kommt, dann von innen. Drohungen der EU-Partner haben wenig Einfluss. Die Hoffnung ruht auf Polens Zivilgesellschaft.

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