Europas Christdemokraten trennen sich von Fidesz: Orbans Rauswurf darf nur der Anfang sein
Die EU ist aus Pragmatismus zu duldsam mit Regelbrechern. Doch weil der nationale Egoismus wächst, muss sie ihre Prinzipien härter verteidigen. Ein Kommentar
Folgt nun ein reinigendes Gewitter oder bleibt’s bei dem einen Donnerschlag? Die nationalpopulistische Fidesz-Partei des ungarischen Premiers Viktor Orban ist ja nur ein Beispiel von vielen für das Anwachsen antieuropäischer Kräfte im Europäischen Parlament (EP) sowie für die Ratlosigkeit und Unentschlossenheit, mit der Proeuropäer auf die Herausforderung in ihren Reihen reagieren. In der Summe führen sie zur Frage, wie krisenfest die EU eigentlich ist.
Der Entschluss der christdemokratischen Parteifamilie EVP, sich von der Fidesz zu trennen, kommt reichlich spät und ist noch lange nicht vollzogen. Da kündigt sich bereits der nächste Fall in der EVP an in Gestalt des slowenischen Premiers Janez Jansa und seiner Partei SDS. Jansa ist politisch mit Orban und Donald Trump verbandelt und verweigert die eindeutige Abgrenzung zu identitären Bewegungen in Slowenien und Österreich. Im Juli übernimmt er die Ratspräsidentschaft in der EU; der Konflikt rückt damit auf die internationale Bühne.
Die andere große Parteienfamilie, die sozialdemokratische S&D (Sozialisten und Demokraten) ist nicht besser dran. Parteien aus Bulgarien, Rumänien und Malta, deren Führungspersonal in Korruption und womöglich in politische Morde verwickelt war und in Regierungszeiten die Pressefreiheit missachtet hat, sind bis heute Mitglied geblieben. Die S&D hat den Ausschuss der Fidesz aus der EVP gefordert, parallele Konsequenzen in ihren Reihen aber abgelehnt.
Der Brexit als warnendes Beispiel
Die Argumente für das duldsame Zögern sind rechts wie links die gleichen und in ihrem pragmatischen Gehalt bis zu einer gewissen Grenze bedenkenswert. Die Fraktionsgemeinschaft diszipliniere und eröffne die Chance, Einfluss zu nehmen und schädliche Dynamiken zu bremsen. Anders gesagt: Orban, Jansa, Joseph Muscat in Malta und Liviu Dragnea in Rumänien hätten wahrscheinlich rücksichtsloser agiert, wenn sie nicht auf ihre europäische Parteienfamilie hätten Rücksicht nehmen müssen.
Die EVP führt auch gerne die britischen Konservativen als warnendes Beispiel an. Mit deren Austritt 2009 habe der Weg zum Brexit begonnen.
Insbesondere deutsche Europapolitiker argumentierten so. Sie stellen die größte Gruppe in der EVP und die zweitgrößte in der S&D. Für Orban wird es erst eng, wenn CDU/CSU ihm den Schutz entziehen, hieß es seit Jahren in Brüssel. Ähnliches galt für die SPD bei Bulgarien, Rumänien, Malta.
Machtinteressen der Parteifamilien
Hinzu kamen Machtinteressen. Je größer eine Fraktion, desto mehr Zugriff auf einflussreiche Posten hat sie. Ließe S&D fragwürdige Genossen zur Fraktion der Linken ziehen, hätte sie keine Chance, die EVP zu überflügeln. Der EVP wiederum fiel es nun leichter, mit der Fidesz zu brechen, weil sie auch ohne deren zwölf Abgeordnete stärkste Kraft im EP bleibt.
Entscheidend war dies aber nicht für den Bruch. Das Gewicht der pragmatischen Argumente ist gesunken, die Bedeutung der Prinzipien gestiegen.
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Im Parlament und generell in der EU verbreitet sich die Analyse: Die Zahl der Akteure wächst, die nicht mehr den Interessenausgleich zum gemeinsamen Wohl anstreben, sondern nackte Eigeninteressen verfolgen. Wie Donald Trump fragen sie nur: Was ist der beste Deal für mich? Und bedenken nicht, dass bei der Unterstützung gemeinsamer Interessen vielleicht auch mehr für sie selbst herausspringt.
Das neue Geschäftsmodell: Nutzen ohne Kosten
Orban und andere wollen den Nutzen der EU- und der EVP-Mitgliedschaft haben, ohne im Gegenzug zum gemeinsamen Erfolg beizutragen. Die angebliche Disziplinierung durch Integration funktioniert nicht mehr automatisch. Die inszenierte Opferrolle auf der europäischen Bühne lässt sich daheim gut fürs Werben um Wählerstimmen nutzen.
Dies wird zu einem generellen Problem für die EU. Ihre Regeln sind für Schönwetter und freiwilligen Konsens gemacht. Viele entdecken, dass sie die Regeln brechen können, ohne dass die angedrohten Konsequenzen folgen. Und dass sie den Zwang zur Einstimmigkeit bei der Fortentwicklung der EU für Erpressungen zur Durchsetzung nationaler Interessen nutzen können.
Vier Beispiele für Erpressung
Einige Beispiele: Die EU will ihren Mitgliedern mit Milliardenhilfen aus der Coronarezession helfen. Doch Polen und Ungarn stimmten erst zu, als der Rechtsstaatsmechanismus abgeschwächt wurde.
Die Eurozone hat einen Stabilitätspakt; wer aber dagegen verstößt, muss die vorgesehenen Strafen nicht fürchten; Frankreich und Deutschland waren die ersten Sünder und setzten Nachsicht durch; das macht Schule.
Für die EU sind Demokratie und Rechtsstaat Grundbedingung; bei Verstößen soll es laut Vertrag Sanktionen geben; in der Praxis ist der Mechanismus zahnlos.
Als Konsequenz aus dem Wegfall der Grenzkontrollen im Schengenraum wurde die gemeinsame Verantwortung für den Schutz der Außengrenzen und dort anfallende Belastungen vereinbart. Wer jedoch bei der Verteilung Asylberechtigter nicht mitmacht, spürt keine Konsequenzen.
Ein neues System aus Anreizen und Nachteilen
Die EU muss Wege finden, um gemeinschaftsdienliches Verhalten zu belohnen. Fehlverhalten zum Schaden des gemeinsamen Wohls sollte spürbare Nachteile bringen.
Formale Strafen sind freilich nur ein Notbehelf. Jedes Mitgliedsland hat seine Interessen und empfindlichen Punkte. Da kann die EU ansetzen. Der Bruch der EVP mit der Fidesz ist ein Schritt in diese Richtung.