EU-Gipfel zu Coronahilfe und Rechtsstaat: Europa vor dem großen Knall?
Kaczynski und Orban blockieren den Finanzpakt. Sie halten die Politik der Nordwest-EU für arrogant, oberlehrerhaft, hypermoralisch - und nicht nur sie. Ein Kommentar.
Man braucht eine fast übermenschliche Portion Europa-Idealismus, um dieses Gewürge zu ertragen. Seit einem dreiviertel Jahr ächzt der Kontinent unter der Coronakrise. Zahlreiche Gipfel hat die EU darauf verwendet, ein Corona-Hilfspaket zu schnüren. Aber es ist noch immer nicht in Kraft. Der heutige EU-Gipfel wird daran nichts ändern.
Seit dem Frühsommer hatten die Südländer der EU, die überdurchschnittlich unter der Pandemie leiden, solidarische Hilfe erbeten, jedoch lange vergeblich. „Geizige“ Länder im Norden fragten in Anspielung auf die höhere Verschuldung im Süden, warum nicht jedes Land sich selbst helfen könne?
Im Juli kam es dann endlich zur Einigung. Hurra! Die EU beschloss, Summen auszureichen, die sie nie zuvor zur Verfügung hatte: 750 Milliarden Euro Coronahilfe plus ein Sieben-Jahre-Budget von nochmals 1,1 Billionen Euro.
EU-Gelder müssen einstimmig beschlossen werden
Nun, im November, stellt sich heraus: So schnell wird nichts aus der guten Absicht. Das Geld soll aus Krediten finanziert werden. Dem müssen nicht nur alle EU-Staaten zustimmen, sondern auch die nationalen Parlamente. Sowie in manchen Ländern auch noch die Regionalparlamente.
Nun aber sagen Polen und Ungarn: Wir stimmen nur zu, wenn ein Mechanismus, auf den einige Nettozahler damals gedrängt hatten, entfällt oder zumindest zahnlos bleibt: der Rechtsstaatsmechanismus.
Die erste Reaktion ist Empörung. Wie können die es wagen! Vielleicht hilft die Erinnerung, den Eklat zu verdauen: Frankreich und Deutschland haben mehrfach die Maastricht-Stabilitätskriterien gebrochen, Besserung gelobt, aber nicht geliefert.
Linkspopulisten verzeiht man, Rechtspopulisten nicht
Griechenland hat die EU belogen, ist in seiner Schuldenkrise Kompromisse eingegangen, hat sie aber nicht befolgt. Nur waren das damals Linkspopulisten wie Premier Tsipras und sein Finanzminister Varoufakis in Lederjacke. Denen verzeihen Deutsche eher als den Rechtspopulisten in Polen und Ungarn. Die stufen viele im Westen für unter ihrer Würde ein.
Dass Polen und Ungarn den Zwang zur Einstimmigkeit bei der Schlussabstimmung nutzen würden, war schon im Juli absehbar. Doch damals war die Stimmung: Wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe, beschließen die solidarische Coronahilfe und tun etwas gegen Entwicklungen, die in der Tat besorgniserregend sind. In Ungarn hat der mehrfach demokratisch wiedergewählte Premier Viktor Orban die zehn Jahre an der Regierung seit 2010 genutzt, um Schaltstellen in Behörden, Medien und Wirtschaft mit Gefolgsleuten zu besetzen.
In Polen tut es ihm die seit 2015 regierende nationalpopulistische PiS nach. Sie besetzt die Ämter, Gerichte und staatlichen Medien mit ihren Anhängern. Wo die bisherigen Gesetze das erschweren, ändert sie diese mit ihrer absoluten Mehrheit im Parlament. Die überparteiliche Geltung von Demokratie und Rechtsstaat wird mit Mitteln von Demokratie und Rechtsstaat eingeschränkt.
Norden, Süden und Osten der EU haben verschiedene Ziele
Dagegen möchte die EU vorgehen. Sie verknüpfte den beispiellosen Finanzsegen für ihre Mitglieder mit einer Klausel, dass die Geldzuweisungen gekürzt werden können, wenn ein Land Zweifel an Demokratie und Rechtsstaat weckt. Die reichen Länder im Nordwesten – Frankreich, Deutschland, Benelux-Staaten und Skandinavier – wollten das schon lange. Die Südländer, von denen einige selbst Anlass zu Zweifeln an der strikten Geltung demokratischer und rechtsstaatlicher Regeln geben, stimmten zu, weil die Coronahilfe für sie wichtiger als alles andere war.
Und die Neumitglieder im Osten ließen die Dinge erstmal laufen, obwohl sie den Mechanismus ablehnen, weil, erstens, der Druck aus Norden und Süden auf eine Einigung so stark war. Und weil sie sich, zweitens, sagten: Schauen wir doch erstmal, wie das in der Praxis aussieht. Ein zahnloser Mechanismus tut uns nicht weh. Und ein effektives Sanktionssystem können wir auch später noch ablehnen, wenn die EU unsere Zustimmung braucht.
Mit den bisherigen Regelungen war es der EU ja auch nicht gelungen, die PiS und Orban von ihrer Strategie zur Machtsicherung abzubringen. Sie fühlen sich zudem ermutigt, wenn auch Deutschland nationales über europäisches Recht stellt, wenn es das für nötig erachtet.
Die Verknüpfung vom Juli verhindert nun die Einigung
Nun aber, wo es zum Schwur kommt, erweist sich das „Hurra“ vom Juli als voreilig. Die gute Absicht, die Coronahilfe mit einem Rechtsstaatsmechanismus zu verbinden, ist zur Falle geworden. Die Coronahilfe kann nicht ausgezahlt werden.
Die Befürworter der Konditionalität schwören in diesen Tagen heilige Eide: Wir weichen nicht zurück. Wir bestehen auf einem wirksamen Rechtsstaatsmechanismus. Spricht man mit ihnen jedoch vertraulich, hat längst Nachdenklichkeit eingesetzt. Können wir das durchhalten?
Polen und Ungarn stehen nicht alleine. Alle zehn Neumitglieder im Osten empfinden das Auftreten der Nordwest-EU als arrogant, oberlehrerhaft und hypermoralisch. Sie sagen: Wir haben den Sturz der kommunistischen Diktaturen erkämpft, voran Polen und Ungarn. Die Gruppe stellt zehn der 27 EU-Mitglieder. Auch einige innenpolitische Gegner der Regierenden empfinden den Vorwurf, ihre Länder seien keine demokratischen Rechtsstaaten mehr, als eine Beleidigung ihrer Nation. Dies wird den Rückhalt für Orban und PiS eher stärken als schwächen.
Es geht um Grundwerte. Darf man da nachgeben?
Den Südländern ist die baldige Auszahlung der Coronahilfe viel wichtiger als die Verknüpfung mit der Rechtsstaatlichkeit. Es wird nicht lange dauern, dann werden sie die Länder im Nordwesten anflehen: Lasst uns nicht leiden unter dem Streit. Findet einen Kompromiss mit den Ländern im Osten.
Aber: Darf man hier überhaupt nachgeben, fragen die Verfechter der Konditionalität. Es geht um die Grundwerte der EU: Demokratie und Rechtsstaat.
Das stimmt. Selbstverständlich darf die EU den Anspruch auf Demokratie und Rechtsstaat nicht aufgeben, ja nicht einmal relativieren.
Doch jetzt mal ehrlich. In der Behauptung, die im Osten seien keine Rechtsstaaten mehr, steckt auch Übertreibung. Was in Polen und Ungarn geschieht, ist bedenklich. Aber Polen und Ungarn sind weit davon entfernt, Unrechtsstaaten wie Russland, China oder die Türkei zu sein. In Polen und Ungarn werden Andersdenkende nicht ins Gefängnis gesteckt. Formal erfolgen die bedenklichen Veränderungen im Großen und Ganzen unter Nutzung der Regeln von Demokratie und Rechtsstaat.
Europas Gerichte finden bisher keinen schwer wiegenden Rechtsbruch
Wer ins Detail geht, stößt über kurz oder lange auf diese Fragen: Werden, zum Beispiel, Richter nach völlig anderen Regeln berufen als in Deutschland oder Frankreich? Mischen sich nicht auch in Großbritannien oder Deutschland Regierungsparteien in die Berufung der Intendanten und Chefredakteure des öffentlichen Rundfunks ein?
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Der Europäische Gerichtshof ist bei seinen Überprüfungsverfahren bisher nicht auf offenkundige schwere Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit gestoßen. Der gravierendste Einspruch war, dass die Pensionierungsgrenze für Richter in Polen nicht die gleichen für Frauen und Männer war und in Ungarn zu niedrig angesetzt war. Beides wurde prompt korrigiert.
Ein Haifisch ist kein Haifisch, wenn man's nicht beweisen kann
Ausführliche Berichte erklären, was den Kritikern an der Praxis in Polen und Ungarn nicht gefällt. Viele Bedenken kann man teilen. Aber wo sind die Belege für systemische Rechtsverstöße? Schon Bert Brecht hat in der Dreigroschenoper festgehalten: Ein Haifisch ist kein Haifisch, wenn man’s nicht beweisen kann.
Warum überhaupt die Fokussierung auf Polen und Ungarn? Weil sie sich offen widersetzen. Dabei müssten die Verhältnisse in Bulgarien und in Rumänien mehr Besorgnis wecken. Ebenso in Malta und in der Slowakei; dort gab es politische Morde. Und wie verlässlich ist eigentlich der Rechtsstaat in Italien? Oder in Belgien, wo Flamen und Wallonen ihre je eigene Justiz und Behörden haben, was die Verfolgung schwerer Straftaten wie Sexualdelikte gegen Minderjährige oder Korruption behindert?
Jetzt naht der Moment, um genau zu überlegen, ob der Westen der EU den Showdown gegen Polen und Ungarn gewinnen kann. Oder ob man sich nicht besser darauf besinnt, wie die EU ansonsten solche Prestigeduelle beendet. Durch einen Kompromiss, der alle das Gesicht wahren lässt.
Was ist wichtiger: Coronahilfe oder der Kampf ums Prinzip?
Was ist für die Mehrheit der 500 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger entscheidend? Dass die EU ihnen in der Corona-Notlage zeitnah hilft? Oder dass sie einen Prinzipienstreit durchsteht, auch wenn die Mehrheit darunter leidet?
Man könnte, zum Beispiel, geduldig darauf setzen, dass demokratische Wahlen irgendwann Regierungswechsel bewirken. In Polen konnte die PiS sich zuletzt nur knapp behaupten. PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski und Viktor Orban regieren nicht ewig.
Das böse Erwachen in der EU kommt für Polen und Ungarn so oder so, auch ohne formalen Rechtsstaatmechanismus. Wer in der EU wird sie, wenn sie ein Anliegen haben, von Herzen gerne unterstützen?
Auch finanzielle Sanktionen kann die EU weit unterhalb eines offiziellen Verfahrens bewirken. Anträge auf EU-Fördergelder sind kompliziert. Fast jeder macht da fast jedes Mal Fehler. Es hängt von den EU-Bürokraten ab, ob sie damit hart oder gutwillig-verzeihend umgehen. Guten Willen in Brüssel, Berlin oder Paris dürfen Orban und Kaczynski nicht mehr erwarten.