Der Fehler liegt im System: Wieso die EU bei der polnischen Justizreform machtlos ist
Europa tut sich schwer im Kampf gegen Polens Justizreform. Das hat drei Gründe. Ein Kommentar.
Es war eine wichtige Lehre, vor mehr als 30 Jahren im kommunistischen Polen. Aus Neugier begleitete ich Freunde zur einer „Wahl“, die weder frei noch gleich noch demokratisch war. Nur, woran erkennt man das?
Vor 1989: Klopapier im Wahlumschlag
Die Äußerlichkeiten waren verblüffend ähnlich wie in der Bundesrepublik. Wahlhelfer glichen den Personalausweis mit der Wählerliste ab. Es gab eine nicht einsehbare Wahlkabine zur geheimen Stimmabgabe und eine Urne. Doch was im Westen freie, gleiche Wahlen garantierte, diente in der Volksrepublik zur Überwachung.
Wer nicht kam, machte sich verdächtig, ein Regimegegner zu sein. Wer mit dem Wahlzettel in die Kabine ging, ebenso. Es gab eine Einheitsliste, wozu geheim abstimmen? Um einen leeren Umschlag abzugeben oder Klopapier hinein zu stecken als Zeichen des Protests?
Die Erkenntnis: Äußere Details können täuschen. Es kommt darauf an, welche Rolle sie im Großen und Ganzen spielen.
Die Regierung will Richter berufen und entlassen
Mit der friedlichen Revolution von 1989, die in Polen mit der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc begonnen hatte, war das zunächst vorbei. Polen wurde zu einem Land der Demokratie, des Rechtsstaats und freier Medien.
Seit 2015 regiert die nationalpopulistische PiS und dreht vieles zurück. Sie achtet die Freiheit der Medien und die Unabhängigkeit der Justiz nicht. Sie will keine Gewaltenteilung, sie will Kontrolle über alle Bereiche von Staat und Gesellschaft und besetzt Machtpositionen mit Parteigängern. Der Kern der besonders umstrittenen Justizreform: Die Regierungspartei entscheidet, wer Richter wird. Wer Richter bleiben darf. Und wer gehen muss.
Nun hat die PiS auch noch ein Disziplinierungs- und Maulkorbgesetz durchgedrückt, das Richtern Strafen bis hin zur Entlassung androht, wenn sie die Rechtmäßigkeit der Justizreform oder von Disziplinarstrafen öffentlich anzweifeln oder sich politisch betätigen. Man ahnt: Das ist allein gegen PiS-Kritiker im Justizwesen gerichtet. PiS-Sympathisanten haben nichts zu fürchten.
Die Kontrollmechanismen greifen nicht
Das Nicht-PiS-Polen, die EU und Nachbar Deutschland tun sich erstaunlich schwer, dagegen zu halten. Drei Ursachen stechen heraus: Polens Innenpolitik, die stumpfen Sanktionsmechanismen der EU und die Wahrung des Scheins europäischer Normalität. Die PiS-Gegner demonstrieren immer wieder, bewirken aber wenig.
Bei der Wahl 2019 hat die PiS von 37,6 auf 43,6 Prozent der Stimmen zugelegt und dank Mehrheitswahlrecht erneut die absolute Mehrheit im Sejm errungen. Bei dieser Wahl hat die liberale Opposition parallel einen Überraschungserfolg errungen: Die PiS verlor ihre Mehrheit in der zweiten Parlamentskammer, dem Senat. Der Senat hat das Maulkorbgesetz abgelehnt.
Aber das hat nur aufschiebende Wirkung. Mit ihrer absoluten Mehrheit im Sejm kann die PiS das Nein des Senats überstimmen – und hat es soeben getan.
Die EU hat ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen eingeleitet. Es wird keine Konsequenzen haben. Alle Staaten außer dem betroffenen müssten für Sanktionen stimmen, aber Ungarn schützt Polen. Der Europäische Gerichtshof (EuHG) hat Teile der Justizreform Ende 2019 für rechtswidrig erklärt, doch vor allem wegen des unterschiedlichen Pensionsalters für Richterinnen und Richter. Die Reform als Ganzes hat er nicht gekippt.
Präsident Andrzej Duda agitiert erfolgreich gegen die EU: „Sie werden uns nicht in fremden Sprache aufzwingen, wie wir unser System zu organisieren haben.“ Er hat gute Chancen, im Mai für eine zweite Amtszeit gewählt zu werden. Die Oppositionskandidatin Malgorzata Kidawa-Blonska ist im Kontrast blass geblieben.
Die PiS bemüht sich um den Schein europäischer Normalität
Es ist schwer, die PiS zu stoppen. Das liegt auch daran, dass sie beim Griff nach der Macht den äußerlichen Schein wahrt. Sie entgegnet, dass viele Regelungen, die man ihr vorwirft, auch in anderen EU-Ländern gelten, ohne dass man ihnen Verstöße gegen Demokratie und Rechtsstaat vorhält. Zum Beispiel Rundfunk: Auch in Großbritannien hat ein von der Regierung ernanntes Gremium die Aufsicht über die BBC; nur führt das dort nicht zur einseitig parteipolitischen Ausrichtung von Programm und Personal.
Zum Beispiel Ernennung der obersten Richtern: Auch in Deutschland besetzen Parteien den Wahlausschuss; nur führt das nicht zum Ausschluss der Opposition; der Geist ist überparteilich; man behandelt die Opposition so, wie man selbst behandelt werden möchte, wenn man in die Opposition kommt. Zum Beispiel Disziplinierung von Richtern: Auch in anderen EU-Staaten können Richter nicht beliebig negativ über die Justiz, die Gesetze oder den Dienstherren herziehen; aber das Kriterium für eine eventuelle Strafe ist in der Praxis nicht die parteipolitische Ausrichtung.
Gegenfrage: Wie garantiert die PiS die Unabhängigkeit der Justiz?
Die PiS agiert im öffentlichen Streit bauernschlau. Sie fragt in gespielter Unschuld, welches Detail an ihren Reformen rechtswidrig sei. Und findet in der Regel ein anderes EU-Land, wo dieses Detail akzeptiert ist.
Man muss sie umgekehrt zum Nachweis zwingen, wie in ihrem System die Unabhängigkeit der Justiz und der Medien und generell die Demokratie samt der Chance zum Machtwechsel garantiert werden. Der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur liegt nicht in äußeren Details. Es hängt davon ab, welche Funktion sie im Gesamtsystem haben.