Polen-Politik der Bundesregierung: Polens schleichende Erdoganisierung
Die polnische Regierung verfolgt offenbar einen Plan der "Erdoganisierung Polens“. Angela Merkel muss daher ihre Strategie der Nachsicht ändern. Ein Kommentar.
Bundeskanzlerin Angela Merkel wird ihre Polen-Politik ändern müssen. Die Strategie der Nachsicht ist gescheitert. Die Erfahrungen mit der nationalkonservativen PiS-Regierung widerlegen die Hoffnung, im Dialog lasse sich der Angriff auf Demokratie und Rechtsstaat abmildern, ein Machtwechsel sei nur eine Frage der Zeit und danach werden sich die Beziehungen wieder einrenken. Warschau hat auf die Bedenken der EU wegen Polens Justizreform nicht einmal ernsthaft geantwortet. Nun muss die EU die nächste Phase im Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Da kann Berlin nicht anders, als die EU zu unterstützen, auch wenn die Eskalation der auf Ausgleich bedachten Merkel widerstrebt.
Mit diesem Schwenk stünde die Kanzlerin nicht allein. Viele deutsche Polenexperten haben ihre Einschätzung der PiS revidiert. Die bittere Erkenntnis ist: Die PiS verfolgt offenbar einen strategischen Plan, den man als „Erdoganisierung Polens“ umschreiben kann. Sie hat sich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk unterstellt. Sie hat das Verfassungsgericht unter offenkundigem Rechtsbruch entmachtet und mit Parteigängern besetzt. Mit der Justizreform beendet sie die Unabhängigkeit der Gerichte. De facto kann der Justizminister künftig entscheiden, wer wegen welcher Vergehen angeklagt wird und welcher Richter das Urteil spricht – damit ist die Tür offen für politische Strafjustiz.
Als nächsten Schritt plant die PiS, sich Kommunen und Gebietskörperschaften gefügig zu machen. Die Regierung soll die Oberaufsicht über deren Finanzen bekommen und jeden missliebigen Offiziellen wegen angeblich falschen Umgangs mit Steuergeldern vor Gericht ziehen können. Das zielt auf die Städte und Regionen, in denen die Opposition dominiert.
Die PiS schafft gerade die Voraussetzungen, um gegen die Opposition vorzugehen
Gewiss unterscheidet sich Polen im Sommer 2017 gravierend von Erdogans Türkei. Die PiS hat keine missliebigen Journalisten oder Oppositionellen ins Gefängnis gesteckt. Die Bürger können frei leben, reisen, demonstrieren. Es gibt regelmäßige Massenproteste gegen die PiS und unabhängige Medien. Sie gewinnen an Zulauf, je mehr die staatlichen Sender veröden. Doch die PiS schafft gerade die rechtlichen Voraussetzungen, um gegen die Opposition vorzugehen – als sehe sie in Erdogan ein Vorbild. Anders als die Türkei ist Polen EU-Mitglied. Was dort geschieht, ist nicht Außenpolitik, sondern europäische Innenpolitik. Es hat gravierende Auswirkungen auf Europa und auf Deutschland als direkten Nachbarn.
War Merkels Polen-Strategie also naiv? Hat sie der Instinkt verlassen wie bei der Flüchtlingspolitik? War sie befangen, weil sie, wie sie sagt, „zu einem Viertel polnisch“ ist? Ihr Großvater Ludwik Kazmierczak stammt aus Posen. Doch solche Emotionalität wäre eher untypisch für Merkel. Soweit die bisherige Politik ein Fehler war, war es nicht Merkels Fehler allein. Eine ganz, ganz große Koalition der politischen Parteien und Polen-Experten hatte ruhig Blut empfohlen, als die PiS im Herbst 2015 die Wahl gewann.
Die Argumente speisten sich aus Hoffnung, Pragmatismus und blinder Überzeugung. Die Hoffnung setzte auf Polens Selbstheilungskräfte. Keine andere Nation hat so oft gegen Diktatur und Fremdherrschaft aufbegehrt. Polen werde autoritäre Verirrungen der PiS ebenso überwinden. Für Pragmatismus sprach: Die PiS appelliert, wenn es eng wird, an antideutsche Gefühle. Deshalb solle Deutschland sich mit Kritik zurückhalten. Brüssel müsse handeln, Polen habe einen Konflikt mit der EU. Deren Optionen sind freilich begrenzt. Ein Vertragsverletzungsverfahren endet ohne Strafe, wenn nur ein Land dagegen stimmt: hier Ungarn. Und da war die blinde Überzeugung, dass ein Land, das nach langen Kämpfen Demokratie und Rechtsstaat errungen hat, sie freiwillig nicht wieder hergibt.
Diese Sicht hat sich als Irrtum erwiesen. Die EU und Deutschland müssen Polen helfen, sich vor einer autoritären Herrschaft der PiS zu retten: mit Klagen vor Europas Gerichtshöfen, der Nicht-Bewilligung von Finanzhilfen im Rahmen des Zulässigen und politisch klarer Kante gegen die Rechtsbrüche der PiS.
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