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Deutschland an der Seite Polens gegen die EU? Der oberflächliche Schein täuscht. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki.
© Hannibal HanschkeREUTERS

Folge des Karlsruher Urteils zur EZB: Deutschland geht auf Konfrontationskurs mit Europa

Die Verfassungsrichter stellen deutsches über europäisches Recht - wie Ungarn und Polen. Das erschwert die Rechtsstaatsverfahren der EU. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Nun hat Deutschland das getan, was es sonst Polen und Ungarn vorwirft: Es stellt sein nationales Recht über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). In ihrem Urteil zu den Anleihekäufen der EZB gehen die deutschen Verfassungsrichter auf frontalen Konfrontationskurs zu den Kolleginnen und Kollegen in Luxemburg. Die hatten das Programm 2018 abgesegnet – mit einer Argumentation, die Karlsruhe nun „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ nennt.

Paris und Brüssel sind verstimmt, Warschau frohlockt

Deutschland, das sich selbst als pro-europäisch versteht, in einem Bett mit den Euroskeptikern im Polen der nationalpopulistischen PiS und dem Ungarn des Viktor Orban? Mit Ländern also, gegen die die EU-Kommission Rechtsstaatsverfahren eingeleitet hat, weil sie sich europäischem Recht und europäischer Rechtsprechung nicht unterwerfen wollen?

Dieser pikante Aspekt des Karlsruher Urteils ist mehreren EU-Partnern aufgefallen. In Budapest und Warschau frohlocken die Regierenden: Wenn selbst das renommierte Bundesverfassungsgericht sich über die Rechtsprechung des EuGH hinwegsetzt, dann dürfen wir das auch. In Paris und Brüssel runzeln die Verfechter der europäischen Integration die Stirn: Deutschland erschwert es der EU, europäisches Recht gegen Polen, Ungarn und Andere durchzusetzen. Befürworter der Integration bewerten das Urteil wegen dieser politischen Folgen als „Disaster“.

Die Unterschiede, unter der Oberfläche

Nur: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Man sollte sich schon die Mühe machen, unter die oberflächliche Ähnlichkeit vorzudringen. Inhaltlich wie formal bestehen beträchtliche Unterschiede zwischen dem Fall Deutschland und den Fällen Polen und Ungarn.

[Die aktuelle Situation in den Landkreisen sehen Sie hier auf unserer interaktiven Karte.]

Das wichtigste Gegenargument: Deutschland hat eine von der Regierung unabhängige Justiz. Die Regierenden in Polen und Ungarn haben erhebliche Zweifel daran geweckt, dass die Gerichte dort unabhängig Recht sprechen können. Die PiS hat es sich zum Ziel gesetzt, die Gerichte mit ihren Parteigängern zu besetzen und geht mit Disziplinierungsmaßnahmen wie dem „Maulkorbgesetz“ gegen Richterinnen und Richter vor, die auf ihre Unabhängigkeit pochen. Eben deshalb hat die EU Rechtsstaatsverfahren eingeleitet.

Konsens hier, „Winner takes all“ dort

Auch in Deutschland nehmen die politischen Parteien zwar Einfluss auf die Berufung der Verfassungsrichter – worauf Polen immer wieder hinweist. Aber sie tun das gerade nicht in einer „Winner takes all“-Mentalität. Sondern sie achten darauf, dass die höchsten Richter im Konsens ausgewählt werden und dabei Kandidatinnen und Kandidaten von Regierung wie Opposition zum Zuge kommen. Dieses Zusammenwirken schafft die Legitimation und Akzeptanz, an der es bei der Richterauswahl in Polen aktuell mangelt.

Und nicht nur bei der Richterauswahl. Auch bei der Frage, ob und wie die Präsidentschaftswahl, die für den kommenden Sonntag geplant war, in Coronazeiten stattfinden kann, sucht die PiS kein Einvernehmen mit der Opposition. Sie richtet sich danach, was ihr taktisch nützt. Das beschädigt auf ähnliche Weise die Legitimität und Akzeptanz der Demokratie.

Währungspolitik und Finanzpolitik sind zweierlei

Auch inhaltlich stimmt die oberflächliche Parallele zwischen dem deutschen und dem polnischen Beispiel nicht. In beiden Fällen lautet der Vorwurf zwar, die europäische Ebene berufe sich auf eine Kompetenz, die sie gar nicht habe. Das Bundesverfassungsgericht zieht dabei aber eine feine und doch berechtigte Trennlinie. Ungeachtet der Währungsunion liegt die Finanz- und Budgethoheit nach der geltenden Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedern weiter bei den Nationalstaaten. Die EZB hat ein währungspolitisches Mandat

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Wenn sie Nationalbanken wie die Bundesbank verpflichten will, ihr Anleihekaufprogramm mitzumachen – wofür in letzter Konsequenz nationale Mittel ausgegeben werden -, muss sie belegen, dass dies währungspolitisch zwingend ist. Es gehört nicht zu ihren Aufgaben, hoch verschuldeten EU-Staaten bei ihren Budgetproblemen zu helfen. Damit würde sie ihre Kompetenz überschreiten. Der Bundestag und die Bundesregierung, sagt Karlsruhe, müssen das bei jeder finanziellen Verpflichtung, die sich aus deutschem Mittun in der EU ergibt, überprüfen. Denn das Budgetrecht obliegt dem nationalen Parlament.

Das Recht, das Justizsystem zu organisieren, hat Grenzen

Polen argumentiert in seinem Konflikt mit der EU ähnlich: Das Justizsystem gehöre nicht zu den vergemeinschafteten Feldern. Jeder Staat habe das Recht, sein nationales Gerichtswesen nach eigenen Vorstellungen zu organisieren. Soweit ist das richtig – jedoch mit einer Einschränkung. Alle EU-Mitglieder sind verpflichtet, das Funktionieren von Demokratie und Rechtsstaat sicherzustellen; dazu gehört auch eine unabhängige Justiz. Die EU muss Polen die Freiheit zur Organisation seines Justizwesens gewähren, allerdings nur solange dessen Unabhängigkeit gewahrt ist. Wenn nicht, muss die EU einschreiten.

Bei politischen Konflikten ist freilich nicht entscheidend, wie es sich sachlich verhält. Sondern wie es für die Öffentlichkeit aussieht. Und da hat Karlsruhe der Bundesregierung und dem Bild im übrigen Europa, wo Deutschland europapolitisch steht, ein nicht zu unterschätzendes Problem beschert.

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