Heimat von RIN, Shindy und Bausa: Wie Bietigheim-Bissingen zur Rap-Hochburg wurde
Die Rapper RIN, Shindy und Bausa stammen alle aus einem Nest in der schwäbischen Provinz. Das muss doch einen Grund haben.
Da vorn links an der Biegung, das könnte sie sein. Die Kreissparkasse, über die Shindy in „Bietigheim Sunshine“ gerappt hat: „Glotzt nicht so – parke zweite Reihe vor der Kreissparkasse“. Gerade parkt niemand zweite Reihe, es sind genug Plätze frei. Aber ja: Es könnte sich so abgespielt haben.
Die Annahme, dass ausgerechnet im mittleren Neckartal, 20 Kilometer nördlich von Stuttgart, die neue Hochburg des deutschen Hip-Hops liegen soll, klingt hochgradig abwegig. Allein der Name: Bietigheim-Bissingen.
Dennoch sind mit Bausa, Shindy und RIN gleich drei sehr erfolgreiche, angesagte Rapper hier aufgewachsen, ja sogar aktuell wohnhaft. Die beiden letztgenannten spielen diese Woche Konzerte in Berlin. Zeit, sich zu fragen, wie das alles passieren konnte. Welche Kräfte in diesem Nest wirken. Was es bedeutet, wenn einer straight outta Bietigheim-Bissingen kommt.
Bis 1975 waren beide Orte getrennt. Bietigheim etwas weiter im Norden, Bissingen etwas näher an Stuttgart. Dann die Fusion zur „Großen Kreisstadt“. Bevor der Rap nach Bietigheim-Bissingen kam, hatte die Große Kreisstadt vier prominente Bewohner aus dem Kulturbetrieb: den Fälscher der Hitlertagebücher Konrad Kujau und die drei Gründungsmitglieder der Gruppe Pur.
Wer vom Bahnhof Richtung Altstadt spaziert, dem kommt direkt eine weitere Shindyzeile in den Sinn: „Kickdown vom McDonald’s bis zum Bahnhof“. Kickdown bedeutet, mit dem Auto loszurasen.
Die beschriebene Wegstrecke gibt es tatsächlich. Shindy hat, das zeigt sich nun, lediglich weggelassen, welche Örtlichkeiten er beim Losrasen passiert haben muss: das Sanitätshaus Keller, das Ende Januar noch die Weihnachtsdeko im Schaufenster hat. Ein Spezialgeschäft für Gartenmarkisen. Ein hochwertiges Nageldesignstudio. Und die Confiserie Käfer.
Bietigheim-Bissingen zählt zu den reichsten Gemeinden Deutschlands. Ist seit 2004 schuldenfrei, auch weil Porsche und der Hemdenhersteller Olymp hier sitzen.
Der Weg ins Zentrum führt durch eine weitläufige Parkanlage, den sogenannten Japanischen Garten. Alles schön aufgeräumt hier, nicht mal Hundekot liegt herum. Stößt man nach einer halben Stunde zum ersten Mal auf Street-Art, ist es kein Graffiti, sondern ein buntes gehäkeltes Tuch, liebevoll um einen Baum gewickelt.
Vor ein paar Jahren wollte sich die Stadt einen Slogan geben, als Teil einer Marketingkampagne. Heraus kam: „Bietigheim-Bissingen. Liebenswürdig. Lebenswert“.
Das ist tatsächlich ein Wesenszug, den alle Rapper dieser Stadt in ihrer Musik offenbaren. Im Vergleich zu Kollegah und Farid Bang, der Hamburger 187 Straßenbande und den meisten Berliner Vertretern inszenieren sich die Bietigheimer nicht als aggressive, gewaltliebende Testosteron-Monster. Feiern nicht das Gangstadasein. Nicht mal Shindy, der eine Zeit lang in Berlin lebte und als Bushidos Zögling galt. Stattdessen rappt RIN: „Mach’ aus deiner Liebe für die Welt ein Dogma.“
Wo immer sich, poptheoretisch betrachtet, eine Szene herausbildet, die Großes bewirkt und weit über den eigenen Kosmos hinausstrahlt, lassen sich Kristallisationspunkte ausmachen. Orte, an denen Akteure zusammenkommen, sich austauschen, anstacheln und inspirieren. Eine Haçienda. Ein Golden Pudel Club. Ein Ratinger Hof.
In Bietigheims Zentrum, einer Aneinanderreihung atemberaubend schöner Fachwerkhäuser, führt ein schmaler Weg von der Hauptstraße den Hügel hinauf. Auf halber Strecke, zwischen orthopädischem Schuhhaus und einem Geschäft für Krippenfiguren, befindet sich die Alte Weinstube. Hier, heißt es, hängen die Rapper in ihrer Freizeit herum. Drinnen ist es arg verraucht, jüngere und ältere Männer trinken Schwabenbräu, an mehreren Tischen wird Rommé gespielt.
An der Wand hängen goldene Schallplatten von Bausa und RIN. „Die beiden Jungs sind hier zu Hause“, sagt der Inhaber, der sich als Sokrates vorstellt. „Wie schade, du hast RIN gerade um eine Stunde verpasst, der war eben noch hier.“ Bausa wiederum schaue erst morgen wieder vorbei, der halte sich gerade in Los Angeles auf.
Die Frau des Wirts berichtet dann noch, Sokrates sei mit Shindys Mutter in eine Klasse gegangen. Und dass man über die Musikwelt Bietigheim-Bissingens eigentlich nicht berichten könne, ohne auch Camouflage zu erwähnen. Die Synthie-Band aus den 80ern, deren Stücke allesamt frappierend nach Depeche Mode klangen. „Die sollte man nicht vergessen.“
Am nächsten Morgen, in guter Wohngegend nahe dem Zentrum. Hier hat der Rapper Carsten Schmiedel alias Caz sein Kellerstudio. Er war ganz am Anfang dabei. Bei ihm nahmen RIN und Bausa ihre ersten Stücke auf. Mit RIN traf er sich zum Freestylen im Japanischen Garten: Alkohol bei Kaufland geholt, im Kreis aufgestellt, Handy an und los.
Caz sagt, sein persönlicher Einstieg in Hip-Hop sei 2004 Sidos „Mein Block“ gewesen. Was der über das Märkische Viertel in Berlin gerappt habe, die Drogen, die Gewalt, der Sex, „das habe ich schon geglaubt damals“.
Seine Bietigheimer Freunde und er seien zwar kleine Machos gewesen. „Aber ich merkte schnell, dass ich kein Battlerapper und auch kein Gangster bin.“ Dass für ihn Sounds zählen und Melodien, Ideen und Finesse.
Caz sagt, sie seien zu Beginn nicht viele gewesen in Bietigheim, die sich für Hip-Hop interessierten. Gegenüber der Erwachsenenwelt hätten sie ihre Kultur nie verteidigen müssen. Nur von anderen Jugendlichen seien sie belächelt worden, hätten sich Sprüche eingefangen wie „Du hältst dich wohl für Eminem“.
Als die Karrieren seiner Freunde richtig losgingen, deren Songs in den Charts so steil nach oben schossen wie die Spitzdächer Bietigheimer Fachwerkhäuser, konnte Caz nicht mithalten. Eine Angststörung und Panikattacken hielten ihn zurück. Mehrere Plattenfirmen, darunter das Label von Haftbefehl, wollten ihn unter Vertrag nehmen, er lehnte ab: „Es hätte nicht gepasst.“
Caz sagt, seine Stadt sei im Hip-Hop inzwischen eine solche Marke geworden, dass sich jetzt schon Künstler als Bietigheimer ausgäben und ihre Liebe zur Stadt besängen, die eigentlich im Umland wohnten. In der Provinz also.
Am Nachmittag empfängt RIN zum Interview. Eigentlich heißt er Renato Simunovic. Seine Eltern kamen als jugoslawische Gastarbeiter, sein Vater bläute ihm ein, Fußballer oder Arzt zu werden, etwas jedenfalls, mit dem er später Geld verdiene.
RIN hat sich gerade ein dreistöckiges Haus gekauft und von Grund auf renoviert. Da ist sein Studio drin, es gibt Büroräume, eine Ecke zum Computerspielen mit Freunden, bald eine Zigarrenlounge. „Ist ein Vorteil, wenn man aus der Kleinstadt kommt“, sagt Simunovik. „Man hat garantiert Freunde, die Tischler, Schreiner und Maurer sind.“
Überhaupt gebe es schlicht keinen Grund, in die Großstadt zu ziehen. RIN sagt, er habe Max Herre bei einem Treffen eine Rüge erteilt, weil der beim ersten Erfolg mit Freundeskreis von Stuttgart nach Berlin sei. „Ich habe ihm gesagt: Junge, du bist zu früh abgehauen.“
Doch vielleicht sei das damals anders gewesen, ohne das Internet. RIN sagt: „Das Internet hat uns allen Egalität geschenkt, was den Standort betrifft.“
Vor ein paar Jahren stand RIN noch zusammen mit Bausa in einer Linoleumfabrik am Fließband. „Als Zeitarbeiter habe ich da für 40 Stunden die Woche 1000 Euro bekommen. Das war moderne Sklavenarbeit.“ Er sagt, er sei habe keine Perspektive gesehen, sei nur „ein Jugendlicher gewesen, der Geschmack hatte für Dinge, die er sich unter normalen Umständen niemals würde leisten können.“ Bis das Wunder begann.
Von den Bietigheimer Rappern ist Renato Simunovic derjenige, der dem Klischee des Gangstarappers am radikalsten widerspricht. Der zu zarten Melodien über eigene Gefühle und Verletzlichkeit rappt. Der im gemeinsamen Song mit Bausa den Refrain der Teenieband Echt zitiert: „Du trägst keine Liebe in dir.“ Er sagt, es sei ihm egal, aus welchem Genre ein Beat oder Sample stamme, ob das irgendwer uncool finde oder nicht. „Ich hätte auch kein Problem, morgen einen Techno-Song zu machen.“ Er habe mehrfach versucht, einen Gitarrenriff von Viktor Tsoi, dem kasachischen Punklyriker, zu sampeln. „Bisher ohne Erfolg. Aber ich werde es schaffen.“
„Herr Simunovic, mit wie vielen anderen Rappern haben Sie gerade Beef – und warum nicht?“
RIN grinst. „Na mit keinem.“ Solche Streitereien kosteten „nur Zeit und Nerven, die möchte ich lieber in Dinge stecken, die vielleicht länger halten.“
Er habe früh für sich beschlossen, für Erfolg „nichts zu tun, das gegen meine moralischen Vorstellungen oder gegen meine Menschlichkeit verstößt.“ Wäre seine Karriere morgen vorbei, könnte er sagen: „Meine Songs gingen ab, weil sie gut sind.“ Nicht weil er irgendeinen Streit inszeniert habe, um Verkäufe anzukurbeln.
Vielleicht hat ihm das Bietigheim-Bissingen ermöglicht. Es habe auf jeden Fall geholfen, sagt er, dass seine Freunde und er so abgeschottet waren. „Wir konnten uns superfrei von jeglichen Einflüssen vom Rest Deutschlands entwickeln. Da war niemand, vor dem wir uns hätten rechtfertigen müssen.“
Noch ein Vorteil: Es gebe hier auch weit und breit keine Banden, die auf die Idee kommen könnten, sich Rappern als „Rücken“ anzubieten und Schutzgeld zu verlangen.
Diesen Sommer wollen RIN und Bausa in ihrer Heimat ein Festival veranstalten. Dann sollen Rapfans aus ganz Deutschland kommen, in die neue Hochburg des Hip-Hops.
Auch Caz will es jetzt wissen. Voriges Jahr hat er sich zum ersten Mal für ein eigenes Konzert auf eine Bühne gewagt, rappte vor 300 Menschen in Bietigheim. Es war großartig, sagt er. Dieses Jahr bringt er vier Mixtapes heraus, zu jeder Jahreszeit eines. Und er plant, ein Video zu drehen. In dem möchte er sich von Freunden mit Gänseblümchen bewerfen lassen.
RIN tritt am 6. Februar im UFO im Velodrom auf, Shindy am 9. in der Columbiahalle.