Partnersuche auf Tinder und Co.: Wisch you were here
Als seine Beziehung zerbrach, trank er erst ganz viel Bier – und traf dann mit Dating-Apps monatelang ständig neue Frauen. Irgendwann mochte unser Autor sich selbst nicht mehr.
Eine halbe Stunde bevor ich den zarten Stamm unserer selbst gezüchteten Avocadopflanze übers Knie brach, meiner Freundin das Kleinholz ins Gesicht warf und danach ein Foto verspeiste, das sie und mich am Mittelmeer zeigte, aß ich mit ihr gemeinsam zu Abend.
Wir hatten uns Supermarkt-Sushi gekauft und das Küchenradio in unserer kleinen Wohnung eingeschaltet. Hatten eine Kerze angezündet und uns gerade darüber amüsiert, dass unsere Freunde schon gemeinsam die Silvesterfeier planten, obwohl es erst Herbst war. Wir würden da nicht mitmachen, wir waren ein cooles Paar. Wir würden ein Hotelzimmer buchen, essen gehen, Feuerwerk gucken, Sauna, irgendwo, wo nicht viel los ist, aber die Luft gut, Flensburg vielleicht oder Lübeck. Ich hatte mir gerade ein Lachsröllchen in den Mund geschoben, da blinkte ihr Handy auf dem Esstisch, eine Nachricht von einem Mann, den sie unter „Alex!“ gespeichert hatte. Meine Freundin und ich lasen gemeinsam: „Nächste Woche ist dein Freund nicht da?! Nice! Dann melde ich mich von Dienstag bis Donnerstag krank, sind ja eh die ganze Zeit im Bett. Zwinkersmiley, Auberginensmiley, Aprikosensmiley.“
„Nice“, sagte ich. Und lachte dann laut, fast fiel mir das Sushi aus dem Mund. Sie begann zu weinen. Sie sagte, die Affäre laufe schon ein halbes Jahr. Sie habe das Gefühl zu mir verloren, wolle mehr begehrt werden. Irgendwas in meinem Kopf wurde ganz heiß. Sechs Jahre Beziehung, im Studium kennengelernt, jetzt beide in Vollzeitjobs, gemeinsame Wohnung. Bald würden wir die Verhütungsmittel absetzen und dann was Größeres suchen, wie man das macht mit Anfang 30. Das war der Plan, den ich mir ausgedacht hatte.
Mit Anfang 30 lernt man nicht mehr so leicht eine kennen
Das Ende meiner Beziehung markierte am folgenden Morgen ein weißer Umzugswagen, auf den jemand in schiefem Blau „Pisser“ gesprüht hatte. Ich zog aus unserer Wohnung aus, stellte mein Zeug in eine Halle, übernachtete bei Kumpels auf dem Sofa. Vier Wochen schlief ich schlecht, zündete eine Zigarette an der nächsten an, trank mehr Bier als Wasser. Mit Anfang 30 wird’s jetzt schwer, dachte ich. Man ist raus aus der Uni, aus dem Ständig-neue-Leute-kennenlernen-Lifestyle, und die Haare werden schon dünn. Ich brauchte einen Neuanfang. Und installierte Tinder, OkCupid, Bumble und Tastebuds.
Das sind Apps, über die man Männer und Frauen kennenlernen kann. Für ein Bier zu zweit, fürs Tanzengehen, für gemeinsame Filmabende, für Sex natürlich und vielleicht für Liebe. Ich habe sie alle ausprobiert. Ich begann damit vier Wochen nach der Trennung. Viel zu früh, viel zu spät, wer weiß. Fünf Monate lang traf ich Woche für Woche Frauen zu Dates, bis ich mich selbst nicht mehr mochte. Ihre Namen und meinen habe ich für diesen Text verändert.
Elea lehrte Geschichte an einer Uni
ELEA – Tinder
Tinder ist die bekannteste Dating-App: Nutzer laden Fotos von sich hoch, schreiben eine kurze Selbstauskunft und wischen sich durch die Profile der anderen. Nach links heißt kein Interesse, nach rechts bedeutet das Gegenteil. Wischen beide Nutzer nach rechts, gibt es ein Match, dann können sie einander schreiben. Als meine Beziehung begann, gab es Tinder noch nicht, ich war deshalb gleich überfordert. Mein Freund Stephan, der schon einige Monate tinderte, riet mir, ein möglichst breites Fotoportfolio anzubieten, das mich als vollaktiven Superjunggesellen präsentieren würde. „Ein Foto im Anzug am Flughafen, eins beim Hüttenwandern, eins in Badehose auf Bali, eins beim Bouldern und eins mit Freunden beim Partymachen“, sagte er. Da ich nie auf Bali war und Klettern langweilig finde, lud ich ein Bild von mir im Anzug auf der Hochzeit meiner Cousine in Westfalen hoch, dazu eins beim Wandern im Harz und ein Foto von einer Grillfete, wobei ich meine Ex-Freundin, die auf dem Foto neben mir stand, aus dem Bild schnitt. Darunter schrieb ich: „Hallo! Hamburg/Berlin, 1,84 Meter.“ Es konnte losgehen.
Man muss bei Tinder sein Alter angeben, das Geschlecht der gesuchten Person und die Region, in der man Menschen treffen möchte. Keine weiteren Auswahlkriterien. Die meisten Profile wischte ich deshalb weg. Tinder hat unter den Dating-Apps mit Abstand die meisten Nutzer, es gibt jedoch keine Filter. Wie bei einer vollen U-Bahn: Man steigt ein, aber Blickkontakt sucht man nur mit Menschen, die einen interessieren. So wie Elea.
Elea hatte ein einziges Foto von sich hochgeladen, es zeigte sie in einer Bibliothek auf einem speckigen Ledersessel vertieft in ein Buch. Sie war Mitte 30, hatte langes rotes Haar und lehrte Geschichte an einer Uni. In ihrer Selbstbeschreibung stand, dass sie Feministin sei, One-Night-Stands sie langweilten und sie Yoga übe. Sie schrieb mich an und fragte, zu wem der abgeschnittene Arm auf dem Grillfeten-Foto gehörte, der auf meinem Hintern lag. Ich war gleich interessiert.
Wir hatten Sex auf dem Küchentisch
Ich traf sie in einer Bar bei einer Kleingartensiedlung. Wir hatten uns für 20.30 Uhr auf ein Bier verabredet. Ich war 30 Minuten zu früh und stürzte schnell zwei halbe Liter runter, weil ich so aufgeregt war. Sie trug einen filzigen Wintermantel und ein Lederband um den Hals, an dem ein Bernstein baumelte. Ein bisschen Waldorf, aber ich war selbst zum Waldorfkindergarten gegangen, da hatten wir sofort ein Gesprächsthema.
Die erste halbe Stunde schnatterten wir uns nervös an. Wetter, Eurythmie und Rudolf Steiner und Energien und Yoga, und was das eigentlich bedeutet, eine Aura zu haben. Dann wirkte das Bier. Wir beschlossen, auf was Stärkeres in eine dunklere Bar zu gehen.
Dort flirtete sie so frech mit dem Barkeeper, dass ich sie fragte, ob sie mit mir knutschen wollte. Sie sagte Ja. Wir befummelten einander, dann lud sie mich auf einen letzten Drink zu sich nach Hause ein. Ihre Wohnung war groß, sie lebte allein darin. In ihrem Wohnzimmer stand ein silberner, kühlschrankgroßer Buddha, und es war sehr aufgeräumt. Ich sagte ihr, dass so eine Buddha-Figur lächerlich sei, und dass Buddhisten es nicht gerne sähen, wenn Westler sich so was als Dekoartikel kauften. Wir hatten Sex auf dem Küchentisch. Es war das erste Mal mit einer anderen Frau nach sieben Jahren. Und es war wunderbar befreiend und anders.
Eine Woche später schrieb Elea mir, dass wir uns nicht wiedersehen könnten. Sie hatte zwei Tage nach unserem Date jemand anderen über Tinder getroffen. Er matchte noch ein bisschen mehr mit ihr. Mich hat das verletzt. Bei Tinder gehört das dazu.
Julia hörte am liebsten Thrash-Metal
JULIA – Tastebuds
Ich tinderte weiter, öffnete die App schon morgens im Bett, wischte mich noch vor dem Frühstück durch Profile fremder Frauen. Wenn ich jemanden mochte, sah ich mir die Fotos lange an und dachte darüber nach, wie die Person sein würde. Manchmal stellte ich mir vor, wie unsere gemeinsamen Kinder aussehen würden. Der Gedanke machte mich glücklich. Dann wischte ich weiter.
Mich störte, dass es außer den Bildern, dem Alter und dem Wohnort keine weiteren Filter gab. Ich wechselte zur App Tastebuds. Es gibt dort Profile wie bei Tinder, man zeigt Fotos. Zusätzlich gibt man Musiker an, die einem besonders gefallen. Das Programm zeigt einem dann Menschen, die einen ähnlichen Musikgeschmack haben. So traf ich Julia.
Julia arbeitete bei einer Fluggesellschaft und hörte am liebsten Thrash-Metal. Zur Arbeit ging sie im Hosenanzug, sonst trug sie nur schwarze Jeans und T-Shirts. Wir trafen uns in einer Bar neben einer Autobahnauffahrt und sahen uns den Auftritt einer grausigen Hardcore-Band aus Brandenburg an. Wir schrien uns gegenseitig „Gutes Riff“ oder „Na ja, geht so, ne?“ ins Ohr.
Am nächsten Morgen war sie weg
Danach tranken wir Bier und rauchten. Sie sagte, ihr Freund habe sie gerade verlassen. Das habe sie verletzt. Sie sagte, sie hätten sich einen VW-Bus gekauft und seien damit an den Atlantik gefahren. Sie erzählte von Pico, ihrem Boxer-Mischling, den sie zusammen großgezogen hätten, und der jetzt bei ihrem Ex lebte. Während sie sprach, lächelte sie. Dann kullerte ihr eine Träne über die Wange. Ich stand auf und nahm sie in den Arm. Ich fragte sie, ob sie noch auf einen Negroni mit zu mir kommen wolle. Sie sagte Ja.
Trennungen mit Anfang 30 sind anders als die, die man mit Anfang 20 erlebt. Man ist gefestigter. Man geht zur Arbeit, verdient sein eigenes Geld, kennt sich selbst besser. Es haut einen nicht mehr derart um. Dafür scheitert ein Lebensentwurf.
Im Freundeskreis werden die ersten Hochzeiten gefeiert und Emmas, Pauls und Samuels geboren, während man sich selbst in Bars mit Halbfremden einen antrinkt. Es fühlt sich so an, als würde man bei „Monopoly“ zurück auf „Los“ gesetzt. Als ich am nächsten Morgen in meinem Bett aufwachte, war Julia gegangen. Wir haben uns nie wiedergesehen. Ich löschte Tastebuds.
Alice schüttete all ihre Probleme über mir aus
ALICE – Bumble
Dann wurde ich kalt. Drei Monate vergingen, in denen ich alle paar Tage Frauen traf. Ich führte ständig dieselben Gespräche – Job, Herkunft, Lieblingsfilme. Ich wachte bei Fremden auf oder Fremde bei mir, traf Leute, die mich nie wiedersehen wollten und ich sie nicht. Mir ging es nicht schlecht dabei, es war mir egal. Niemand war mir nett, schlau, hübsch genug. Ich hörte trotzdem nicht auf. Weil jedes Mal, wenn ich die Apps öffnete, Hoffnung mein Hirn durchzuckte.
Bumble ist wie Tinder, allerdings können hier nur die Frauen initiativ werden. Das ist entscheidend, weil es viele Männer gibt, die bei einem Match gleich nach Sex fragen. Mir ging es nicht um Sex, ich wollte jemanden finden, der meine Ex-Freundin ersetzt.
Alice gefiel mir, sie schrieb mich an. Sie war Ärztin und arbeitete viel. Wir trafen uns in einem Restaurant in Berlin-Mitte. Es war furchtbar.
Sie leerte ihre Rotweingläser, als wäre darin Wasser. Sie redete ununterbrochen. Von ihrer Arbeit und von ihren Freunden. Sie schüttete all ihre Probleme über mir aus, bestellte mittendrin Wein nach und Tiramisu. Ich saß da und ließ das geschehen. Es war mir egal. Dann fragte sie, ob ich Lust hätte, noch einen Film bei ihr zu schauen. Ich sagte Ja.
Ich zog mich an und ging
Wir gingen zu ihr, in ihrer Wohnung stapelte sich Wäsche auf dem Boden und Geschirr im Ausguss. Die Vorhänge waren zugezogen, sie roch nach Schweiß. Sie schlief mit mir. Als sie fertig war, sagte sie, sie müsse in drei Stunden wieder los, Frühschicht im Krankenhaus. Ich könne bleiben, da sei bestimmt noch Kaffee in der Küche. Ich zog mich an und ging. Sie schrieb mir noch einige Wochen lang. Ich antwortete nie.
Kalter Entzug, zwei Monate. Ich arbeitete viel und machte Sport. Ich war nicht glücklich mit mir und wollte niemanden mehr treffen. Erst, wenn ich keinen Ersatz mehr für meine Ex-Freundin suchte, sondern wirklich jemanden kennenlernen wollte. Und dann traf ich Paula.
Die Apps hinterlassen Spuren
PAULA –OkCupid
OkCupid ist eine App, die dem Nutzer Fragen vorgibt, die man beantworten muss. Hunderte persönliche Fragen zu politischen Ansichten, sexuellen Interessen, Ethik, so was. Ein bisschen wie die Sendung „Herzblatt“, bei der die Partner zusammenkommen, deren Antworten am besten zusammenpassen. Das Programm errechnet eine Prozentzahl, an der man sich orientieren kann, je näher an 100 Prozent, desto besser.
Paula und ich hatten 96 Prozent.
Es war die Walpurgisnacht, und wir trafen uns früh im Berliner Monbijoupark. Sie kam zehn Minuten zu spät, da war ich gleich ein bisschen sauer. Sie trug einen grauen Sommermantel und saß dann derart aufrecht in ihrem Liegestuhl, dass es so aussah, als würde sie direkt wieder gehen wollen.
Wir sehen uns jeden Tag
Aber sie blieb. Und sie lotste mich durch die Stadt. In ein Restaurant, wo der Kellner uns draußen rauchen ließ und uns an einen Zweiertisch mit Kerze und serviertem Essen rief. Wir saßen dort bis nach Mitternacht, gingen weiter in eine Bar, wo sie die Rolling Stones spielten und alle tanzten und wir wild knutschten. Und uns dann in der Bahn verabschiedeten. Und uns dann jeden Tag wiedersahen. Bis heute. Ich wünsche mir, dass es so bleibt.
Wir haben oft über die Dating-Apps geredet. Wir reden immer noch darüber. Anfangs aus Misstrauen. Die Apps hinterlassen Spuren. Menschen, die einem schreiben, alle paar Wochen, nachts, kommst du noch vorbei? Es ist schwer, etwas Unverbindliches in etwas Verbindliches zu verwandeln. Aber es geht.
An einem warmen Abend saßen wir auf meinem Balkon und tranken Negroni. Sie fragte, ob wir das jetzt sein lassen mit den Dating-Apps. Ich sagte Ja.
Jan Kramaryic
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