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Jolinde Hüchtker.
© privat

Dating-App: Wir Tinder Kinder

Ich? Tinder? Niemals! Kein Mensch ist stolz auf die Dating-App auf seinem Handy. Dabei benutzt sie fast jeder. Auch unsere Autorin. Aber pssst.

Neulich hat eine Freundin Tinder auf meinem Handy entdeckt. Sie habe sich ja geschworen, „sowas“ nie zu machen, sagte sie. Gleich darauf hat sie sich die App runtergeladen und ist seitdem zu nichts mehr zu gebrauchen. Tinder ist das neue Candy Crush in meinem Freundeskreis. Und ich bin schuld.

Es ist Sommer, ganz klar. Das erkenne ich daran, dass sich in meinem Umfeld langsam alle Paare trennen und Menschen, die im Winter gesellschaftliche Konventionen doof fanden, wieder anfangen, sich die Beine zu rasieren. Und was kann man an einem faulen Sommeranfangsnachmittag Dümmeres machen, als RTL anschalten? Richtig, sich bei Tinder anmelden.

Nur so halt, sage ich mir, treffen will ich die sowieso nicht. Menschen im Internet können ja auch alle Axtmörder sein, wie wir von Mama gelernt haben.

Erstmal lädt die App verdammt lang und ich, inzwischen in gespannter Erwartungshaltung, überlege, ob sich vielleicht in einem Umkreis von 80 Kilometern gerade keine Tinderer befinden – was nicht sein kann, ich bin ja in Berlin – oder ob das Netz überlastet ist – was gut sein kann, ich bin ja in Berlin. Es ist dann das zweite und ließ sich schnell lösen. Los geht das Gewische.

Vielleicht sollte ich meine Ansprüche senken

Nope. Nope. Nope. In meinem Nach-Links-Wegwisch-Modus wische ich tragischer Weise auch meinen reizenden Kollegen ins Meer der abgelehnten Tinderposer. Zu schade, dabei hätte ich ihm so gerne eine Nachricht geschrieben: „Moment mal, bist du nicht der berühmte Tagesspiegel-Kolumnist?“ und höflichst um ein Autogramm gebeten. Na ja, verkackt.

Im Lauf des Nachmittages schaffe ich es, sage und schreibe jeden einzelnen schönen Mann aus lauter Linksreflex wegzuwischen. Am Abend habe ich mir vermutlich meine Daumensehne gezerrt und noch kein einziges Mal nach rechts gewischt. Vielleicht sollte ich meine Ansprüche senken, denke ich. Dann fällt mir ein, dass ich ja schon bei Tinder bin. Viel Luft nach unten ist nicht.

Von nun an ist Tinder mein Ritual während des Zähneputzens, und ich steigere meine Matches von Null auf Vierzig. Zwei Drittel dieser Matches bleiben stumm, einer fragt, wie mir mein Po gefalle. Klingt nach Axtmörder. Schnell gelöscht.

Werther sucht Lotte

In den Weiten des Fleischmarktes findet sich übrigens auch Kulturgut. Werther, searching 4 Lotte, heißt es in einer Beschreibung. Schick, da kann ich kontern. Ich schreibe ihn mit einem Goethezitat an, bezogen auf sein lahmes "hey" zum Anfang: „Kein Argument bringt mich so aus der Fassung, als wenn einer mit einem unbedeutenden Gemeinspruch angezogen kommt, wenn ich aus vollem Herzen rede“, und finde mich offen gestanden ziemlich witzig, da stellt sich heraus, dass er eigentlich nur Follower für seinen Youtube-Channel anwirbt.

Ansonsten stoße ich auf einen nächtlichen Superhelden, einen zukünftigen Fantasy-Autoren, einen Katzenmaske tragenden Halbnackten. Vor allem ist Tinder voll von DJs und Fotografen, weil man halt einfach kreativ ist in Berlin. Einer lädt mich zu einer Ausstellung im Hamburger Bahnhof ein. Einer zum Biertrinken. Allerdings an einem Dienstag um elf Uhr abends, wo die Wahrscheinlichkeit, mich aus dem Bett zu kriegen, gering ist. Und die, mich ins Bett zu kriegen, noch geringer. Ich sage ab, jedes Mal. Meistens nicht mal das. Feigheit, Faulheit, was auch immer.

Virtuelles Frischfleisch

Eva Illouz, eine israelische Soziologin, in deren Texten ich stöbere, wenn mein Handyakku gerade lädt, stellt fest: Sexyness, Weiblichkeit oder Männlichkeit sind nicht übers Internet beurteilbar. Genau deshalb graut es mir davor, einen Fremden im Café zu treffen. Für Menschen, die nur potenziell sexy sind, ist Smalltalk zu anstrengend. Ich bin also eine dieser Wasserleichen, die im Tindermeer umhertreiben, ab und zu mal liken, auch mal antworten, wenn du witzig bist, sich aber vermutlich nie mit dir treffen werden. Außer, du zitierst im passenden Moment Goethe. Dann überlege ich’s mir noch mal.

Neulich, nach einer Woche mit Tinder, habe ich auf der Straße rote „Nope“-Zeichen über Männern aufleuchten sehen. Vielleicht ist es an der Zeit, die App zu löschen. Schade, ich werde es ein wenig vermissen, im Bad mit virtuellem Frischfleisch versorgt zu werden.

Und, was gelernt?

Vorher muss ich noch mit zwei Ressentiments aufräumen. Erstens: „Diese Beschreibung von dir selbst unter dem Foto interessiert doch eh keine Sau.“ Falsch. Gravierende Rechtschreibfehler oder das Hobby „Fitnessstudio“ sind Ausschlusskriterien. Zweitens: „Als Mädchen würde ich mich doch nicht bei Tinder anmelden.“ Ja, Tinder ist oberflächlich und unverbindlich. Und Mädchen können das ebenfalls sein. Gleichberechtigung kann auch funktionieren, indem Frauen Männer genauso objektivieren wie Männer Frauen. Wir kommen euch gerne mal einen Schritt entgegen, was das angeht. Wir sind ja flexibel.

Was fürs Leben gelernt? Wenn einem bei Nazis oder der saarländischen Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer mal die Hand ausrutscht, ist mein neu entdecktes Wort Linksreflex eine gute Rechtfertigung. Und abschließend wünsche ich mir, dass sämtliche Tinder-Nutzende, die sich aus der analogen Welt kennen, ein stillschweigendes Gelöbnis abgeben, einander nicht zu verpfeifen, wenn sie sich digital begegnen. Ja, ich bin auch hier. Ja, das ist jetzt etwas peinlich. Aber: Pssst.

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Jolinde Hüchtker

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