Walpurgisnacht im Harz: Wenn Hexen und Teufel Kurtaxe zahlen
Verbockt hat es der Dichter des „Faust“: Seitdem er auf dem Blocksberg die Hexen tanzen ließ, reisen zur Walpurgisnacht Tausende in den Harz und bringen einen starken Willen zur Enthemmung mit. Doch das tolle Treiben ist mittlerweile hauptsächlich ein Gewerbetreiben.
Lehnen drei Hexen am Geländer. Sie versteht nicht, sagt die eine, warum hier oben auf dem Tanzplatz so viele Teufel sind. An Walpurgis, sagt die zweite, seien Hexen doch unter sich. Mit einem einzigen Bock. Im „Faust“, sagt die dritte, stehe hiervon jedenfalls nichts.
Hinter ihnen stürzt das Gelände schroff ins Bodetal, der Brocken ist ein entfernter Schemen am Horizont. Vor ihnen streift der Hexenblick: Hunderte flanierender Artgenossen. Hexen aus Düsseldorf. Verwarzte Gumminasen. Bier in Plastikbechern und Teufel mit Höhenangst.
Es ist die größte Volkserhebung im Harz, wenn gut hunderttausend Menschen in allen Höhen und Tälern des Mittelgebirges Feuer entzünden, auf Besen reiten, Hexen prämieren, tanzen und trinken. Das größte Fest steigt auf dem „Hexentanzplatz“ hoch über Thale, und diese Benennung ist eine zweckdienliche Behauptung, die nun schon über 100 Jahre einen touristischen Glücksfall begründet.
Die Seilbahn, „500 000 Beförderungsfälle im Jahr“, haben sie heute einfach auf doppelte Geschwindigkeit gestellt. Sie windet mit 16 Stundenkilometern die Leute auf das Plateau hinauf, das in den Kartenwerken des Landes mit einem blauen Sternchen versehen ist: „Lohnt einen Umweg“, schreibt die Legende.
Walpurgis ist freundlicher als der Karneval
„Wir kommen aus Düsseldorf“, sagt eine Dame über ihr verlängertes Kinn, sie komme aus der Gothic-Szene, eine teure Korsage und echten Samt erkennt sie sofort. Walpurgis, sagt sie, ist freundlicher als der Karneval. Nicht so grob. Man flaniere, schließe Kontakte unter Hexen, und wenn einem etwas gefällt, dann sage man es einander. Und so stehen 2014 hier oben die Hexen und machen sich Komplimente für ihre Buckel. Noch ist es nicht dunkel, aber die Bässe wummern schon. Und viele Beförderungsfälle tragen den Willen zur Enthemmung in sich.
Verbockt hat das bekanntlich Goethe. Mit der Geschichte von der Walpurgisnacht im „Faust“, in der die Hexen tanzen und sich mit dem Teufel vereinen. Und der Bedarf nach erotischen Hexen scheint immens: Tausende verlassen ihr Zuhause. Tausende Liter alkoholischer Getränke werden durch menschliche Lebern gefiltert. Eintritt wird gezahlt, Schminke verteilt, Sonderzüge werden abgefertigt. In jedem Bett im Ort könnten drei liegen. Das Schöne ist ja: Die Hexen zahlen Kurtaxe.
Thomas Balcerowski, dessen Bürgermeisterbüro im neuen Rathaus schon Ende April vom Duft frischer Maiglöckchen erfüllt ist, ist auch gedanklich gerne seiner Zeit voraus. Er sieht Walpurgis, den letzten Tag im April, als Wirtschaftsfaktor und Sicherheitsfrage. Wenn die Sphäre des Mystischen die des Ökonomischen streift, entsteht magischer Realismus.
Großes Freiheitsgefühl bei erster Walpurgisnacht nach dem Mauerfall
In der DDR, sagt Balcerowski, war das Fest verboten. Was, wenn sich aus der unkontrollierten Masse etwas Politisches entwickelt? Außerdem sollte man am 1. Mai ausgeschlafen demonstrieren zum Tag der Arbeit, Teilnahme verpflichtend.
Doch 1990 fanden sich prompt 20 000 Leute oben auf dem Hexentanzplatz ein – und bei der Erinnerung daran stellt sich für den Bürgermeister, der mittlerweile 42 geworden ist, sofort wieder das Gefühl großer Freiheit ein. „Gigantisch“ sei das gewesen. Unorganisiert, befreit, auch dies war ja eine Vereinigungsfeier – hier vereinigten sich euphorisch die zwei gegengepolten Deutschlands, und man kann schon sagen, dass jeweils die eine die andere Hälfte zeitweise für den Teufel gehalten hat.
Es war fortan gestattet, lange unterdrückten Trieben nachzugeben, wozu natürlich auch das Geldverdienen gehörte.
Seitdem wurde das Fest Chefsache – und immer besser organisiert. Balcerowski hat noch die irren Bilder vor Augen, als anfangs die Busse zwischen den Betrunkenen wieder bergab ins Tal fuhren. Das war so gefährlich, dass die Busfahrer sich weigerten. Seitdem ist der Transport per Bus oder Seilbahn im Ticket inbegriffen. Vor über zehn Jahren gründeten sie eine GmbH. „Wir gehen“, sagt er, „als Stadt mit 100 000 Euro in Vorleistung.“
Und deshalb gibt es nun oben zum heidnischen Frühlingsfest die Lustbarkeiten von Tourismusmanagern: Sänger, Lasershow, Hochseilartistik, Mittelaltermarkt, Feuerwerk. Der Erfolg hänge vom Wetter ab, aber heute ist es milde. Am Feuer wärmen sich Kinder, vor den Klos stehen die Teufel Schlange, die Frauen schauen ins Tal und denken an die Fruchtbarkeit.
„Wir bedienen ein Image, das man uns nachsagt“
Dass die ganzjährige Nachfrage nach Hexenführungen im Ort heute kaum zu befriedigen ist, begann damit, dass Evelyn Kunz, Biologin, zuständig für den Tourismus, 1990 die Idee hatte, für Sagen-Führungen einen Teufel zu finden. Sie fand Herrn Albrecht, gerade arbeitslos geworden, und der war ein voller Erfolg. Über zehn Jahre lang war er nur noch als Teufel unterwegs, repräsentierte die Stadt Thale, begrüßte offizielle Besucher mit kleinen Geschenken, seine Identifikation schien total. Am Ende stellte ihn seine Frau vor die Wahl: Entweder bleibst du Teufel oder mein Ehemann.
Nur der damalige Ministerpräsident Reinhard Höppner, Pfarrerssohn, SPD, habe vom Teufel nichts entgegennehmen wollen. So wie der erste Bürgermeister nach der Wende, ein ehemaliger Pfarrer, seinen Mitarbeitern die Teilnahme verbot. Die Leute fassten sich an den Kopf: touristischer Selbstmord.
„Wir bedienen ein Image, das man uns nachsagt“, sagt Balcerowski. Dieses Image sei eine touristische Notwendigkeit, keine Religionsausübung. Besonders froh ist er deshalb um das Verhältnis zu den Kirchen, die zum Teil nach langen Diskussionen endlich anerkennen, dass es sich hier um die Tradition, die Folklore einer Religion handelt. Niemand feiere ernsthaft einen Hexensabbat. Dann verweist er auf die drei fest angestellten Hexen im Fremdenverkehrsamt, „und wir suchen noch“.
Inspirationsquelle für Fontane
Dass aus Goethes Hexen so viel Kapital geschlagen werden konnte, hatte am Eisenbahnanschluss nach Berlin gelegen, 1862 wurde er eröffnet – jetzt mussten Reisegründe geschaffen werden. Das tat die Bahn gleich selbst, baute ein Wanderwegenetz aus, beschilderte alles und errichtete das grandiose Hotel „Zehnpfund“, das alsbald mit 150 Zimmern und Suiten das größte Sommerhotel Europas werden sollte. Und wer nicht alles kam: die Berliner Gesellschaft, Fontane und Co., der Dichter erblickte nachweislich vom Balkon dieses Hotels eine Gestalt, deren Äußeres er für Effi Briest benutzte.
Nebenan rauchte allerdings die andere Einnahmequelle des Ortes, das Eisenhüttenwerk, zeitweise das modernste seiner Art. Es rauchte, zischte und stank ganzjährig und effizienter als jede Dampflok und jedes Hexenfeuer. Erst wurden Kochtöpfe produziert, dann Stahlhelme, die ersten 30 000 gingen an die Soldaten vor Verdun. Fontane spottet in seinem Roman „Cécile“: „In den Zeitungen heißt es (…): Thale, klimatischer Kurort! Und nun diese Schornsteine! Na, meinetwegen; Rauch konserviert; und wenn wir hier vierzehn Tage lang im Schlote hängen, so kommen wir als Dauerschinken wieder heraus.“
Thale wollte in der DDR-Zeit eine Arbeiterstadt sein, den Status als Kurort verlor man in den 80ern. Doch der Wendepunkt zur Mystik war vielleicht erreicht, als es 1996 die Hexe ins Stadtwappen schaffte.
Der Forschungsleiter des geschrumpften Eisenhüttenwerkes, Harald Watzek, sattelte um auf die Sagen, Vorsitz der „Arbeitsgruppe Mythen“ im Verein der Gewerbetreibenden. Er führt einen Tag vor Walpurgis, wie die letzten 20 Jahre, Gäste den „Mythenweg“ entlang durch den Ort, erklärt Brunnen und Skulpturen, gelegentlich fällt ihm Goethe oder Fontane von den Lippen.
Graffiti und Kettensägen
Ein Mann wienert mit einem Tuch Graffiti von der Skulptur des Heimdall, Wächter der Feuerbrücke zum Götterhimmel Asgard. „Danke dafür“, sagt Watzek, alle helfen mit. Alle ziehen an diesem Strang, der Reisegründe und Beförderungsfälle schafft und die Verweildauer erhöht. Eine Gruppe von sechs älteren Menschen surrt auf Segways vorbei.
Eine Kettensäge tanzt brüllend um einen Eichenstamm herum, denn wie jedes Jahr findet zu dieser Zeit auch das dreitägige Kettensägensymposium statt, die eingeladenen Künstler verarbeiten den Sagenstoff zu Stelen und Parkbänken. Hier gleich links, eine Bank mit Wotans Ziegen: Eine heißt Zähneknirsch, die andere Zähneknister, gesponsert hat sie der örtliche Zahnarzt.
So greift eins ins andere an diesem Ort; und in der letzten Aprilnacht stellen sie einfach die Seilbahn schneller.
„Es ist ja für unsere Gäste“, sagt der Bürgermeister und geht selbst nur hin zur Manöverkritik. „Es ist ja etwas für die Jungen“, sagt Harald Watzek, er war nur ein einziges Mal oben, um nach der Wende einmal mitreden zu können. „Sie werden sehen“, hatte Balcerowski gesagt, „es geht nicht sehr christlich zu.“
Aber warum sich wundern über das Derbe? Es handelt sich um reine Werktreue. Prollig war es schon bei Goethe, seine saftigsten Stellen haben nicht einmal die Eigenzensur überlebt. Lüste werden erfüllt, die Gäste suchen Zerstreuung wie Faust. Mephisto ist heute ein Gastwirt und schenkt nach.
Im magischen Realismus des Harzes sind die Warzen aufgeklebt, lange Nasen sind für 2,50 zu erwerben und riechen innen nach Gummi. Es gibt Zuckerwatte, Speckstein-Schnitzen, Modeschmuck und 1000-Teile-Hexen-Puzzle. Irgendwie haben es auch Räucherstäbchen auf den Berg geschafft. Einige Besucher können das nicht leiden.
Kommerz statt Auflehnen
Ist Walpurgis nicht ein Aufbäumen gewesen gegen die Oberen, gegen das verordnete Programm, der Durchbruch von frühlingshaften Trieben? Aber diese Hexen und Teufel lehnen sich nicht mehr auf. Sie erwerben für 25 Euro eine Eintrittskarte, die „Transporteinheit“ auf den Hexentanzplatz inbegriffen. Sogar als Besen wäre man beleidigt. So zum Accessoire degradiert.
Denn das tolle Treiben ist ein Gewerbetreiben. Nahtlos geht hier der Trotz der Sachsen, die sich mit Feuern auf den Bergen gegen die Christianisierung wehrten, geht auch der ungestüme Freiheitswille der Nachwendefeiern in den Wunsch nach regelmäßiger Enthemmung über.
Eine Frau vom Grill überreicht eine Wurst und übergibt sich dann mit langem Strahl ins Dunkel hinter ihrem Stand. Auch von denen, die am Bauzaun niedersinken, ist nicht mehr viel zu erwarten. „Jetzt noch mal einen echten Schlüpfer-Zieher aus den 80ern“, brüllt der Kopf der Band „Stamping Feet“. „Da wird jetzt noch mal richtig einer weggemeißelt.“
Es geht gar nicht um die Hexen. Es ist schon wieder Programm für die Böcke. „Wo sind eure Patschepfötchen?“ Ja, wo sind die wohl?, kichert es hinten.
Patschepfötchen! Geht’s noch? Was ist aus der Suche nach Erkenntnis geworden, wo sind die weisen Frauen? Ist nicht der Kern der Geschichte die Frau mit den besonderen Fähigkeiten?
„Ich bin die Hexe Tilly“, hatte am Abend vorher eine gesagt und aufgeräumt die Tür zu einer farbstarken Wohnung im alten Kurviertel geöffnet.
„Wasser aus dem Hahn oder Heilsteine-Wasser?“ – Heilsteine natürlich.
Eine Vollzeithexe übernimmt Verantwortung
Martina Wöhlert, Thales einzige echte Hexe, Kleinunternehmerstatus, ist ganzjährig tätig und nach dem Gesetz mit ihren Fähigkeiten, „intuitiv und lösungsorientiert“, gemäß Paragraph 19 des Umsatzsteuergesetzes, nicht umsatzsteuerabzugsfähig. Die fiskalische Gesetzgebung hat natürlich auch hier längst die Sphäre des Spirituellen penetriert. Die Leistungen sind wie folgt: Kartenlegen, Pendeln, Reiki, Karma-Legung und spirituelles Fastenwandern im Harz.
Wöhlert ist ein Morgenmensch, schon in der Früh um sechs auf dem Höhepunkt ihrer seherischen Kraft. Sie färbt sich nicht erst die Haare rot, seitdem sie Leuten die Karten zu einem Schicksal legt. Geboren 1962 im Zeichen Krebs, gelernte Zierpflanzengärtnerin, hat sie später eine Kleiderfiliale geleitet. Nachdem ihr in einer fordernden Zeit selbst eine Kartenlegerin geholfen hatte, hat sie „2008 direkt den spirituellen Lebensberater gemacht“. Die Leute in Thale mussten sich erst an ihre neue Rolle gewöhnen, schließlich hat sie vorher eher Modenschauen veranstaltet.
Und dann erzählt sie davon, wie sie beim besten Willen nicht immer nur Rosiges versprechen kann: Denn wenn es hier auch um Einfühlung und Energiefluss geht, so ist sie ja für die Wahrheit zuständig. Bemerkenswert sei, wie erstaunlich viele Menschen sich mit Selbstmordgedanken tragen. Und wie viele Menschen bis ins Erwachsenenalter ihren Eltern die Schuld an ihrem Leben geben. „Irgendwann muss man Verantwortung übernehmen.“ Das muss sie ihnen dann auch sagen.
„Soll ich mal?“ Und schon legt sie aus: 36 Karten für den Rundumblick. Liebe, Finanzen, Beruf und Gesundheit. Und dann sagt sie Dinge, die man selber schon wusste, und das ist natürlich ein Zeichen für Qualität, wenn man jemanden erst seit einer halben Stunde kennt.
Sehnsucht nach der Stille
Was soll man jetzt tun mit diesen Erkenntnissen? „Zum Beispiel mehr trinken.“ Wie von selbst greift die eigene Hand nach dem Heilsteine-Wasser. Der Blick wandert über die Zertifikate an der Wand, den Aufkleber: „Germanische Heilkunde. Informieren Sie sich, solange Sie gesund sind.“ Skelettbeschwerden sind danach Selbstwert-Einbrüche.
Es eint sie mit Goethe die Reizbarkeit durch die Natur. Sie vermutet dort Erkenntnisse, die über die Schulmedizin hinausweisen. Und die Natur entspannt natürlich: die aufsteigende Feuchtigkeit, die Nebel, die Wetterwechsel, die Talschlucht mit dem alpinen Charakter. Es muss wunderschön sein im Bodetal, in Stille. Wenn man durch das Tal wandern kann, allein.
Und tatsächlich entwickelt sich in der Nacht vor dem 1. Mai noch vor dem Walpurgis-Feuerwerk eine enorme, drängende Sehnsucht nach der Stille, die Ohren fiepsen, gerade ist die Lasershow „Mephistos Pakt“ vorbeigedonnert. Hunderte drängen den Berg hinab. Die Seilbahn stürzt mit ihrer verdoppelten Geschwindigkeit die 250 Höhenmeter ins Tal, von dort katapultieren fünf Sonderzüge mit Namen Hex für den Harz-Elbe-Express die Menschen, die teils bereits schlafen, an ihre zivile Wohnorte in Quedlinburg, Oschersleben, Halberstadt und Magdeburg, der letzte fährt um drei Uhr morgens. Es ist Mai.