Rechtsextremisten von Gericht: Der Lübcke-Prozess – erster Tag, erste Erkenntnisse
Der Prozess um den mutmaßlichen Neonazi-Mord an Walter Lübcke erinnert anfangs an das NSU-Verfahren. Doch dann verläuft der Auftakt anders als erwartet.
In wenigen Sekunden ist es soweit. Dann tritt der Mann, der im Dunkeln gemordet haben soll, ins Licht. Im Saal 165, Gerichtsgebäude C, Oberlandesgericht Frankfurt am Main, ist es so ruhig, dass man den Zeiger der Wanduhr springen hört.
Nacheinander sind die Beteiligten dieses Strafprozesses aufmarschiert, die Bundesanwälte in purpurnen Roben, die Verteidiger, die Anwälte der Nebenkläger, der Nebenkläger Ahmad E., dann Familie Lübcke. Jan-Hendrick, der jüngere Sohn, starrt geradeaus, die Gesichtszüge einbetoniert. Irmgard Braun-Lübcke, eine adrette Frau, wirkt schmal und zerbrechlich. Christoph Lübcke, der ältere Sohn, scheint seinen Gedanken nachzuhängen.
Tack. Die Wanduhr springt.
Wird er lächeln, wie einst Beate Zschäpe, herausfordernd, demonstrativ entspannt? Wird er hinüber schauen zur Familie des Ermordeten?
Die Familie des Opfers würdigt er keines Blickes
Zuerst kommt sein mutmaßlicher Komplize. Markus H., angeklagt wegen Beihilfe zum Mord. Er trägt einen grünen Kapuzenpulli, die Kapuze hochgezogen, Maske im Gesicht, Schlabberlook.
Dann führen zwei Justizbeamte Stephan Ernst herein, nehmen ihm die Handschellen ab, Ernst legt sofort seinen Mundschutz ab. Er trägt einen dunkelblauen Anzug, ein blütenweißes Hemd, die Haare hat er sorgsam zur Seite gelegt. Er wirkt bleich, er lächelt nicht, aber er wirkt auch nicht sonderlich eingeschüchtert. Die Familie des Opfers würdigt er keines Blicks.
So geht er los, der Lübcke-Prozess.
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Die Bedeutung dieses Falles kann man kaum hoch genug hängen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ermordet ein Rechtsextremist mutmaßlich einen Politiker. Walter Lübcke, Kasseler Regierungspräsident, ein Mann wie ein Baum, gewachsen in der alten Bundesrepublik. Ein gläubiger Christ, der Merkels Flüchtlingspolitik vor Ort verteidigt hatte gegen die Staatszersetzer von rechts. Hingerichtet per Kopfschuss.
Das ist das politische Fundament, auf dem dieser Fall steht, das macht ihn historisch. Ein Fanal, dieses archaische Wort gebraucht die Bundesanwaltschaft für die Tat. Ein Fanal ist eine Fackel, ein weithin sichtbares Signal, das von Veränderung kündet.
Und tatsächlich: Auf Lübcke folgte Halle, auf Halle folgte Hanau, auf Hanau die Einsicht: Rechte Gewalt ist systemisch, sie tötet regelmäßig und sie wurzelt tief in der Gesellschaft.
„Es kann jeden von uns treffen“
Wer den NSU für einen Sonderfall gehalten haben mag, wer darauf gehofft hatte, dass der Spuk nun wieder vorüber sein würde, dem hat der Mord an Walter Lübcke das Gegenteil bewiesen. „Du, ich, jeder kann der nächste sein“, so formulierte es neulich der Grünen-Politiker Cem Özdemir. Die Endgültigkeit dieser Erkenntnis, man könnte sie das Vermächtnis von Walter Lübcke nennen.
Kann vom Prozess gegen seine Mörder ein Gegensignal ausgehen?
Es sind keine zehn Minuten vergangen in dieser Verhandlung, da hebt Mustafa Kaplan, Verteidiger von Stephan Ernst, zum ersten Befangenheitsantrag an. Die Pflichtverteidigerin des Mitangeklagten Markus H., Nicole Schneiders, hätte nicht berufen werden dürfen, die Hauptverhandlung sei auszusetzen.
Ernsts zweiter Verteidiger, Frank Hannig, unterstützt. Er begründet seinen Antrag auf Aussetzung der Verhandlung unter anderem damit, dass der Gesundheitsschutz wegen der Corona-Pandemie nicht gewährleistet, der Zugang der Öffentlichkeit zum Prozess stark eingeschränkt sei.
Danach spricht Björn Clemens, Verteidiger von Markus H. und einstiges Parteimitglied der „Republikaner“. Der Haftbefehl gegen seinen Mandanten sei aufzuheben, es müsse Entschädigung für die Haft bezahlt werden. Die Presse habe seinen Mandanten vorverurteilt, zuletzt hätten „Spiegel“, „Tagesschau“ und „Süddeutsche Zeitung“ tendenziös berichtet. „Es ist eine öffentliche Einheitsmeinung entstanden“, sagt Clemens – zum Nachteil seines Mandanten. Der sei nun bereits „der extremistische Bösewicht“.
Erinnerungen an den NSU-Prozess - und ein Unterschied
So beginnt dieser Prozess und erinnert gleich an jene Verhandlung, die vor sieben Jahren begonnen hatte: Den NSU-Prozess. Und doch gibt es einen Unterschied. Während die Befangenheitsanträge gegen Richter Manfred Götzl damals dazu führten, dass am ersten Verhandlungstag nicht einmal die Anklage verlesen wurde, macht der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel gleich klar, dass er das Spiel der Verteidiger nicht mitspielt. Die Anträge seien unbegründet oder würden zurückgestellt. Die Anklage sei vorzulesen. Dann ist Mittagspause.
Es ist viertel vor drei, als Oberstaatsanwalt Dieter Killmer liest: „Stephan Ernst und Markus H. klage ich an.“ Killmer spricht ruhig, aber mit Nachdruck. Und beginnt dann mit einer halbstündigen, detaillierten Rekonstruktion des Geschehens.
Alles hat seinen Ursprung im Jahr 2015, auf einer Bürgerversammlung in Lohfelden bei Kassel. Damals hören Stephan Ernst und Markus H., vereint in ihrer Angst vor „Überfremdung“, wie es Oberstaatsanwalt Killmer ausdrückt, dem Regierungspräsidenten Lübcke zu, als der erklärt, wo die vielen Flüchtlinge unterkommen sollen, die in dem Jahr ins Land kamen. Auch in Lohfelden sollte eine Unterkunft errichtet werden, nicht weit entfernt von Stephan Ernsts Haus.
Ernst und H., der die Szene filmt und später ins Netz stellen wird, sind wütend auf Lübcke – und sie zeigen ihre Wut. „Scheißstaat“, so schreien sie es Lübcke entgegen. Der antwortet, nie verlegen um eine Ansage: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten. Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“
Es sind diese Zeilen, die ihn für Rechte zur Hassfigur machen. Und Stephan Ernsts Wut ein Ziel geben.
Der Angeklagte wirkt, als betreffe ihn das nicht
Die Wut war immer da. Sie speise sich aus einer von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit getragenen völkisch-nationalistischen Grundhaltung, so verliest es Oberstaatsanwalt Killmer. Ernst habe Angst vor Überfremdung und „der letztendlichen Ausrottung der Deutschen“. Während Killmer liest, blickt Ernst zu Boden, verzieht keine Miene. Fast wirkt es, als ginge ihn das alles nichts an.
So bleibt es auch, als Killmer über die Nacht spricht, die Walter Lübckes letzte wurde. Es ist der Abend des ersten Juni 2019, als Ernst mal wieder nach Wolfhagen-Istha fährt. Schon zuvor sei er mehrfach dort gewesen, sagt Killmer, er habe die Umgebung ausgekundschaftet, das Haus der Lübckes mir einer Wärmebildkamera beobachtet.
Gegen 23.20 Uhr sei er über einen Weidezaun gestiegen und habe sich dem auf der Terrasse sitzenden Lübcke genähert. Er führt einen Rossi-Revolver mit sich. Spätestens um 23.30 Uhr drückt er, soweit die Rekonstruktion, aus kurzer Distanz ab. Killmer liest das so vor: „Das Projektil traf das Tatopfer oberhalb des rechten Ohransatzes und blieb in der linken Schädelhälfte stecken. Dr. Lübcke verstarb an den Folgen des nahezu horizontalen Schädel-Hirndurchschusses.“
Wenn nicht Unvorhergesehenes passiert in den nächsten Monaten, dann lässt sich diese Tat einigermaßen unkompliziert aufklären. Das liegt unter anderem daran, dass Ernst sich, als er Lübcke mutmaßlich erschossen hatte, noch einmal zu ihm herunterbeugte. Seine DNA fanden die Ermittler auf Lübckes Hemd. Und Ernst gestand die Tat, letzten Sommer. Dass er das Geständnis inzwischen widerrufen hat und Markus H. beschuldigt, die Waffe unabsichtlich benutzt zu haben: für den Oberstaatsanwalt unglaubwürdig.
Dessen Strafbarkeit wird das Gericht mehr fordern. Eine psychische Beihilfe will Dieter Killmer ausgemacht haben, vor allem weil H. Ernst an der Waffe ausgebildet habe. „Eine Art Anker“, sei H. für Ernst gewesen, befindet die Anklage.
Die ehemalige Lebensgefährtin von Markus H. drückte es so aus: H. sei der Denker, Ernst der Macher der beiden gewesen. Das wird der heikelste Punkt dieses Verfahrens: Markus H. nachzuweisen, dass sein Tun tatsächlich eine Beihilfe darstellt, obwohl er, das gesteht die Bundesanwaltschaft ihm zu, über den konkreten Mordplan nicht im Bilde gewesen sei.
Lübckes Familie hofft auf ein Signal
Wenn es nicht gelingt, könnte sich wiederholen, was beim NSU passierte: Dort spazierte André E., nach eigener Aussage „ein waschechter Nationalsozialist“, am Ende als freier Mann aus dem Saal, auf der Bühne jubelten Neonazis, der Vater eines Opfers kippte sich Wasser über den Kopf. Wie ein Reaktor, der heiß gelaufen ist.
Lübckes Familie hatte vorab ein Statement veröffentlicht: „Wir wollen den angeklagten, mutmaßlichen Tätern in die Augen sehen, auch wenn wir wissen, dass dies sicher mit schweren emotionalen Belastungen einhergeht.“ Aber die Lübckes sind nicht als Opfer gekommen. „Wir alle, die wir für unsere freiheitliche Demokratie eintreten, dürfen nicht verstummen, sondern müssen klar Position beziehen.“
Ein Signal senden. Darum geht es den Lübckes. Die Frage ist, ob das kompatibel ist mit einem Strafprozess, der, das liegt in seinem Naturell, auf die Täter zugeschnitten ist, nicht auf die Opfer. Erstere führt er – im besten Fall – ihrer gerechten Strafe zu, manchmal spricht er sie auch frei, er klärt jedenfalls die Frage nach Schuld und Unschuld.
Das gilt auch im Fall Lübcke, aber hier ist der Widerspruch zur öffentlichen Erwartung besonders groß. Der Prozess, es soll auch sensibel umgehen mit den Opfern, und er soll alle offenen Fragen beantworten. Der Strafprozess als seelisches Reinigungsmoment, kathartisches Element einer Gesellschaft.
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An diesem öffentlichen Anspruch scheiterte der NSU-Prozess vor zwei Jahren. Als der zu Ende war, als Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt war, da blieben tausend Fragen offen. Die nach den Unterstützern des Netzwerks. Die nach dem aberwitzigen Versagen des Verfassungsschutzes.
Vor wenigen Wochen veröffentliche Richter Götzl das schriftliche Urteil – die Opferangehörigen kritisierten es harsch. Die Urteilsgründe legten offen, dass die Richter kein Interesse an einer vollständigen Aufklärung gehabt hätten. Das Urteil sei „formelhaft, ahistorisch und kalt, ein Mahnmal des Versagens des Rechtsstaats.“
Thomas Fischer, ehemals Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, sagt: „Die öffentlichen Erwartungen an einen Strafprozess sind oft höher, als sie von der Justiz erfüllt werden können. Letzten Endes ist so ein Verfahren nicht geeignet, die Strukturen des rechtsradikalen terroristischen Untergrunds endgültig und abschließend offenzulegen. Das überfordert die Justiz. Es ist eine politische Aufgabe.“
Wer sich von diesem Verfahren ein Signal erhofft, der könnte das also vergeblich tun. Was nicht heißt, dass es diese Zeichen nicht gäbe.
In Wolfhagen, nur wenige Kilometer entfernt von Walter Lübckes Heimat, steht die Wilhelm-Filchner-Schule. In den vergangenen Wochen kämpften hier Jugendliche gegen den Widerstand mancher Erwachsener und die Bedenken ihrer Eltern dafür, dass ihre Schule umbenannt wird - in Walter-Lübcke-Schule.