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Richter Manfred Götzl am 200. Verhandlungstag.
© Andreas Gebert/dpa

Richter im NSU-Prozess: Manfred Götzl, der Herr des Verfahrens

Er war manchmal mitfühlend, häufig streng. Weich war er nie. Richter Manfred Götzl ist im Laufe des NSU-Prozesses zur Symbolfigur für eine wehrhafte Demokratie geworden.

Als er eineinhalb Stunden zugehört hat, in denen der Richter Morde und Sprengstoffanschläge und Banküberfälle schildert und dann zu den tödlichen Schüssen der NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos auf den jungen Halit Yozgat kommt, hält es der Vater des Opfers nicht mehr aus. Ismail Yozgat springt auf, gießt sich Wasser aus einer Plastikflasche über den Kopf und ruft laut: „La illaha illah allah“, es gibt keinen Gott außer Gott. Die Menschen im vollbesetzten Saal zucken zusammen. Yozgat, ein kleiner, kräftiger Mann, steht da mit erhobener rechter Hand und ruft das islamische Glaubensbekenntnis weiter, etwa zehn Mal.

Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl blickt ihn streng an, reagiert aber ungewohnt mild. „Herr Yozgat, wir können hier nicht fortsetzen, setzen Sie sich bitte hin.“ Der Vater steht immer noch. Götzl mahnt, „sonst muss ich Maßnahmen gegen Sie ergreifen. Was ich nicht möchte.“

Der Richter und der Vater – die Szene sagt nicht nur viel über den Schmerz, den die Opfer des NSU-Terrors spüren und nicht verwinden können. Was sich in der halben Minute im Oberlandesgericht München abspielt, zeigt auch noch einmal, dass Götzl trotz seiner stählernen Mentalität, seiner in mehr als fünf Jahren ungebrochenen Dominanz in diesem Jahrhundertverfahren, auch ein Mensch ist mit Mitgefühl. Einen randalierenden Neonazi hätte Götzl wohl hinauswerfen lassen. Ismail Yozgat darf bleiben. Sein Leid lässt den Richter nicht unberührt.

Für Manfred Götzl ist der NSU-Prozess der fulminante Schlussakt seiner Laufbahn. Der Richter mit dem strengen Blick, den seine randlose Brille noch verschärft, ist mit seinen 64 Jahren nicht mehr weit von der Pensionierung entfernt. Er hat den größten Terrorprozess seit der Wiedervereinigung geprägt wie kein anderer. Manfred Götzl, der Mann auf den sich am Mittwoch alle Augen richten, ist zur juristischen Symbolfigur für eine wehrhafte Demokratie geworden. Immer war Götzl Herr des Verfahrens, oft behutsam, teils mitfühlend, häufig streng. Er kann flexibel sein. Weich ist er nie.

Nahezu mechanisch verkündet er am Mittwochvormittag das Urteil. Beate Zschäpe sei schuldig „des Mordes in zehn Fällen“, der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, des versuchten Mordes in 32 Fällen, der gefährlichen Körperverletzung in 23 Fällen, einer schweren Sprengstoffexplosion, des besonders schweren Raubes in zehn Fällen – so geht es weiter, Götzl rattert die Delikte herunter, alle Prozessbeteiligten, die Zuschauer und Journalisten hören stehend zu. Zschäpe verzieht keine Miene.

Zschäpe bleibt regungslos

Dann folgen die Schuldsprüche für die vier Mitangeklagten. André E. sei schuldig der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, im Weiteren „wird er freigesprochen“. Holger G. sei schuldig der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung in drei Fällen. Ralf Wohlleben sei schuldig der Beihilfe zum Mord in neun Fällen. Carsten S. ebenso.

Götzl blickt Zschäpe an und verkündet ihr lebenslängliche Haft, „die Schuld wiegt besonders schwer“. Damit kann die Hauptangeklagte nicht nach frühestens 15 Jahren auf Bewährung freikommen. Auf Sicherungsverwahrung verzichtet das Gericht und bleibt damit unter dem Antrag der Bundesanwaltschaft.

Zschäpe bleibt regungslos. Götzl kommt zu André E. – und spricht von zweieinhalb Jahren Haft. Die Bundesanwaltschaft hatte zwölf Jahre gefordert.

E. lacht, auf der Tribüne klatscht einer aus dem Trupp der Rechtsextremisten, die zum Urteil gekommen sind. Sofort interveniert Götzl mit einer Mahnung.

Den Neonazis ist es egal. Sie haben ihren Auftritt. Alle tragen schwarze Hemden. André E. und Ralf Wohlleben auch. Ihre Ehefrauen, die als Beistand neben den beiden Angeklagten sitzen dürfen, sind auch schwarz gekleidet.

Die Richter bestrafen E. für ein vergleichsweise läppisch wirkendes Delikt. Er hatte Zschäpe und Böhnhardt je eine Bahncard verschafft. Andere, erheblich schwerere Tatvorwürfe der Bundesanwaltschaft ließen sich nicht beweisen. André E. profitiert offenbar davon, das ganze Verfahren über geschwiegen zu haben. So war nicht zu belegen, dass er Wohnmobile für Böhnhardt und Mundlos in dem Wissen mietete, dass die Fahrzeuge für Raubüberfälle und den ersten Sprengstoffanschlag in Köln genutzt wurden. Wofür der NSU die Bahncards nutzte, sagt Götzl nicht. Er spekuliert nicht. Es reicht, dass die beiden Dokumente die Bewegungsfreiheit der Terrorzelle erhöhten.

Dokumente, überlassen von einem Angeklagten, der am 114. Verhandlungstag mit einem Kapuzenpullover erschien, auf dem eine vermummte Figur eine Maschinenpistole und ein Sturmgewehr in den Händen hält. Auf den Ärmeln stand „Satanic Warmaster“, der Name einer rechtsextremen Band, und der Titel ihres Songs „Black Metal Kommando“. Im Text fordert die Gruppe, Juden zu verbrennen.

Ein Angeklagter, auf dessen Bauch der Schriftzug „Die Jew Die“ – Stirb Jude stirb – tätowiert ist. Und über den sein Verteidiger im Prozess sagte: „Mein Mandant ist Nationalsozialist, der mit Haut und Haaren zu seiner politischen Überzeugung steht.“

Auch Wohlleben wird nicht so hart bestraft, wie es die Bundesanwaltschaft wollte. Zehn statt zwölf Jahre verkündet Götzl dem Mann, der die Beschaffung der Mordwaffe Ceska 83 dirigierte. Da Wohlleben, ehemals Vizechef der Thüringer NPD, schon seit mehr als sechseinhalb Jahren in Untersuchungshaft sitzt, könnte er bei guter Führung in absehbarer Zeit die JVA verlassen.

Carsten S. - im Zeugenschutzprogramm

Im Prozess hatte Wohlleben lange geschwiegen. Erst als Zschäpe im Dezember 2015 mit ihrer Einlassung begann, redete auch er. Selbst. Seine Ehefrau sah auch damals an seiner Seite. Wohlleben bestritt die Vorwürfe der Bundesanwaltschaft, aber ihm war etwas anderes mindestens genauso wichtig. „Hier stelle ich klar, dass ich schon Mitte der neunziger Jahre nichts gegen Ausländer, sondern etwas gegen die Politik hatte, die solche Zustände, das heißt den massenhaften Zuzug von Ausländern nach Deutschland, förderte“, sagte er.

Carsten S., der im Prozess gestanden hat, Böhnhardt und Mundlos die Ceska gebracht zu haben, bekommt drei Jahre Jugendstrafe. Zur Tatzeit im Frühjahr 2000 war S. noch Heranwachsender. Im Prozess hatte er Reue gezeigt – und dann, am 8. Verhandlungstag, unter Tränen über etwas berichtet, was nicht einmal die Bundesanwaltschaft wusste.

Mundlos und Böhnhardt hätten ihn bei einem Treffen in Chemnitz „spektakulär“ erzählt, „dass die in Nürnberg in einem Laden eine Taschenlampe hingestellt haben“. Was Carsten S. schilderte, war ein dritter Sprengstoffanschlag des NSU, zusätzlich zu den beiden Explosionen in Köln, bislang der Terrorzelle von niemandem zugerechnet. Der Saal erstarrte.

Schnell stellte sich heraus, dass Carsten S. die Wahrheit gesagt hat. Im Juni 1999 detonierte in einem türkischen Lokal in Nürnberg eine mit Sprengstoff gefüllte Taschenlampe. Der Wirt erlitt schwere Verletzungen. Mit der grausigen Geschichte hat Carsten S. seine Glaubwürdigkeit untermauert. Er zahlte dafür schon vor dem Urteil einen hohen Preis. Carsten S. befindet sich seit Jahren im Zeugenschutzprogramm des BKA.

Der fünfte Angeklagte, Holger G. erhält drei Jahre Haft. Er hatte dem NSU einen Reisepass, einen Führerschein und eine AOK-Karte verschafft. Im Prozess legte er ein Geständnis ab. Danach sagte Holger G. bis zur vergangenen Woche nichts mehr. Er räkelte sich in den fünf Jahren in seinem Stuhl, gähnte, schrieb ab und zu etwas in seinen Schreibblock. Als letzte Worte äußert er am 437. Tag eine hastige Entschuldigung „bei den Hinterbliebenen“. Holger G., so scheint es, hat sich im Gerichtssaal mehr als fünf Jahre gelangweilt.

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Wie Götzl die lange Urteilsbegründung verliest, wie er vor allem Zschäpe ihre Beteiligung an den Taten buchstabiert, wirkt der Richter wie ein etwas gealterter Roboter. Mit zunehmend heiserer Stimme hakt er ein Detail nach dem anderen ab. Ab und zu schaut er die Angeklagten kurz an.

Bei jeder Tat des NSU betont er, sie sei „in bewusstem und gewollten Zusammenwirken“ mit Zschäpe erfolgt. Die Morde, die Sprengstoffanschläge, die Raubüberfälle. Als Beispiel für die Teilnahme Zschäpes an der Ausspähung potenzieller Anschlagsziele nennt Götzl die von einem Polizisten bezeugte Anwesenheit der Frau im Jahr 2000 in Berlin, in der Nähe der Synagoge in der Rykestraße. Zschäpe hat im Prozess zugegeben, mit Böhnhardt und Mundlos in die Stadt gereist zu sein. An einen Aufenthalt bei dem jüdischen Gotteshaus konnte oder wollte sie sich nicht erinnern.

Gewaltige Schar von Verteidigern und Anwälten

Götzl seziert auch die Behauptungen Zschäpes zum Brand in Zwickau. Die Frau hatte am 4. November 2011 nach der Selbsttötung ihrer Kumpane in Eisenach die gemeinsame Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße angezündet. Dass Zschäpe sich vergewissert habe, im Haus halte sich niemand auf, sei „nicht glaubhaft“, sagt Götzl. Er blickt Zschäpe an. Sie dreht sich zu ihrem Anwalt Hermann Borchert und flüstert ihm ins Ohr.

Für den Richter und seine Kollegen gibt es eine klare Linie von Zschäpes Aktivitäten in der rechten Szene vor dem Abtauchen hin zu den Verbrechen in der Illegalität. Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos hatten in den 1990er Jahren in Jena mit Bombenattrappen provoziert. Die drei tauchten ab, als die Polizei am 26. Januar 1998 die von Zschäpe gemietete Garage durchsuchte – und halbfertige Rohrbomben fand. Ende 1998, sagt Götzl, hätten die drei im Untergrund beschlossen, Raubüberfälle zu begehen. Und als „Vereinigung“ Migranten anzugreifen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Und um den Staat vorzuführen, der seine Bürger nicht schützen könne.

In den mehr als fünf Jahren NSU-Prozess hat Götzl einer gewaltigen Schar von Verteidigern und Nebenklage-Anwälten seine Regie, nun ja, mehr aufgezwungen als nahegebracht. Vor allem mit Zschäpes Verteidiger Wolfgang Heer lieferte er sich Debatten. Heer störte vor allem, dass Götzl mehrmals Zeugen, die sich nicht erinnern wollten oder konnten, ihre früheren Angaben bei der Polizei nahezu vollständig vorhielt. Der jungenhaft wirkende Heer gegen den kantigen Patriarchen Götzl – das war eines der häufigsten Duelle im Prozess. Und meist setzte Götzl sich durch. Wenn ihm Heer oder ein anderer Anwalt zu aufmüpfig erschien, setzte er eine Pause an und verschwand mit wehender Robe und seinen Kollegen durch die Tür hinter dem Richtertisch.

Als Fauxpas erwies sich die Zulassung der Nebenklägerin „Meral Keskin“. Im Oktober 2015, nach mehr als 230 Verhandlungstagen, kam heraus, dass dieses angebliche Opfer des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße nicht existiert – und der vom Staat bezahlte Nebenklage-Anwalt „Meral Keskins“ zu Unrecht viel Geld eingesteckt hatte. Götzl hätte die Blamage vermeiden können. Die Bundesanwaltschaft hatte ihn gewarnt, als er kurz vor dem Prozess dem Antrag des Anwalts auf Zulassung zum Verfahren stattgab. Doch nachhaltig beschädigt wurde Götzl dadurch nicht.

Die Verteidiger Zschäpes, Wohllebens und zuletzt auch die von André E. überzogen den Richter und seine Kollegen mit Dutzenden Befangenheitsanträgen. Vergeblich. Götzl meisterte auch die vermutlich härteste Herausforderung. Als Zschäpe sich im Sommer 2015 mit Wolfgang Heer und den Co-Verteidigern Wolfgang Stahl und Anja Sturm überwarf, hätte der Prozess platzen können. Eine Hauptangeklagte, die ihre Anwälte vehement ablehnt, kann geltend machen, nicht mehr ordnungsgemäß verteidigt zu werden. Dass Zschäpe selbst einen neuen Verteidiger präsentierte, den jungen, unerfahrenen Münchner Anwalt Mathias Grasel, entschärfte das Problem nicht.

Hätte Götzl die drei Altverteidiger durch Grasel ersetzt, wäre er das Risiko eingegangen, dass der neue Anwalt behauptet hätte, Zschäpe werde erst durch ihn angemessen verteidigt – und die mehr als zwei Jahre zuvor eben nicht. Das hätte ein Revisionsgrund sein können.

Götzl bleibt sich treu

Er ließ Grasel als Pflichtverteidiger zu und zwang gleichzeitig Heer, Stahl und Sturm, im Prozess zu bleiben. Die genervten drei Anwälte, wie auch Zschäpe selbst, verlangten mehrmals ihre Entpflichtung, doch Götzl blieb stur. Jedesmal beschied er den Altverteidigern und ihrer Mandantin, eine „nachhaltige Erschütterung des Vertrauensverhältnisses“ könne „nicht nachvollzogen werden“. Obwohl nicht zu übersehen war, dass Zschäpe nur mit Grasel kommunizierte. Heer, Stahl und Sturm verzweifelten. Es scherte Götzl nicht. Die drei waren zur Sicherung des Verfahrens notwendig und hatten sich zu fügen.

Von 1983 an war Götzl als Staatsanwalt tätig. Als er 1999 Vorsitzender Richter am Münchner Landgericht wird, gilt er bald als harter Hund, dem auch die ganz großen Verfahren zugetraut werden. 2005 verurteilt er mit seiner

Kammer den Mörder des exzentrischen Münchner Modedesigners Rudolph Moshammer zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Götzl verkündet auch damals die besondere Schwere der Schuld.

Als er 2010 zum Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht avanciert und den Staatsschutzsenat übernimmt, bleibt Götzl sich treu. Ein Grund mehr für die Bundesanwaltschaft, ihre Anklage in dem monströsen, aber auch heiklen NSU-Verfahren beim Strafsenat eines Richters zu erheben, der weder gegenüber unpolitischen Kriminellen noch bei Extremisten und Terroristen für besondere Nachsicht bekannt ist.

Vermutlich wird Götzl nicht mehr im Gericht, sondern vom Ruhestand aus beobachten, wie der Bundesgerichtshof über die Revisionsanträge aus dem NSU-Prozess entscheidet. So agil und penibel Götzl als Vorsitzender Richter agiert hat, wäre es für ihn vermutlich nur schwer zu verwinden, die Richter in Karlsruhe würden auch nur ein Detail des Münchner Urteils zurückweisen. Die Erfahrung hat Götzl schon machen müssen. Das Urteil, das er 2009 gegen einen Studenten verkündete, der sich mit einem Messer gegen fünf Albaner gewehrt hatte, hob der Bundesgerichtshof zum Teil auf. Die Strafe von drei Jahren und neun Monaten trotz Notwehr war den Richtern zu hoch. Ein Hoffnungszeichen für Beate Zschäpe?

Als Götzl kurz vor 15 Uhr fast durch ist und einen letzten Beschluss verkündet, gibt es einen Eklat – und es zeigt sich, dass auch dieser eiserne Richter nicht mehr kann und nur noch fertig werden will. Götzl nuschelt heiser, die Untersuchungshaft für André E. werde aufgehoben, sofort jubeln die Neonazis auf der Tribüne, „Bravo!“, wildes Geklatsche. Noch eine Stunde zuvor hätten die Rechtsextremen wohl den Saal verlassen müssen. Doch Götzl mahnt nur noch, „seien Sie bitte ruhig“.

Dann folgen die letzten Sätze. Götzl verabschiedet sich von den Verfahrensbeteiligten und den Zuschauern. Und er dankt „allen, die mit ihrem Einsatz die 438 Tage möglich gemacht haben“. Gemeint sind offenbar vor allem die Polizisten und die Justizwachtmeister und weitere Angestellte des Gerichts. „Damit ist die Hauptverhandlung geschlossen.“ Es klingt, als wolle Götzl sagen: jetzt ist es auch für mich endlich vorbei.

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