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Schriftliches Urteil im NSU-Verfahren: Ein Schuldspruch auf mehr als 3000 Seiten

93 Wochen nach der Verkündung des Urteils im NSU-Prozess legen die Richter die schriftlichen Urteilsgründe vor. Das Verfahren geht in die nächste Runde.

Darauf haben die Bundesanwaltschaft und die meisten Angeklagten im NSU-Verfahren lange gewartet. Der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München hat mehr als 21 Monate nach dem mündlichen Urteil gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Komplizen die schriftliche Fassung des Richterspruchs vorgelegt. Das gab am Dienstag der Sprecher des OLG in einer kurzen Pressemitteilung bekannt. Das Urteil umfasse 3025 Seiten "und wurde heute zu den Akten genommen". Die Zustellung der Urteilsgründe "an die revisionsführenden Verfahrensbeteiligten wird in Kürze erfolgen". Nun beginnt eine weitere Etappe des gewaltigen Verfahrens zu den Verbrechen der Terrorzelle NSU.

Die Verteidiger haben nur einen Monat, ihre Revision zu begründen

Bundesanwaltschaft und Verteidiger haben jetzt einen Monat Zeit, das Urteil zu analysieren und die Begründung für die gleich nach dem Richterspruch im Juli 2018 eingelegte Revision fertigzustellen. Dann werden die Schriftsätze dem Bundesgerichtshof in Karlsruhe geschickt. Der 6. Strafsenat hingegen konnte eine Frist von 93 Wochen nach der Verkündung des Urteils nutzen. Und hat sie bis zum vorletzten Tag auch in Anspruch genommen. Die 93 Wochen ergeben sich aus einer gestaffelten Berechnung auf Basis der 438 Tage, an denen in München die schweren Vorwürfe gegen die Angeklagten Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger G. und Carsten S. verhandelt wurden.

Zschäpes Verteidigerin Anja Sturm bedauert die Diskrepanz zwischen der enormen Frist, die der 6. Strafsenat nutzen konnte, und den vier Wochen für die Begründung der Revision durch die Verteidiger. "Wir würden uns natürlich wünschen, mehr Zeit zu haben", sagte Sturm am Dienstag dem Tagesspiegel. Es bleibe zu hoffen, dass der Gesetzgeber allgemein in Bezug auf derartige Verfahren eine andere Regelung herbeiführe. Diese sollte die Möglichkeit eröffnen, dass die Frist für die Begründung der Verfahrensrügen in ein adäquates Verhältnis zur Verfahrensdauer gesetzt werde.

Zschäpe bekam lebenslange Haft

Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hatte am 11. Juli 2018, mehr als fünf Jahre nach Prozessbeginn, teils harte, teils milde Strafen verkündet. Zschäpe erhielt wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und der damit verbundenen Mittäterschaft bei den zehn Morden, zwei Sprengstoffanschlägen und 15 Raubüberfällen ihrer Kumpane Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos lebenslange Haft. Zschäpe hatte zudem nach der Selbsttötung von Böhnhardt und Mundlos am 4. November 2011 die gemeinsame Wohnung in Zwickau in Brand gesetzt. Der Strafsenat bescheinigte der Angeklagten angesichts der vielen Verbrechen eine besondere Schwere der Schuld. Sollte der Bundesgerichtshof das Urteil bestätigen, könnte Zschäpe nicht nach 15 Jahren auf Bewährung das Gefängnis verlassen. Die Verteidiger hatten bestritten, dass Zschäpe an den Verbrechen von Böhnhardt und Mundlos beteiligt war und forderten, die Mandantin freizulassen. Zschäpe sitzt seit November 2011 in Untersuchungshaft.

Ralf Wohlleben konnte trotz hoher Strafe das Gefängnis verlassen

Der Angeklagte Ralf Wohlleben bekam zehn Jahre Haft. Die Richter halten es für erwiesen, dass der Rechtsextremist im Frühjahr 2000 gemeinsam mit dem Angeklagten Carsten S. dem NSU die Pistole Ceska 83 beschaffte. Mit der Waffe erschossen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos neun Migranten türkischer und griechischer Herkunft. Wohlleben kam in der Woche nach dem Urteil frei. Er hatte seit November 2011 in Untersuchungshaft gesessen. Die mehr als sechseinhalb Jahre werden auf die Haftstrafe angerechnet. Auch wenn sie noch nicht rechtskräftig ist, entließen die Richter angesichts der mutmaßlich nicht mehr hohen Reststrafe Wohlleben aus dem Gefängnis. Der Neonazi lebt jetzt in Sachsen-Anhalt und gilt in der rechtsextremen Szene als unbeugsamer „Kamerad“. Im Prozess hatte Wohlleben alle Vorwürfe bestritten und sich zu seiner rechtsextremen Weltanschauung bekannt.

Carsten S. hat als einziger die Revision zurückgenommen

Carsten S., der im Prozess als einziger Angeklagter ein umfassendes Geständnis abgelegt und Reue gezeigt hatte, bekam drei Jahre Jugendstrafe. Die Richter hielten ihm auch zugute, dass er zum Zeitpunkt der Beschaffung der Ceska 83 erst 20 Jahre alt war. Das Urteil ist inzwischen rechtskräftig. Carsten S. nahm die Revision im Januar 2019 zurück. „Mein Mandant wollte die Sache hinter sich bringen“, sagte ein Verteidiger. Carsten S. hatte zudem 2012 schon vier Monate in Untersuchungshaft verbracht. Der ehemalige Rechtsextremist befindet sich auch im Gefängnis im Zeugenschutz, da er Ralf Wohlleben schwer belastet hatte. Die Sicherheitsbehörden befürchten einen Racheakt der rechten Szene. 

Einen weiteren Unterstützer des NSU, Holger G., verurteilte der Strafsenat ebenfalls zu drei Jahren Haft. Holger G. hatte zu Beginn des Prozesses zugegeben, Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe unterstützt zu haben. Er besorgte unter anderem für Böhnhardt einen Führerschein und einen Reisepass. Da G. bereits ein halbes Jahr in Untersuchungshaft gesessen hatte, blieb er nach dem Richterspruch auf freiem Fuß. 

Bundesanwaltschaft akzeptiert mildes Urteil für André Eminger nicht

Nur im Fall des Angeklagten André Eminger hat nicht nur die Verteidigung, sondern auch die Bundesanwaltschaft Revision eingelegt. Die Ankläger sind nicht damit einverstanden, dass die Richter gegen den Neonazi nur zweieinhalb Jahre Haft verhängten. Eminger, der als einziger Angeklagter hartnäckig geschwiegen hatte, kam noch am Tag des Urteils frei. Die Neonazis im Publikum jubelten. Die Bundesanwaltschaft hält Eminger für einen langjährigen Vertrauten des NSU und fordert zwölf Jahre Haft. Die Verteidiger Emingers legten trotz der niedrigen Strafe auch Revision ein - weil es die Bundesanwaltschaft in ihrem Fall ebenfalls tat. 

Von den Nebenklägern war nur eine Opferfamilie berechtigt, Revision einzulegen – und verzichtete. Im Januar 2001 war in dem Lebensmittelgeschäft der aus dem Iran stammenden Nebenkläger in der Kölner Probsteigasse eine Bombe explodiert. Einer der NSU-Terroristen, entweder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, hatte den Sprengsatz im Dezember 2000 in dem Laden abgestellt. Bei der Explosion wurde eine Tochter des Betreibers schwer verletzt und der Laden zum Teil verwüstet. Die Familie hätte gegen das milde Urteil für André Eminger Revision einlegen können. Der Strafsenat verurteilte den Neonazi nicht wegen Beihilfe zum versuchten Mord, dieses Delikte wirft ihm die Bundesanwaltschaft in der Anklage vor. Die Richter sahen es aber als nicht erwiesen an, dass Eminger wusste, ein von ihm  gemietetes Wohnmobil würden  Böhnhardt und Mundlos für die Fahrt zum Anschlag in Köln nutzen. Die Opferfamilie resignierte nach dem mehr als fünfjährigen Prozess. Die anderen Nebenkläger im NSU-Verfahren haben kein Recht auf Revision, da der Strafsenat Beate Zschäpe und drei weitere Angeklagte von der Sache her so verurteilte, wie es in der Anklage der Bundesanwaltschaft stand.

In Karlsruhe wird es eine mündliche Verhandlung geben

Wann sich der Bundesgerichtshof mit der Revision im NSU-Verfahren befasst, ist unklar. Vermutlich wird es in Karlsruhe eine mündliche Verhandlung geben. Beate Zschäpe sitzt inzwischen achteinhalb Jahre in Untersuchungshaft. Allerdings nicht mehr in München in der JVA Stadelheim. Anfang 2019 wurde sie nach Chemnitz verlegt. Zschäpe ist dort näher am Wohnort ihrer Mutter, die in Jena lebt. Die beiden Frauen verstehen sich offenbar nach langem Zerwürfnis wieder besser.

Die Bundesanwaltschaft ermittelt zudem noch weiter gegen neun Beschuldigte aus dem Umfeld des NSU. Sie sollen die Terrorzelle unterstützt haben, unter anderem bei der Beschaffung von Waffen. Dass es bei den schon jahrelang anhängigen Verfahren noch zu Anklagen kommt, ist allerdings wenig wahrscheinlich.

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