Der Mord an Walter Lübcke: Und der rechte Terror nimmt kein Ende
Vor einem Jahr wurde der Kasseler Regierungspräsident erschossen. Mutmaßlich von einem Neonazi. Der Nährboden für rechte Gewalt wird breiter.
Der Mord schockte das Land. Das Entsetzen wuchs noch, als der rechtsextreme Hintergrund bekannt wurde. Vor einem Jahr erschoss mutmaßlich der Neonazi Stephan Ernst den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Zwei Wochen nach der Tat nahm die Polizei Ernst fest, wahrscheinlich im Juni beginnt der Prozess am Oberlandesgericht Frankfurt.
Das Attentat ist der erste tödliche Angriff eines Rechtsextremisten auf einen Politiker in der Geschichte der Bundesrepublik. Geradezu exemplarisch zeigt die Tat, wohin der seit der Flüchtlingskrise 2015 hochschäumende Hass im Extremfall führt. Der Anschlag war zudem Auftakt zu einer Serie rechter Attentate, die immer blutiger wurden. Der Terror hält Deutschland in Atem. Und die Gefahr weiterer Radikalisierung wächst in der Coronakrise noch.
Was geschah in der Nacht zum 2. Juni 2019?
Walter Lübcke hatte keine Chance. Der Regierungspräsident saß am späten Abend des 1. Juni auf der Terrasse seines Hauses im nordhessischen Wolfhagen-Istha. Der 65-jährige CDU-Politiker war allein, er hatte sich eine Zigarette anzündet.
Gegen 23.20 Uhr - so rekonstruiert es die Bundesanwaltschaft, die genaue Tatzeit ist nicht ganz klar - schleicht sich der Mörder heran. Er nähert sich Lübcke bis auf knapp zwei Meter und schießt ihm mit einem Revolver in den Kopf. Der Regierungspräsident stirbt noch am Tatort. Die Zigarette in seiner Hand ist nur leicht angebrannt. In der Nacht findet ihn sein jüngerer Sohn.
Wer war Walter Lübcke?
Der joviale, wuchtige Christdemokrat war in der Region Kassel eine dominante Figur - und offenkundig populär. „Er war mit dem halben Regierungspräsidium per Du“, sagte sein Sprecher Michael Conrad dem Tagesspiegel. Lübcke habe „unendlich viel gemacht, er hat gerne getrunken, er hat sich nie geschont, auch am Wochenende nicht“. Für Conrad war sein Chef „ein sehr barocker Mensch“.
Lübcke wurde im Mai 2009 in Kassel Regierungspräsident, zuvor hatte er zehn Jahre im hessischen Landtag gesessen. Im Juni 2019 hätte Lübcke schon pensioniert sein können, doch auf seinen Wunsch hin wurde die Amtszeit verlängert.
„Trotz seiner Karriere war er immer der Walter, der nie abgehoben war“, sagte Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) bei der Trauerfeier in der Kasseler Martinskirche. „Er war beliebt, aber nicht beliebig.“ Lübckes Sarg war mit der hessischen Fahne bedeckt. Zwei Tage später dann der nächste Schock: der Mann, der als Tatverdächtiger festgenommen wird, ist Neonazi.
Wer ist der mutmaßliche Täter?
Für die Bundesanwaltschaft gibt es keinen Zweifel: Stephan Ernst, mehrfach wegen Gewalttaten vorbestrafter Rechtsextremist, Familienvater und Mitglied in einem Schützenverein, hat Lübcke heimtückisch ermordet. Aus rassistisch gefärbtem Hass. Eine DNA-Spur des 46-Jährigen an der Leiche führt zur Festnahme des Rechtsextremisten.
Offenbar hatte sich Ernst nach dem tödlichen Schuss noch zu Lübcke gebeugt und ihn angestoßen. Ernst gesteht erstaunlich rasch den Mord und führt die Beamten zu einem Erddepot, in dem die Tatwaffe liegt, ein Revolver Kaliber 38 der Marke Rossi. Im Versteck sind noch mehr Waffen deponiert, darunter eine Maschinenpistole. Die Ermittler finden schließlich bei Ernst und seinem mutmaßlichen Komplizen Markus H. (44) mehr als 40 Waffen.
Rechte Krakeeler störten eine Rede Lübckes zu Flüchtlingen
Ernst sagt der Polizei, Lübcke sei bei ihm seit Oktober 2015 „auf dem Schirm“ gewesen. Ernst hatte in seinem Heimatort Lohfelden, eine Gemeinde bei Kassel, eine Bürgerversammlung besucht, in der Lübcke über die Unterbringung von Flüchtlingen sprach. Ernst und andere rechte Krakeeler störten mit Zwischenrufen, auf die der Regierungspräsident mit einer klaren Ansage reagierte.
„Es lohnt sich, in unserem Land zu leben“, sagte Lübcke, „da muss man für die Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“
Ernst und die anderen Rechten waren empört. Sie sollten Deutschland verlassen und nicht die Flüchtlinge? Er sei, sagte Ernst der Polizei, „fassungslos“ und „richtig emotional aufgeladen“ gewesen. Und er habe „einen Hass bekommen“. Der nicht nachließ. 2017 und 2018 fuhr Ernst bereits mit einer Waffe zu Lübckes Haus. Im Juni 2019 traute er sich dann offenbar, auf den Politiker zu schießen.
Ernst nahm allerdings sein Geständnis zurück, nachdem er den Anwalt gewechselt hatte. Inzwischen behauptet der Rechtsextremist, am Tatabend mit seinem Kumpan Markus H. zu Lübcke gefahren zu sein, um ihm „eine Abreibung“ zu verpassen. Markus H. soll die Waffe in der Hand gehalten haben, der Schuss habe sich versehentlich gelöst. Die Bundesanwaltschaft hält die Version für unglaubwürdig. Markus H., ebenfalls Rechtsextremist, ist denn auch „nur“ wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.
Hassparolen und gemeinsame Schießübungen
Der Mann soll Ernst in dessen Willen zum Attentat bestärkt haben, mit Hassparolen wie auch gemeinsamen Schießübungen. Markus H. war auch 2015 bei Lübckes Auftritt in der Bürgerversammlung und so wütend wie sein Kumpel Stephan Ernst. Die Bundesanwaltschaft kann allerdings nicht nachweisen, dass Markus H. in den Anschlag auf Lübcke eingeweiht war.
Die beiden Rechtsextremisten sollen indes, wie der "Spiegel" berichtet, in den zehn Wochen vor der Tat über einen verschlüsselten Messengerdienst kommuniziert haben. Zwei Tage nach dem Mord an Lübcke soll Stephan Ernst 250 Datensätze gelöscht haben. Auch auf dem Handy von Markus H. fanden die Ermittler nichts mehr.
Ernst soll auch einen Iraker niedergestochen haben
Entdeckt wurde auf dem Mobiltelefon jedoch ein abfotografiertes, vertrauliches Papier der hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung zum Thema Fahndung bei "terroristischer Gewaltkriminalität von bundesweiter Bedeutung". Die Ermittler gehen nun dem Verdacht nach, Markus H. könnte Kontakte zur Polizei unterhalten haben.
Was wird Ernst noch vorgeworfen?
Die Bundesanwaltschaft hält Ernst auch einen versuchten Mord an einem Iraker vor. Der Neonazi soll im Januar 2016 in Lohfelden den Flüchtling Ahmad E. von hinten niedergestochen haben. Der Asylbewerber erlitt schwere Verletzungen. Ernst bestreitet die Tat. Doch auch in diesem Fall führte eine DNA-Spur zu dem Neonazi. Die Polizei fand bei ihm ein Klappmesser mit Anhaftungen, die von Ahmad E. stammen.
Welchem Hass war Lübcke ausgesetzt?
Monate zuvor war im Internet der Hass gegen Lübcke wieder nach einem negativen Posting der Ex-CDU-Politikerin Erika Steinbach über den Regierungspräsidenten hochgekocht.
Schon 2015 hatten Rechte im Internet Lübcke mit Beschimpfungen wie „Volksverräter“ und Morddrohungen eingedeckt. Nach dem Attentat kam die nächste Hasswelle, im Internet und auf der Straße. Im Netz wurde Lübcke als „Drecksau“ geschmäht, bei einem Pegida-Marsch in Dresden danna als „Volksverräter“. Ein Demonstrant rechtfertigte den Mord als „eigentlich bald eine menschliche Reaktion“.
Wie ist der Terror weiter eskaliert?
Der Mord an Lübcke war eine Zäsur. Siebeneinhalb Jahre nach dem Ende des NSU begann die nächste Serie tödlicher Attentate. Im Oktober 2019 attackierte der schwer bewaffnete Judenhasser Stephan Balliet die Synagoge in Halle. Als er in das verschlossene Gotteshaus, in dem 52 Menschen um ihr Leben bangten, nicht eindringen konnte, erschoss Balliet zwei Passanten.
Im Februar 2020 feuerte in Hanau der Rassist Tobias Rathjen in zwei Shishabars auf Menschen mit Migrationshintergrund. Acht Männer und eine Frau starben. Anschließend tötete Rathjen seine Mutter und sich selbst.
Verfassungsschutz spricht von 13.000 gewaltorientierten Rechtsextremisten
Wie gefährlich ist die rechte Szene?
Das Potenzial für weiteren Terror ist groß. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hält inzwischen 13 000 Rechtsextremisten für „gewaltorientiert“. Das sind 300 mehr als 2018. Das Bundeskriminalamt stuft derzeit 65 Rechtsextremisten als terroristische Gefährder ein.
Ein größeres Risiko stellen auch die zumindest teilweise rechtsextremen Reichsbürgern dar. Sie sind wie Neonazis auf Waffen fixiert. Nach dem NSU hat die Bundesanwaltschaft mehr als ein Dutzend Verfahren gegen rechte Gruppierungen wegen Terrorverdachts eingeleitet. Die meisten wurden rechtzeitig gestoppt. Bei mutmaßlichen Einzeltätern wie Stephan Ernst, Stephan Balliet und Tobias Rathjen gelang das nicht.
Was steht Deutschland bevor?
In den Sicherheitsbehörden wächst die Sorge, dass nach dem Radikalisierungsschub in der Flüchtlingskrise eine weitere Eskalation droht. „Es gibt keinen Grund für Entwarnung, ganz im Gegenteil“, sagen Sicherheitskreise. Die Verschwörungsmythen aus der Flüchtlingskrise, wie die angeblich von Angela Merkel organisierte „Umvolkung“ Deutschlands durch Migranten und Muslime, würden in der Coronakrise ergänzt durch irrationale Angst vor einem angeblich zur Diktatur mutierenden Staat.
„Es ist ein zweites großes Aufregerthema hinzugekommen“, heißt es. Der Mechanismus sei ähnlich riskant wie 2015.
"Der Nährboden für Gewalt wird breiter"
Wieder würden im Internet, vor allem auf alternativen Plattformen, hochemotionale Diskussionen geführt, sagen Sicherheitsexperten. Die Gefahr wachse, dass sich auch jetzt Einzelpersonen oder Gruppen radikalisieren und meinen, sie müssten in der realen Welt etwas tun, bis hin zum Anschlag. „Der Nährboden für Gewalt wird breiter“, ist zu hören.
Sicherheitskreise schildern zwei Risikogruppen. Da wären die Leute, die seit der Flüchtlingskrise radikalisiert sind und sich in der Coronakrise noch mehr aufheizen. Außerdem werden jetzt auch Menschen emotionalisiert, die 2015 ruhig blieben. Die Sicherheitsbehörden bekommen es offenbar mit einem wachsenden Potenzial möglicher Gewalttäter und Terroristen zu tun. Der nächste Attentäter vom Typ Tobias Rathjen könnte ein hochgradig erregter Impfgegner sein, bei dem sich die Wut auf Angela Merkel und den Staat mit der Dämonisierung von Bill Gates zu explosivem Wahn vermischt.
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