Volle Parks und Scharlatane: Der Coronavirus-Kosmos der Unvernünftigen
Sie wollen die Virus-Gefahr nicht wahrhaben, bevölkern weiter Cafés und Spielplätze. Die passenden Theorien dazu liefern ihnen andere.
Am späten Nachmittag neben dem Biergarten Golgatha, am westlichen Rand des Kreuzberger Viktoriaparks. Etwa 30 Kinder laufen noch über den Spielplatz, teilen sich Schaukeln, Wippe und Rutsche. Einige Erwachsene warten am Rand.
Der Mann, dessen Sohn gerade an der Seilbahn ansteht, sagt, er wolle sich nicht verrückt machen lassen von der allgemeinen Panik, er werde sicher auch in den kommenden Tagen herkommen. Denn: „Ich will nicht, dass die Übervorsicht der anderen auf dem Rücken meines Kindes ausgetragen wird.“
Dass alle hier zwangsläufig dieselben Schaukelketten und dieselben Rutschgeländer anfassen, stört ihn nicht.
Auf der anderen Seite des Platzes steht eine junge Frau, sie passt auf ihre Geschwister auf. Optimal sei es hier nicht, sagt sie. „Aber wir können nicht den ganzen Tag zuhause bleiben.“ Und in der eigenen Wohnung sei es ja auch gefährlich, zum Beispiel könnte man ausrutschen und mit dem Kopf gegen eine Wand krachen. Es gebe im Leben immer ein Restrisiko.
Was sie übrigens gar nicht abkönne, seien Leute, die Menschen auf Spielplätzen jetzt voreilig bewerteten, als Leichtsinnige abstempelten. Die Frau sagt: „Die sollen mal nicht so tun, als ob sie immer alles richtig machen würden.“
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Es scheint, als hätten sich in diesen Tagen in Berlin zwei Lager gebildet, die sich unversöhnlich gegenüberstehen: die einen, deutlich in der Mehrheit, die alle Schließungen und Verbote begrüßen. Die auch bereit sind, ihren Alltag noch weiter einzuschränken, wenn es nur der Verflachung der Kurve dient.
Und die anderen, die sich dem widersetzen, weil sie die Sorgen der Mehrheit für übertrieben halten. Sie ziehen den Ärger der Vorsichtigen auf sich. Weil ihr Verhalten Leben gefährdet. Und weil ihre Rücksichtslosigkeit am Ende zu einer Ausgangssperre für alle führen könnte.
Ein Arzt verbreitet sonderliche Theorien
Die einen glauben, dass ein Virus grassiert. Die anderen glauben, das einzige, was grassiert, sei Panik.
Bestärkt fühlt sich die kleinere Gruppe durch vermeintliche Expertenmeinungen wie die des Internisten und Lungenfacharztes Wolfgang Wodarg, der lange Amtsarzt in Schleswig-Holstein war und für die SPD bis 2009 im Bundestag saß. Wodarg verbreitet seit Tagen die Botschaft, die Bundesregierung betreibe „unnötige, fahrlässige Panikmache“. Den Quarantänemaßnahmen und Verboten liege „keine außergewöhnliche medizinische Gefahr zugrunde“, die Situation in den Krankenhäusern sei schließlich vollkommen normal – und es spreche „überhaupt nichts dafür, dass da noch irgendetwas kommen könnte“.
Wodarg kritisiert die Absagen von Messen, die Einschränkung von Reisen, den Ausfall von Fußballspielen, und er weiß angeblich auch, warum die meisten Wissenschaftler und politischen Entscheidungsträger sie gutheißen: Es gehe um finanzielle Interessen!
Die überwältigende Mehrheit derer, die sich seit Wochen mit dem Coronavirus beschäftigen, ist über Wolfgang Wodargs Behauptungen entsetzt. Parteifreund Karl Lauterbach, selbst Epidemiologe, nennt sie „abwegig und wissenschaftlich nicht haltbar, eine echte Räuberpistole“. Auch Christian Drosten, Chefvirologe der Charité, weist sie zurück.
Auftritte auf dubiosen Plattformen
Zur Einordnung, wie ernst Wodargs Theorien zu nehmen sind, hilft womöglich ein Blick darauf, in welchem Umfeld er seine Meinungen verbreitet. Wolfgang Wodarg hat keine Berührungsängste, auf Plattformen berüchtigter Verschwörungstheoretiker aufzutreten. In der Vergangenheit war er etwa beim rechten Hetzer Alex Jones zu Gast, der glaubt, Barack Obama sei insgeheim ein radikaler Islamist, Amokläufe an Schulen seien bloß von Schauspielern inszeniert.
Diese Woche verbreitete Wodarg seine Corona-Thesen in einem Interview mit Ken Jebsen. Auch dieser ist für krude Verschwörungstheorien bekannt, behauptete etwa öffentlich, Israel begehe seit 40 Jahren Völkermord, Ziel des jüdischen Staats sei nichts weniger als die „Endlösung“. Gegenüber Jebsen versicherte Wodarg, es liege schlicht keine besondere Erkrankungswelle vor: „Es ist so wie in jedem Jahr.“ 250 000 Menschen haben das Video bereits gesehen.
Donnerstagnachmittag im Park am Gleisdreieck. Die Vernünftigen sind auch hier in der Überzahl. Spaziergänger machen Bögen umeinander, der Mindestabstand auf den Bänken beträgt geschätzte fünf Meter. Nur in der Ecke bei den Sportanlagen hält sich keiner an irgendwas. Die Skatebahn, beide Basketballfelder und der Bolzplatz sind voll. Die sechs Jugendlichen, die unter einem der Körbe spielen, wiegeln ab. „Wir sind alle gesund“, sagt einer. Woher er das weiß? „Na sieht man doch!“
Die Gespaltenheit der Deutschen zeigt sich auch in der Art, sich zu informieren. Einerseits scheint die Nachfrage nach verlässlichen, von etablierten Institutionen geprüften Nachrichten gestiegen zu sein. Davon konnte etwa der Öffentlich-rechtliche Rundfunk profitieren. Die Tagesschau erreicht mittlerweile 17 Millionen Zuschauer, sieben Millionen mehr als sonst, das entspricht einem Marktanteil von fast 60 Prozent.
Andererseits verbreiten sich auch die Sichtweisen von Esoterikern und Verschwörungsgläubigen. In Deutschland kursieren mittlerweile hunderte Mails und Videos, in denen Nutzer absurde Theorien verbreiten. Mal wird behauptet, statt dem Coronavirus sei in Wahrheit Strahlung durch das 5G-Mobilfunknetz für alle Symptome verantwortlich. Mal heißt es, das Toilettenpapier der Discounter sei systematisch mit dem Virus kontaminiert.
Der Schamane rät zu Atemübungen
Über Whatsapp verbreitet sich auch die Nachricht eines spanischen Schamanen, der als bestes Mittel gegen Corona yogische Atemübungen empfiehlt. Zudem rät er, „dass Sie Ihre Lichthülle täglich aktivieren und sich mit Sätzen wie ,I Am Presence‘ stark machen, um die Perfektion unseres Körpers und die Verteidigung gegen negative oder räuberische Kräfte aufrechtzuerhalten.“
Manche Vertreter alternativer Wahrheiten trauen in diesen Tagen ihren eigenen Überzeugungen nicht. Eine für diesen Sonnabend in der Münchner Innenstadt geplante Großdemonstration von Impfgegnern – von denen einige die Existenz jeglicher Viren bestreiten – ist vorsichtshalber abgesagt worden.
Auch esoterisch orientierte Heilpraktiker halten sich derzeit bedeckt. Das müssen sie allerdings auch, ihnen ist es laut Infektionsschutzgesetz verboten, die Erkrankung durch das Coronavirus zu diagnostizieren oder gar zu behandeln – beides ist Ärzten vorbehalten. Wer es doch tut, begeht eine Straftat.
In den USA propagieren christliche Fundamentale absurde Mittel gegen Corona. Prediger wie der Evangelikale Rodney Howard-Browne laden zu Massengottesdiensten in Kirchen, fordern Gläubige auf, sich dem Rat der Mediziner zu widersetzen und einander die Hände zu reichen. Die Kirche, so Howard-Browne, sei schließlich der sicherste Ort auf Erden, unter Gottes Obhut könne nichts schlechtes geschehen. Ohnehin stecke hinter den Warnungen vor Corona bloß der Versuch, Menschen zu tödlichen Impfungen zu überreden, um so die Weltbevölkerung systematisch zu reduzieren.
Ein US-Fernsehprediger verteilte per Gedankenübertragung einen mentalen Impfstoff an alle Gläubigen. Diese, erklärte er, seien nun gleichermaßen vor Corona und Satan geschützt.
Im indischen Delhi trafen sich mehrere hundert Hindus, um gemeinsam ein Getränk einzunehmen, das im Wesentlichen aus Kuh-Urin bestand. Nur so könne eine Infektion jetzt noch verhindert werden.
Iranische und türkische Medien verbreiten, das Virus sei eine Erfindung von Juden. Auf dem populären türkischen Fernsehsender „A Haber“, der über Satellit auch in Deutschland empfangen werden kann, wird etwa behauptet, bei Corona handele es sich um eine Biowaffe, die gezielt gegen Kritiker Israels eingesetzt werde. So solle die Welt neu geordnet, die Erdenbevölkerung dezimiert werden.
Auch deutsche Rechtsextremisten sind sich sicher, dass Juden hinter dem Corona-Virus stecken. Als Beleg dafür wird etwa die Nachricht angesehen, israelische Wissenschaftler arbeiteten intensiv an einem Impfstoff. Na klar: Wer das Virus erfunden habe, könne jederzeit auch einen Impfstoff herbeizaubern.
In der AfD wollen sich einige ebenfalls nicht in Panik versetzen lassen. Der Berliner Abgeordnete Andreas Wild freute sich Dienstagabend über eine gut gefüllte Parteiveranstaltung in Lichterfelde. Dass die Gegendemonstranten ihren Protest coronabedingt absagten, kam ihm gelegen. Andreas Wild twitterte: „Antifa kniff feige.“