Debatte um Anti-Corona-Maßnahmen: Was bringen Ausgangssperren für die Bevölkerung wirklich?
Ausgangssperren sind ein eindeutiges Signal an die Bevölkerung. Harte Evidenz dazu, was sie bringen, gibt es jedoch nicht.
In der chinesischen Provinz Hubei wurden fast zeitgleich mit den Schulschließungen und Versammlungsverboten auch Ausgehsperren verhängt. Ganze Regionen wurden abgeriegelt, die Leute mussten in ihren Wohnungen bleiben, Lebensmittel wurden geliefert. Mit ähnlichen Maßnahmen versucht nun auch Norditalien, wo die Zahl der schwer Erkrankten längst die Kapazitätsgrenze der Krankenhäuser überschritten hat, die exponentielle Zunahme der Infektionsfälle zu stoppen.
Zwar dürfen die Menschen dort noch Einkaufen gehen, doch außer den Supermärkten und Lebensmittelläden darf kein Geschäft öffnen. Die Frage, ob das wirksam ist, oder ob das wirksam genug ist, als dass es eine so drastische, in die individuellen Rechte eingreifende Maßnahme rechtfertigen würde, lässt sich nicht eindeutig beantworten – weder mit Ja noch mit Nein.
Das hat den Grund, dass es kaum harte Evidenz dafür gibt, also aussagekräftige Studien oder über Modellrechnungen hinausgehende Informationen. Was es gibt, sind historische Berichte. Dazu gehören Auswertungen von Informationen über teils weit, bis zur „Spanischen Grippe“ von 1918 zurückreichende Ausbrüche, aber auch die sehr frischen Erfahrungen aus der aktuellen Covid-19-Pandemie.
Sicher ist die Influenza-Pandemie von 1918 nicht 1:1 vergleichbar mit der heutigen Covid-19-Pandemie. Doch es ist die ähnlichste globale virale Bedrohung und das Wissen darüber kann helfen. In 15 von 17 untersuchten US-Städten entschieden sich Entscheidungsträger damals für Versammlungsverbote, Schul-, Kirchen- und Tanzlokalschließungen, sechs ergriffen Maßnahmen gegen Menschenansammlungen im öffentlichen Nahverkehr, elf schränkten sogar private Beerdigungen ein.
In Wuhan, Südkorea und Italien gelang es, die Übertragungsrate zu drücken
Der Harvard-Epidemiologe Marc Lipsitch und Kollegen, die die Wirksamkeit dieser Maßnahmen in einer Studie im Fachblatt „PNAS“ 2007 abschätzten, schreibt, dass die “frühe Implementierung” dieser Maßnahmen mit “geringeren Todesraten” einherging, aber „keine einzelne der Maßnahmen allein“ einen signifikanten Effekt auf den Verlauf der Pandemie hatte.
Die Schlussfolgerung, oder vielmehr die aus den Erfahrungen formulierte Hypothese der Forscher ist: Nur die schnelle Umsetzung mehrerer, wenn nicht aller verfügbaren Maßnahmen zur Einschränkung der sozialen Kontakte von Menschen kann die Ausbreitung der Viren hinreichend verlangsamen.
Die Erfahrungen aus Wuhan, Südkorea und Italien sprechen dafür, dass an dieser Hypothese etwas dran ist. Dort gelang es mit Abriegelungen ganzer Regionen, Ausgehsperren für alle mit Ausnahme wichtiger persönlicher oder Arbeitsgründe, Schließung von Schulen, Bars, Restaurants und praktischer aller öffentlichen Plätze die Übertragungsrate so weit zu drücken, dass im Durchschnitt ein Infizierter höchstens noch einen anderen Menschen anstecken kann. Erst dann ist die exponentielle Ausbreitung des Virus gestoppt.
Den Luxus, erst abzuwarten, welche dieser Maßnahmen den Hauptanteil an diesem Effekt hat und welche man womöglich weglassen könnte, haben wir nicht. Weil wir es nicht wissen. Insofern gilt das Vorsorgeprinzip.
Welche Folgen hätte eine Ausgangssperre?
Das Ausrufen einer Ausgangssperre hätte einen großen Signaleffekt auf die Bevölkerung. Angesichts von Berlins Nachtschwärmern, die sich mangels Bars und Clubs einfach beim Späti versammeln oder unbelehrbaren Konzertbetreibern wie etwa in Cardiff, wäre die Anordnung einer Ausgehsperre ein deutliches Signal an jeden einzelnen, diese Pandemie endlich ernst zu nehmen und verantwortungsbewusst gegenüber Risikogruppen zu handeln.
Doch dass es so kommt, dass die Menschen nach dem Ausrufen einer Ausgangssperre tatsächlich vernünftig reagieren, wie etwa in China und Italien, und nicht aufbegehren, das ist nicht garantiert. Entscheidungsträger gehen ein hohes Risiko ein, gerade in demokratischen, freiheitlichen Gesellschaften, dieses Mittel einzusetzen.
In einem „Pandemic Response Scenario“ diskutierten die Epidemiologen Tara O’Toole und Thomas Inglesby von der Johns Hopkins University in Baltimore 2001 mit Experten und auch Politikern, ob „zwangsweise Isolation und Quarantäne eine gute Idee“ sei.
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Wenn Infektionsexperten Isolationsmaßnahmen für nötig halten und sie empfehlen, dann würde er „dieser Einschätzung sicher vertrauen“, wird Jerome Hauer, ehemaliger Direktor des Notfallmanagements in New York City in dem Manuskript, veröffentlicht im Fachblatt „Public Health Reports“, zitiert: „Die Frage ist aber, können wir das durchsetzen und bis zu welchem Grad? Wie viel Gewalt will man einsetzen, um die Menschen in ihrem Heim zu halten.“
Epidemologe Krause: "Die Menschen sind zu einer Menge bereit, wenn man sie von der Notwendigkeit überzeugt."
Man müsse herausfinden, „wie man freiwillige Isolation und Quarantäne erreichen kann, so dass die Menschen erkennen, dass man es für die Sicherheit aller tut“, entgegnet Michael Osterholm, inzwischen Direktor des Center for Infectious Disease Research and Policy (CIDRAP) an der Universität Minnesota. Die damalige Leiterin des HHS, des US-Bundesgesundheitsministeriums, Margaret Hamburger „würde natürlich in erster Linie das Richtige aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheit tun“. Aber sie sei „genauso besorgt über den politischen Kontext“ und die „nationale Perspektive“.
„Wir, als Nation, würden nicht in der Lage sein, an mehreren Stellen im Land eine Quarantäne auszurufen und durchzusetzen“, so Hamburger. Man müsse darüber nachdenken, wie man die Krankheit sinnvoll eindämmen und kontrollieren könne, und zwar so praktikabel wie möglich und mit beschränkten Ressourcen.
Wie und was auch immer die Verantwortlichen, Politiker, Amtsärzte, Gesundheitsämter, jetzt und in den nächsten Woche entscheiden – das ist alles andere als eine leichte Aufgabe, sagt der Epidemiologe Gérard Krause vom Braunschweiger Helmholtzzentrum für Infektionsforschung. „Ich beneide die Entscheidungsträger um ihren Job nicht“. Doch eines müsse man sich klar machen. „Die Menschen sind zu einer Menge bereit, wenn man sie von der Notwendigkeit überzeugt.“