Schicksal einer Beziehung: Eigentlich liebt Joseph seine Frau
Früher nannte sie ihn Käferchen. Darf man nicht zu ernst nehmen, denkt Joseph. Auch nicht, wenn sie droht, Schluss zu machen mit dieser Scheiße hier auf Erden. Was Kindesmissbrauch und Borderline mit der Liebe machen.
Josef ist jetzt 41 Jahre und 107 Kilo. Ab und zu, wenn nachts um zwei der Wecker lärmt, wundert er sich, dass er noch lebt. Wo er doch, als er ins Bett ging, sich wünschte, nie mehr zu erwachen, aus die Maus. Aber das Leben, sagt Herr Josef bei Gelegenheit, ist kein verdammtes Wunschkonzert. Also zieht er sich an und wankt zum Auto, ein alter Peugeot, 131 000 Kilometer auf dem Zähler, und fährt nach L., nach O., schiebt Zeitungen in fremde Kästen, fünf Stunden lang bei jedem Wetter.
Manchmal schreibt er seinen Namen mit ph, Joseph statt Josef. Sieht besser aus, denkt er. Endlich kommt er nach Hause, sieben Uhr, und findet seine Frau im Bett, am Tisch oder sonst wo. Es geht ihr nicht gut, seit sie Kinder hat, Noah Randy Elmar, 30. April 2012, 48 Zentimeter, 3100 Gramm, und Cherubina Amanda Noemi, 11. März 2015, 46 Zentimeter und 3210 Gramm, blaue Augen, krauses Haar.
Josefs Frau ist 30 und hat ein schönes helles Gesicht. Geht es ihr dreckig, schaut er sie kaum an. Josef setzt sich an den Tisch und schweigt, füllt ein Glas mit M-Budget Citron, 51 Cent die Flasche, eineinhalb Liter, und wartet, dass etwas geschieht.
Manchmal holt sie eine Klinge und zieht sie durch ihr Fleisch. Das tat sie schon, weiß Josef, vor seiner Zeit.
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Früher nannte sie ihn Käferchen
Am Abend des 30. April 2007 fuhr er zu ihr nach B., Josef kam eine Stunde zu spät, um sieben statt um sechs, weil er unterwegs einen Zug fotografierte, den er noch nie gesehen hatte, den Neigezug Harald Szeemann, Nr. 500043-5, 21.04.05 neu ab Werk, Josef blieb über Nacht, die Frau sagte, er sei ein Lieber.
Manchmal sitzt sie am Tisch, Tassen darauf, Papiere, Spielzeug, Tabletten, sie heult und hört erst auf, wenn die Arme bluten. Die Ärzte, weiß Josef, haben ein Wort dafür, Borderline. Zweimal in der Woche bringt er seine Frau nach Zürich zum Psychiater, sie nimmt die Tram Nummer 14 und fährt zum Gespräch, Haltestelle Beckenhof, Josef wartet, bis sie wiederkommt, vor dem Hauptbahnhof, macht Fotos von den Trams, die ständig neue Werbung tragen, Swiss Milk zum Beispiel, die Kuh auf dem Fahrrad, werde groß, bleibe stark.
Deine Scheißfotos, sagt die Frau hie und da, gebe ich dir einst mit in den Sarg. Früher nannte sie ihn Käferchen, Mäuschen. Darf man nicht zu ernst nehmen, denkt Josef. Auch nicht, wenn sie droht, Schluss zu machen mit dieser Scheiße hier auf Erden.
Sie nahm wieder zu, schnitt sich die Arme wund
Es gibt in der Schweiz keine Lokomotive, die Herr Josef nicht fotografierte, es gibt keinen Meter Schiene, über den er nie fuhr, Josef war, bevor er am 30. November 2006 entlassen wurde, Betriebsangestellter Rangierer, zuerst bei den Vereinigten Huttwil-Bahnen, die aufging in der Regionalverkehr Mittelland Aktiengesellschaft, dann in der großen BLS, Bern-Lötschberg-Simplon.
Am Morgen war Josef, wohnhaft in der Bahnhofstraße 1, der Erste im Bahnhof von G., am Abend der Letzte, in der Freizeit, nichts lieber, saß er im Zug, das Gesicht rund und rot, und reiste durchs Land.
Geht es der Frau gut, hört sie Helene Fischer. Und klebt lange künstliche Nägel an die Finger, blau, grün, silbern. Eigentlich hat Josef sie gern.
Nach dem Magenbypass, 1. April 2010, nahm sie 50 Kilo ab. Dann ging es ihr ständig schlechter, sie stand nicht auf, schwieg und weinte, der Arzt gab Tabletten, Josefs Frau nahm wieder zu, ging auf wie ein Kuchen, schnitt sich die Arme wund. Dann kamen die Kinder, keines geplant. Aber jetzt sind sie da, und Josef tut alles für sie, Noah Randy Elmar hat einen gelben Plastikkletterturm im Zimmer, Cherubina Amanda Noemi zwei Schildkröten, neun Euro achtzig das Stück.
Die Kinder sind in der Pflege
Aber die Frau sagt nicht, wie schwer sie ist, ums Verrecken sagt die nicht, wie viel sie wiegt. Und will, dass Josef sich auf die Waage stellt, 107 Kilo, viel zu schwer. Neulich ging er zum Arzt, alles tat weh. Dann hatte er Angst, tagelang, Josef weiß nicht, vor was.
Von Dienstag bis Donnerstag sind die Kinder in der Pflege. Die Gemeinde G. will es so, die Gemeinde G. bezahlt dafür. Manchmal weinen sie, Noah Randy Elmar und Cherubina Amanda Noemi, wenn Josef sie holt, Herr Josef kann verstehen, dass es ihnen dort gefällt, wo sie nun sind, auf einem Bauernhof in H., Noah Randy Elmar, gut vier Jahre alt, der zu Hause kaum spricht, plappert dort mit den Kühen, Cherubina Amanda Noemi, 16 Monate, nennt die Frau, die nicht ihre Mutter ist, Mama, den Mann, der nicht ihr Vater ist, Papa.
Dort, nicht hier, ging Cherubina Amanda Noemi ihre ersten Schritte. Dort parkt sie ihren Teddy. Kann man nicht ändern, sagt Josef, was ist, das ist.
Herr Josef möchte kein anderes Leben
Eigentlich liebt Herr Josef seine Frau, die ständig traurig ist und laut und stumm und lieb und grob. Im Grunde möchte Herr Josef kein anderes Leben. Auf keinen Fall jenes, das einst war, Dezember 2006. Als er, 31 Jahre alt, von der Bahn weggespart seit vier Wochen, nicht mehr wusste, was oben, was unten ist, was schlecht, was recht. Bis er, den Scheißdreck bereut er bis heute, an fünf Kesselwagen die Bremsen löste, darin Leim für eine Spanplattenfabrik, 400 Tonnen insgesamt. Und der Zug begann zu rollen, wurde schnell und schneller, verschwand leise in der Nacht. Und Josef, plötzlich frei und stolz, stieg in sein Auto, floh in Richtung W., wo er Kind gewesen war, drehte auf halber Strecke um, fuhr zurück.
Zwei Wagen waren gekippt, drei entgleist, die Barriere zerstört. Neben dem Zug standen Polizisten, und Josef, den alle kannten, fragte, was geschehen sei, ob er fotografieren dürfe, Herr Josef fuhr nach Hause und holte den Apparat, einen Stift und schrieb die Nummern der Wagen auf, 33857932223-5, 33807933573-7, machte Fotos bis nachts um zwei, schlief dann lange und tief. An die Überwachungskamera hatte er nicht gedacht.
Eines Morgens, schwanger mit dem zweiten Kind, schreckte die Frau aus ihrem Schlaf. Einen Namen hatte sie geträumt, von dem sie nicht wusste, ob es ihn gibt, Cherubina. Er kenne, sagte Josef, einen Mann namens Cherubino, einst Kollege bei der Bahn, Italiener oder Spanier, also nehme er an, dass der Name, mit einem A am Ende statt mit einem O, sehr wohl existiere. Joseph statt Josef?, denkt er seit Tagen.
Sein Sohn braucht Liebe und Geduld, sagen die Ärzte
Letztes Jahr latschte ihm ein Fuchs vors Auto. Herr Josef wich aus, krachte in einen Baum, der Motor setzte aus, war nicht mehr zu flicken. Ständig passiert ihm so ein Scheiß, er weiß nicht, weshalb. Das Moped wurde geklaut, die Wohnung gekündigt, die Frau stürzte im Treppenhaus, Noah Randy Elmar verdrehte plötzlich die Augen, begann zu röcheln und zu schäumen, Herr Josef rief die Ambulanz, Verdacht auf Epilepsie, aber es war etwas anderes, vielleicht vom Schimmel, der an den Wänden wuchs. Noah Randy Elmar, behaupten die Ärzte, ist in seiner Entwicklung verzögert, nichts Alarmierendes, was Noah Randy Elmar braucht, ist Liebe und Geduld.
Die können gut reden, sagt Herr Josef, die haben nicht ständig einen Vierjährigen am Bein, der nur Ä und Ö macht, aber kein klares Wort. Ab und zu kommt Josef in den Sinn, dass er vielleicht nicht anders war als der Noah Randy Elmar. Dass er, Josef, selbst im Kindergarten noch nicht sprach und kaum je lachte, vielleicht deshalb nicht, weil die Mutter oft krank war und er, Seppli gerufen, deshalb bei der Großmutter blieb oder bei der Bekannten von Mama, zwei Wochen hier, drei Wochen dort, zwei hier.
Oder vielleicht deshalb nicht, weil der Vater, ein Schreiner, im Suff die Mutter schlug. Oder deshalb nicht, weil ihm der Bekannte der Bekannten, bei der er wohnte, wenn die Mutter in der Spinnwinde war, seinen Pinsel in Mund und Darm steckte und er, Josef, den Typ dann melken musste.
Wie wäre es, nie mehr zu erwachen?
Früher, noch vor dem Umzug an den Rigiweg, blätterte er ab und zu durch die Papiere, 43 Seiten, die ihm der Anwalt überlassen hatte, ein psychiatrisches Gutachten, und wunderte sich über die Dinge, die da geschrieben standen. Im Alter von zehn bis 15 Jahren, war da zu lesen, habe er, Josef, oft Kühe fotografiert, dabei aber keine sexuellen Phantasien entwickelt, genauso wenig, wie dies später beim Fotografieren von Lokomotiven und Zügen geschehen sei.
So saustrohoberblöd, dass er beim Anblick einer Ae 6/6 einen Steifen bekommt, dachte Josef, ist er nun doch nicht.
Seine Kinder, sagt Herr Josef, sollen es einfacher haben als er, schöner, besser. Aber vor Monaten war eine Dame der IV hier, Invalidenversicherung, gaffte in alle Zimmer, geiferte herum und halbierte dann, einfach so, die Rente der Frau, fast 1000 Mäuse weniger im Monat. Und wieder aufs Sozialamt, die Rechnung für den Strom in der einen Hand, die fürs Gas in der anderen.
Herrgott, wer putzte damals, als der Josef noch Arbeit hatte und einen flotten Lohn, wer putzte denn am Montagmorgen jeweils die Kotze der Besoffenen vom Bahnsteig? Der Josef. Immer nur der Josef, weil die anderen sich zu schade waren. Der Josef, in der Scheiße seit zehn Jahren.
Abends legt er sich früh ins Bett, oft um sechs oder sieben, und denkt, wie es wäre, nie mehr zu erwachen. Einmal, damals, fuhr er mit den Pfadfindern ins Lager. War, wenn man rennen musste, der letzte. Wenn man reden musste, der dümmste. Machte in den Schlafsack. Wurde krank vor Heimweh.
Die Frau wollte heiraten, Josef war nicht dagegen
Am liebsten war Josef bei der Großmutter. Sie nahm ihn mit ins Restaurant Bahnhof, setzte ihn zwischen alte Frauen, lehrte ihn das Jassen, Karten zu spielen. Übrigens, an einem 23. August möchte Herr Josef, nun jenseits der 40, nach Zürich reisen und sich in die weite Halle des HBF stellen, um dann, wenn Gott will, gegen Andreas Meyer zu jassen, den Chef der Schweizerischen Bundesbahnen, die 800. Folge von Samstag-Jass, aufgezeichnet vom Schweizer Fernsehen, ausgestrahlt irgendwann im September, Josef gegen die SBB, wenn Gott will.
Eigentlich gibt es wenig Geileres als jassen. Die Frau jasst nicht. Will es nicht lernen. Die Frau wollte heiraten. Josef war nicht dagegen, 6. Dezember 2007. Danach aß man Pizza, sie eine Quattro Stagioni mit Salat, er eine Hawaii. Und wieder ein halbes Jahr später wollte sie in die Kirche, man fuhr nach B. zum Modehaus Wicky, Brautkleider und so, zweimal ließ die Frau sich vermessen, zweimal kam sie zur Probe und heulte, als sie, in weißes Tuch gehüllt, sich im Spiegel sah. Und Herr Josef holte seine Bahnuniform aus dem Schrank, befreite sie von allen Zeichen, bürstete sie, hängte sie eine Woche lang in den Wind.
Der 5. Juli 2008 war ein Samstag, heiß, feucht. Josef und seine Frau standen vor einem Pfarrer, sangen und lobten, tauschten Ringe, dann reiste man, ein gutes Dutzend Leute, auf den Üetliberg, eigentlich, sagt Josef, kackte alles ab, was man nur abkacken konnte an diesem verdammten Sommerhochzeitstag, der Zug, übrigens die steilste Normalspur-Adhäsionsbahn von Europa, war überfüllt, verstopft mit Chinesen und Japanern, der Champagner warm, jedes Blümlein welk.
Ständig passieren Josef Dinge, die keiner will
Früher rief sie ihn Spätzchen, Mäuschen, Bärchen. Kaum verheiratet, wollte sie ein Pferd. Pferd oder Kind, sagte Josef, beides geht nicht. Zum ersten Mal schwanger, kotzte sie ständig. Josef brachte sie zum Arzt. Der sprach von Austrocknung, schickte die Frau ins Krankenhaus. Dort war sie drei Tage am Tropf. Ständig passieren Josef Dinge, die keiner will, keiner versteht, Herr Josef weiß nicht, weshalb. Was hat er, dass ihm ständig solche Sachen passieren, denn verbrochen?
Manchmal legte er den Kopf auf den Bauch der Frau, redete mit dem Kind, das darin wuchs, Kleiner, bitte komm auf die Welt genau am Tag, da ich deine liebe Mutter zum ersten Mal sah, am 30. April. Herr Josef war, weil er noch etwas zu erledigen hatte, im Auto unterwegs, als Noah Randy Elmar kam um 15 Uhr 14 am 30. April 2012.
Vor zwei Jahren oder drei rammte ein Auto den Kinderwagen, Noah Randy Elmar war unverletzt, der Fahrer auf und davon. Solche Sachen. Und dann die Zwangsvollstreckungen, die Pfändungen, einmal nahmen sie 59 Modelllokomotiven mit, von den Schönsten die Schönsten. Schließlich die Briefmarken. Josef weiß nicht, wie oft er gepfändet wurde.
Früher schrieb sie einmal ihr Leben auf
Herr Josef weiß nicht, ob sie im Dorf über ihn reden, er will es nicht wissen. Jede Nacht um zwei steht er auf, wankt zum Auto, seinem alten Peugeot 807, bald 132 000 Kilometer auf dem Buckel, fährt nach nach L., nach O., schiebt Zeitungen in fremde Kästen, fünf Stunden lang bei jedem Wetter.
Gegen sieben Uhr ist er zu Hause und findet die Frau im Bett, am Tisch oder sonst wo. Früher, noch drüben in der Bahnhofstraße, schrieb sie einmal ihr Leben auf, ein ganzes Blatt voll, sie weinte, legte es auf den Tisch, Josef, für dich.
Mit 16 Jahre kam ich in die lehre ich machte eine Ausbildung als hauswirtschaftlich die ging 2 Jahre ich habe mit 16 Jahre ein freund gehabt er kam von A. ich war mit im 1Jahr und 6 Monate zusammen ich bin in der 2 Lehrjahr gewesen er ging fremd und ich fahnd es raus er streitete es ab das stimmt nicht sagte er ich sagte Mol er sagte nein ich habe im gesagt ich habe dich gesehen er sagt wo Im Restaurant. Dann sagte er ja es stimmt dann sagte er zu mir kommst du mal zu mir ich muss mit dir reden ich sagte ja dann ging ich zu im wir gingen in sein zimmer wo uns niemand störte dann sagte er komm ich muss dir etwas zeigen dann hat er mich gepakt und mich Vergewaltigt dann hat er gesagt so das ist das abschiedsgeschenk. Ich habe mit niemand können rede was basiert ist. Ich habe 4Jahre kein fründ mehr wollen mit 21 habe ich gedacht ich möchte nicht mehr alleine sein ich habe beim sms mitgmacht und dann hab ich der Josef kennen gelernt in 2007 wir habe uns sofort ferlibt.
Die Frau war nicht dabei, als er vor drei Richtern stand, 26. September 2008, sie sagte, es breche ihr das Herz, ihn, Josef, ihr Ein und Alles, vor Richtern zu sehen, Störung des Eisenbahnverkehrs, Störung des öffentlichen Verkehrs, Sachbeschädigung.
Er hatte alles verloren, wie konnte das passieren?
Josef sprach leise, er sagte, er schäme sich für alles, was er getan habe, er bereue heftig, denn eigentlich gehöre seine Liebe noch immer der Bahn, für die er 15 Jahre lang gearbeitet und geschuftet habe, am Morgen der Erste, am Abend der Letzte. Schließlich bekam Herr Josef eine Strafe von 15 Monaten Gefängnis, bedingt vollziehbar, zwei Jahre zur Bewährung, und sie brummten ihm alle Kosten auf, 15 000 Franken für die Untersuchung, 5000 für den Prozess.
Irgendwo, vielleicht im Schlafzimmer, vielleicht im Keller, liegt das Gutachten eines Psychiaters, 43 Seiten, früher, noch drüben in der Bahnhofstraße 1, wo die Wände schimmelten, las sich Herr Josef hin und wieder durchs Papier, am liebsten las er, was auf Seite 36 geschrieben steht: Durch den Verlust seines Traumarbeitsplatzes wurde dem Angeschuldigten quasi die gesamte Existenz vernichtet, der Boden unter den Füßen weggezogen, eine nicht zu füllende Leere geschaffen. Durch die unmittelbare Nähe des Wohnortes zu dem verlorenen Arbeitsplatz gelang es dem Angeschuldigten nicht, einen inneren emotionalen Abstand zu der tragischen Verlustsituation herzustellen, es wurde quasi fortwährend in der Wunde gerührt.
Vier Worte hatte Herr Josef rot unterstrichen: In der Wunde gerührt. So war es.
Das Leben ist kein verdammtes Wunschkonzert
Ab und zu, nachts unterwegs, muss Herr Josef plötzlich weinen. Ab und zu, wenn die letzte Zeitung im Kasten liegt, stellt er den Motor ab, schiebt eine CD ins Gerät, legt den Kopf aufs Lenkrad, I bi dr Schacher Seppali, im ganze Land bekannt, be früehner s flöttischt Bürschtli gsi, jetzt ben i e Fagant, bi zfriede, wenn i z Nacht im Stroh, am Tag mis Schnäpsli ha, und wenn dr Herrgott Gsundheit schänkt, s isch alls, was brucht, jaja.
Die Frau, wenn es ihr gut geht, fährt auf Helene Fischer ab, Atemlos, immer nur Helene Fischer, Atemlos durch die Nacht. Das Leben, denkt Herr Josef bei Gelegenheit, ist kein verdammtes Wunschkonzert.
Gestern Nachmittag, auf dem Parkplatz von Lidl, traf er einen Kollegen von damals, Gleisarbeiter in Frührente, Trümmerbruch am linken Fuß. Der lud Josef zum Bier. Und scherzte und lachte. Und fragte Herrn Josef, was, seiner Meinung nach, schöner sei als Sex. Schöner als Sex, sagte Josef, ist es, die Fingerchen des eigenen Kindes zu spüren, diese feinen kleinen Fingerlein, eben erst am Licht, die alles umklammern, was zu fassen ist.
Gegen sieben Uhr ist er zu Hause, öffnet die Tür im zweiten Stock, Rigiweg 15c in G. Läuft Atemlos, geht es ihr gut. Hört er nichts, geht es ihr mies. Und Herr Josef setzt sich zur Frau an den Tisch, schaut sie nicht an und schweigt, füllt irgendwann ein Glas mit M-Budget Citron, und wartet.
Erwin Koch
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