Einfache Ratschläge helfen nicht!: Wie die Eltern, so die Kinder
Konflikte in der Familie kann man selten mit simplen Erziehungstipps lösen, meint unsere Autorin. Meist spielen schmerzliche Gefühle aus der eigenen Kindheit eine Rolle.
Neulich wurde Eltern an dieser Stelle empfohlen, sich in der Erziehung nicht auf Drohungen zu verlassen; im Sinne von „Wenn du nicht brav bist, bekommst du keinen Nachtisch“. Besser sei es, den Kindern zu erklären, warum man etwas fordert, und an ihre Hilfsbereitschaft zu appellieren. Wenn es so einfach wäre! „Wenn … dann“-Szenarien sind oft der Versuch von Eltern, ein Machtwort zu sprechen, wenn sie sich in Wirklichkeit hilflos fühlen. Es gibt wohl wenige Eltern, die sich auch im Alltag nie bei solchen Erpressungsversuchen ertappen. Doch wie ändert man ein Verhalten, das man als falsch erkannt hat, aber nicht abstellen kann?
So gut wie alle Eltern nehmen sich immer wieder vor, nie mehr auszurasten, und können es oft doch nicht verhindern. Wir lesen Ratgeber, stellen Regeln auf, setzen SOS-Rufe in Internetforen ab, geloben Besserung – bis es wieder passiert. Warum können wir ausgerechnet unseren geliebten Kindern gegenüber unsere Aggressionen so schlecht zügeln und trotzdem oft nicht durchsetzen, was richtig und notwendig wäre?
Eine Geschichte, die von einer Teilnehmerin meines Workshops für Elternkompetenz erzählt wurde, zeigt exemplarisch, wo die Probleme liegen. Kerstin war mit ihren Töchtern Anna, vier, und Merle, anderthalb (Namen geändert), am Flughafen. Sie hatte gerade die Koffer eingecheckt, die restlichen Taschen zu einer Sitzreihe geschleppt und entkräftet die kleine Merle dort hingesetzt, dann schaute sie sich nach der Größeren um. Die war schon weit in die Abflughalle gelaufen, obwohl Kerstin ihr eingeschärft hatte, in ihrer Nähe zu bleiben.
Die Mutter bereute den Satz, sobald sie ihn ausgesprochen hatte
Kerstin sagte zu Merle: „Bleib hier sitzen, ich bin gleich zurück“, und rannte hinterher. Sie rief, Anna lief schneller. Kerstin war außer Atem, als sie sie endlich einholte. Sie schnappte Anna am Arm, schaute sich nach Merle um, die gerade in ziemlicher Entfernung von ihrem Sitz kletterte, und zischte: „Du kommst jetzt sofort mit!“
Wie es weiterging, kann sich jeder denken, der schon allein mit kleinen Kindern unterwegs war. Anna, in ihrer Begeisterung gestoppt, wehrte sich. Kerstin packte das strampelnde Kind und rannte zurück zu Merle, bevor die irgendwo in der Menschenmenge verschwand.
Noch eine Dreiviertelstunde blieb bis zum Einchecken. Kerstin versuchte, ihre Kinder zu beschäftigen. Aber Anna war noch immer viel zu aufgeregt, wollte wieder ausbüxen, riss sich los, bis Kerstin nichts Besseres mehr einfiel als: „Wenn du nicht sofort Ruhe gibst, darfst du im Flugzeug nicht am Fenster sitzen!“
Sie bereute den Satz, sobald sie ihn ausgesprochen hatte. Anna hatte auf dem Hinflug so fasziniert aus dem Fenster geschaut, dass sie die ganze Zeit über ruhig gewesen war. Eigentlich hatte Kerstin für den Rückflug darauf gezählt, doch nun hatte sie mit ihrer Drohung ein Eigentor geschossen. Natürlich gab Anna jetzt erst recht keine Ruhe, und im Flugzeug ging sie schnurstracks zum Fenster. Wütend und entschlossen, nicht den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit zu verlieren, zerrte Kerstin sie wieder hoch und setzte sie unsanft an den Gang. Annas Geschrei war so markerschütternd, dass eine Flugbegleiterin eingriff und das Kind nach hinten zu ihren Kolleginnen mitnahm. Der Flug verlief ruhig, aber Kerstin hätte heulen können. Sie hatte das Gefühl, als Mutter total versagt zu haben.
Kinder lösen Gefühle aus unserer eigenen Kindheit aus
Hier einen einfachen Ratschlag zu geben, würde zu kurz greifen. Enge Beziehungen haben die Eigenschaft, alte Muster in uns zu aktivieren, die wir sorgfältig vor uns selbst verborgen haben. Besonders unsere Kinder lösen zielsicher Gefühle aus unserer eigenen Kindheit aus, von denen wir uns geschworen hatten: So hilflos, verletzt, angstvoll, traurig will ich mich nie wieder fühlen. Wir – wie auch unsere Eltern, deren Eltern und so weiter – tragen viele solcher verborgenen Verletzungen in uns. Doch wenn wir schwierige Situationen als Lernszenarien begreifen, können wir sie Stück für Stück heilen und müssen sie nicht an unsere Kinder weitergeben.
Jedes Horrorszenario kann zu einer Lernsituation werden, wenn wir uns unsere Gefühle bewusst machen. Der Schlüssel ist, sie zu beobachten, anstatt auf sie zu reagieren, denn dann kommen wir wieder in unsere alten Muster, und nichts ändert sich. Wenn wir beobachten, kommen oft auch Emotionen hoch, die wir uns nicht gern eingestehen.
Als Kerstin sich die Szene am Flughafen im Workshop bewusst machte, entdeckte sie eine tiefe Abneigung gegen ihre ältere Tochter. Sie empfand sie als egoistisch, bockig und gemein ihrer kleinen Schwester gegenüber. Bei weiterer Nachforschung stellte sich heraus, dass sie sich selbst als Älteste nie verziehen hatte, wie sie in ihrer Kindheit mit ihren jüngeren Geschwistern umgegangen war.
Wir alle neigen dazu, vor unguten Gefühlen zu flüchten. Aber davon werden sie nicht kleiner – im Gegenteil. Als Kerstin bereit war, ihre Schuld und Scham für ihr vergangenes Verhalten zu fühlen, geschah das, was am Ende immer passiert, wenn man sich Schuldgefühlen stellt: Sie lösen sich auf. Kerstin konnte sich verzeihen, weil sie einsah, dass sie damals selbst ein Kind in Nöten gewesen war. Ihr wurde sogar klar, dass ihre Geschwister ihr schon längst verziehen hatten. Das veränderte ihren Blick auf ihre Tochter grundlegend.
Verhaltensmuster werden von Generation zu Generation weitergegeben
Der nächste Lernschritt betraf Kerstins Verhältnis zu ihrer Mutter. Sie realisierte, dass sie sich am Flughafen vor allem deshalb so hilflos gefühlt hatte, weil sie eigentlich keine Mutter sein wollte – schon gar keine wie ihre eigene. Sie wollte eine Art Freundin sein. Doch sie begriff, dass ein vierjähriges Kind keine Ahnung hat, wie man aus einer großen Aufregung wieder auf den Boden kommt. Das muss es erst lernen – von seiner Mutter. Das bedeutet nicht, dass die Mutter das Kind bevormundet. Es heißt nur, dass sie bereit ist, ihr Kind aufgrund ihrer größeren Lebenserfahrung zu führen.
Als Letztes stellte sich heraus, dass Kerstin während der ganzen Reise das Gefühl hatte, sich aufzuopfern, weil sie alles allein machen musste. Vom Vater ihrer Kinder lebt sie getrennt. Sie begriff, dass sie alles, was schiefgegangen war, innerlich als Anklagen benutzte, vor allem gegen ihren eigenen Vater, den sie immer als abwesend empfunden hatte. Und nicht nur das – sie hatte sogar in Kauf genommen, dass etwas schiefging, damit sie ihm die Schuld für ihr Scheitern geben konnte.
Wenn wir uns bei einem solchen Verhalten ertappen, ist das Gold wert. Denn in diesem Moment haben wir die Wahl: Will ich weiter leiden (und meine Kinder zu Geiseln meines Leidens machen), nur um Vater, Mutter oder mir selbst zu beweisen, dass sie sich falsch verhalten haben? In Kerstins Fall war die Entscheidung klar. Nachdem ihre unterbewussten Konflikte aufgedeckt waren, konnte sie sich vorstellen, die volle Verantwortung zu übernehmen und ihre Kinder sicher durch Situationen wie die am Flughafen zu führen.
Natürlich bedeutet das nicht, dass Kerstins Probleme nun ein für alle Mal aus dem Weg geräumt sind. Uns unserer Gefühle bewusst zu werden und zu verfolgen, wo sie herkommen und wie wir sie benutzen, ist ein Prozess, der nie aufhört. Unweigerlich stoßen wir dabei immer wieder auf Anklagen, die wir gegen unsere Eltern führen. Diese unbewussten Dauerbeschwerden haben die fatale Auswirkung, uns zu Opfern zu machen. Wir berauben uns damit unserer eigenen Freiheit. Wenn wir bereit sind, uns unseren Gefühlen zu stellen und sie zu fühlen, bis sie sich auflösen, befreien wir uns, unsere Eltern und unsere Kinder.
Susanna Nieder ist zuständig für die Kinderseite des Tagesspiegels. Darüber hinaus ist sie Coach mit Schwerpunkt Partner- sowie Eltern-Kind-Beziehungen. Dieser Text erschien auf der Familienseite im gedruckten Tagesspiegel, immer mittwochs im Berlin-Teil. Weitere Texte finden Sie hier.