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Neue Erkenntnis: Depression - freudlose Frau, aggressiver Mann

Bei der Diagnose und Behandlung von Depressionen spielt das Geschlecht eine wichtige Rolle. Das wird erst seit kurzem von Medizinern und Psychologen berücksichtigt.

Irgendwann wollte sie nicht mehr leben. Vor allem aber wollte sie den Embryo in ihrem Bauch loswerden. Schließlich war die Schwangerschaft schuld, dass die Depression wieder da war. „Aber die Ärzte, die mich damals behandelten, haben mir jede Entscheidungsfähigkeit abgesprochen. Das war ausgesprochen ärgerlich“. Susanne Schäfer (Name geändert) lächelt resigniert und zündet sich eine von ihren Zigaretten ohne chemische Zusätze an.

Sie sitzt im Innenhof des Humboldt-Klinikums und erzählt ihre Geschichte so offen und distanziert, als wäre sie jemand anderem passiert. Dabei ist die Krankheit noch immer da. Aber inzwischen wird sie von Stephanie Krüger behandelt – einer Psychiaterin und Gender-Medizinerin, die sich damit beschäftigt, wie unterschiedlich Depressionen bei Frauen und Männern ablaufen und behandelt werden sollten. Sie hat erst an der Charité dazu geforscht und ist jetzt Chefärztin im Zentrum für Seelische Frauengesundheit des Vivantes Humboldt-Klinikums: „Bundesweit gibt es nichts Vergleichbares“, sagt sie, „auch nicht für Männer.“ Erst seit wenigen Jahren würden Ärzte und Psychologen zunehmend das Geschlecht von Depressionspatienten berücksichtigen: „Sowohl die männliche als auch die weibliche Seite wurde bisher vernachlässigt.“

Das merkte auch Susanne Schäfer. In der ersten Klinik, in der sie während ihrer Depression war, haben die Ärzte lange gerätselt, welches Antidepressivum dem Embryo nicht schaden würde. Sie wählten eins aus, „mit dem ich zum sabbernden Pflegefall ohne motorische Kontrolle wurde.“ In der zweiten Klinik bekam sie ein Medikament, mit dem es ihr erst besser ging, dann aber wieder schlechter. Über Schwangerschaftsabbruch wollte dort kein Arzt mit ihr diskutieren.

Dann hörte Susanne Schäfer von Stephanie Krügers Ansatz und wechselte die Klinik ein drittes Mal. Von der Ärztin fühlte sie sich ernst genommen, sie ließ ihr zumindest die Option eines späten Schwangerschaftsabbruchs – und wusste genau, welches Medikament am besten für Schwangere ist. Krüger beschäftigt sich viel damit, welche Rolle Hormone in der Behandlung spielen. Susanne Schäfers Depressionsschub während der Schwangerschaft wurde höchstwahrscheinlich durch die hormonelle Umstellung ausgelöst. „Ich habe nicht geahnt, dass es so gefährlich ist, schwanger zu werden.“ Das Kind bekam sie doch. Die Tochter ist jetzt ein Jahr alt.

Hormone müssen auch in der Menopause berücksichtigt werden. Krüger forscht gerade darüber: „Viele Antidepressiva brauchen genügend weibliche Hormone im Körper, um ihre optimale Wirkung zu entfalten.“ Anders als bei Frauen reiche bei Männern der weibliche Hormonspiegel auch in höherem Lebensalter aus, um eine gute Wirksamkeit von Antidepressiva zu gewährleisten. „Hinzu kommt, dass die die meisten Zulassungsstudien für Antidepressiva an Männern durchgeführt werden – weil Frauen schwanger werden könnten“, sagt Krüger. Das sei Testern oft zu riskant. „Deshalb gelten Dosierungsangaben oft nur für Männer. Dadurch ergeben sich bei Frauen häufiger Nebenwirkungen, die gefährlich sein können, etwa Herzrhythmusstörungen und hoher Blutdruck.“

Das hat Beate Graf (Name geändert) erlebt. Aber nicht nur die Suche nach dem richtigen Medikament sei lang und leidvoll gewesen, sagt die 66-Jährige ehemalige Krankenschwester. „Sieben Jahre habe ich abgestritten, dass ich depressiv bin.“ Das erscheint lange – nicht aber im Vergleich mit der Geschichte von Manfred Bieschke-Behm: „Es hat Jahrzehnte gedauert, ehe ich die Krankheit angenommen habe“, sagt der 63-Jährige. „Die Angst, kein richtiger Mann zu sein, war immer da.“ Er wurde in eine Klinik eingewiesen, als er 30 war. „Ich sah das als Zwangsaufenthalt mit dem Ziel, mich zu quälen.“ Mit 49 wurde er wegen seiner schweren Depression Frührentner. Heute geht es ihm besser: „Ich habe mich von der Krankheit entfernt.“ Er gründete das Selbsthilfenetzwerk Depressionen und Ängste Berlin-Brandenburg (SHN), leitet eine Selbsthilfegruppe.

Das tut auch Beate Graf, und sie hat dabei einiges beobachtet: „Männern fällt es schwerer, sich zu öffnen. Aber wenn sie sich erst mal eingewöhnt haben, sich geborgen fühlen und nicht mehr Mann sein müssen, brechen alle Dämme und sie sind viel emotionaler als Frauen.“ Gendermedizinerin Krüger sagt: „ Frauen entwickeln ihre Depression eher auf der Gefühlsebene. Sie grübeln viel, haben aber weniger Probleme, darüber zu sprechen.“ Männer hingegen agierten nach außen: „Sie geben sich zunächst oft aggressiv, arbeiten mehr, haben mehr Sex, treiben viel Sport. Nur um zu zeigen, dass sie nicht depressiv sind. Sie geben erst zu, dass es ihnen seelisch schlecht geht, wenn die Depression weit fortgeschritten ist.“ Oft kämen sie mit einem Burnout in die Therapie, der sich als Depression entpuppe.

„Beim Umgang mit Depressionen geht es auch um erlernte Geschlechterrollen“, sagt Christine Kühner, Klinische Psychologin vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim. Kürzlich referierte sie dazu bei einem Symposium in Berlin. Studien hätten ergeben, dass mehr als 20 Prozent aller Frauen mindestens einmal im Leben eine depressive Episode erleben, aber nur etwa 10 Prozent der Männer. Bei Kindern sei der Prozentsatz bei beiden Geschlechtern gleich. „In der Pubertät geht das auseinander. Mädchen haben größere Probleme mit der Veränderung ihres Körpers, auch wegen der gesellschaftlichen Normen zur Schönheit.“ Später sind Frauen verstärkt der Belastung ausgesetzt, Beruf und Familie zu vereinen. „Alleinerziehende Frauen haben die höchsten Depressionsraten.“

Susanne Schäfer ist die Stütze der Familie, ihr Mann verdient kaum etwas. Vor zwei Wochen wachte sie morgens auf und wusste nicht weiter: Wie sollte sie sich richtig um die Kinder kümmern und gleichzeitig arbeiten? Die Freudlosigkeit, die sie so gut kennt, überwältigte sie wieder. Jetzt ist sie wieder in stationärer Behandlung – im Humboldt-Klinikum.

Ausführliche Informationen zum Thema Depressionen und deren Behandlungsmethoden und -möglichkeiten in Berlin finden Sie auf dem Portal gesundheitsberater-berlin.de.

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