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Fotoalbum Familie
© Jeff Naggy/Getty Images

Die Schlussmacher: Wenn Kinder ihre Eltern verstoßen

Eines Tages ließ der Sohn sie einfach stehen, brach den Kontakt ab. Rosi Prömper traf das völlig unvorbereitet. Heute weiß die Mutter aus Berlin: Es gibt viele, die ihr Schicksal teilen. Nur reden will darüber keiner.

Rosi Prömper hat ihren Sohn verloren. Das heißt, eigentlich lebt er noch. Aber ihr ist er verloren gegangen.

Sie hatte sich mit ihrem Sohn verabredet, Mitte zwanzig war er da. Als sie an seiner Wohnungstür klingelte, machte er einfach nicht auf: „Ich hörte ihn drinnen, aber er öffnete die Tür nicht. Ich klopfte, rief seinen Namen und… er machte die Musik lauter.“

Seitdem stellt ihr Sohn sich tot, sagt Prömper. „Er meldete sich nicht. Also schrieb ich. Ging noch mal hin. Nichts. Ich schrieb wieder und wieder“, ohne je eine Antwort zu bekommen.

Schweigen, Stille, keine Antwort

Rosi Prömper lebt in Berlin, ist groß gewachsen, hält sich gerade, spricht ein sehr westdeutsches, rheinländisches Deutsch. Erzählt Witze mit ernster Miene. Feiert bald ihren 70., aber könnte auch für 50 durchgehen, faltenlos, die Haare dunkeldunkelrot gefärbt. Bis heute kennt Frau Prömper weder den Grund noch den Anlass dafür, dass ihr Sohn den Kontakt abgebrochen hat. Sie hat keine Erklärung bekommen. Keine Wut, keine Anklagen, was für eine schlechte Mutter sie sei, einfach nur: Schweigen. Stille. Keine Antwort. Ihr Sohn hat sich einfach selbst aus ihrem Leben genommen. Und tut jedes Jahr zu Weihnachten für drei Stunden bei Oma so, als wäre alles okay.

Heute leitet Prömper eine Selbsthilfegruppe für Eltern, deren Kinder den Kontakt abgebrochen haben. Seitdem ihre Telefonnummer im Internet zu finden ist, bekommt sie jede Woche mindestens einen Anruf einer Mutter oder eines Vaters, deren Kind sich nicht mehr meldet.

"In den Praxen ist das permanent Thema"

Woran liegt es, wenn Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen? Und stimmt der Eindruck, dass sich immer mehr zurückziehen, dass die Zahl der Kontaktabbrüche zunimmt?

Die Psychotherapeutin Claudia Haarmann ist davon überzeugt. Obwohl es keine offiziellen Zahlen und nur wenig Literatur dazu gibt. „In den Praxen ist das permanent Thema“, sagt sie. Haarmann selbst hat ein Buch über diese Familientragödien geschrieben, nachdem immer mehr Eltern und Kinder sich an sie gewandt hatten, der Titel: Kontaktabbruch – Kinder und Eltern, die verstummen.

Jede Familie ist ein kleines Universum

„Die meisten Kinder, die den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, lieben ihre Eltern“, sagt Claudia Haarmann. „Lange Zeit sind sie ihnen loyal gegenüber, aber irgendwann haben sie innersubjektiv keine andere Wahl: Sie fühlen sich so bedrängt, so verlassen, so überfordert, dass sie einfach nicht im Kontakt bleiben können, es sei denn, sie verlieren sich selber.“ Dabei sind die Gründe für das plötzliche Verstummen so vielfältig wie die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern: Jede Familie ein kleines Universum mit seiner eigenen Schwerkraft, seinen eigenen Spielregeln.

Haarmann analysiert Familienkonstellationen, in denen die Ursachen für Kontaktabbrüche zu finden sind: Wenn Kinder ein Vehikel für ungestillte Sehnsüchte ihrer Eltern werden. Oder wenn ihnen Halt und Geborgenheit fehlen und sie selbst versuchen, ihre Eltern glücklich zu machen. Oder wenn Kindern ihre Autonomie und Selbstbestimmung verwehrt wird, wenn sie also „überliebt“ werden, meist unbewusst, gewiss, aber deswegen nicht weniger erstickend.

Auf einmal wird der Konflikt bewusst

„Wenn ein Familienklima problematisch ist“, sagt Haarmann, „dann ist das für die Kinder ja erst mal wie gottgegeben, es ist die Normalität und wird überhaupt nicht angezweifelt. Aber, und das ist einer der Gründe dafür, dass Kontaktabbrüche derart zunehmen, die jetzt erwachsenen Kinder bekommen immer mehr mit, in Partnerschaften oder Freundschaften, außerhalb der Familie, wie sich eine nährende, Geborgenheit und Sicherheit gebende Beziehung anfühlen kann.“ Dazu komme, dass junge Menschen sich mehr austauschten, sich informieren, über Psychologie, über therapeutische Ansätze. „Die merken irgendwann, dass es zu Hause doch sehr problematisch zugeht, auf einmal wird ein Konflikt bewusst, der unbewusst war.“

Eine Kindheit voller Schläge

Eltern sind oft ratlos, wenn die Kinder sie verstoßen.
Eltern sind oft ratlos, wenn die Kinder sie verstoßen.
© Getty Images

So wie bei Regina Hansen*. Hansen lässt die Anrufe ihrer Mutter „auf den Anrufbeantworter auflaufen“, seit fünf Jahren, sie hebt nicht mehr ab, meldet sich nicht mehr, besucht ihre Eltern nicht.

Sie schreibt, es sei „die Hölle“ gewesen, „trotz allem“.

Seelische Misshandlungen

Hansen selbst hatte auf Fragen nach ihrer Familie stets geantwortet, „dass alles sehr gut und bilderbuchschön war“. Bis sie im Jahr 2010 an einer Depression erkrankte und sich endlich eingestand, dass ihre Kindheit keineswegs so unbeschwert war. Sondern voller Schläge. Voller seelischer Misshandlungen.

Hansen sagt: „Ich bin in den Augen meiner Eltern niemals gut genug gewesen.“

„Ich erinnerte mich, wie ich von meinen Eltern vernachlässigt wurde, verprügelt, wegen jeder Kleinigkeit - die Peitsche hing griffbereit an der Kellertür“

„Meine Familie ist gut situiert, nach außen hin sieht alles wunderbar aus, meine Eltern haben sich in der Schule immer sehr engagiert. Doch mir haben meine Eltern ein extremes Schuldgefühl eingeredet, immer wurde mit dem Heim gedroht und ich musste mich nach jeder Prügelattacke bei ihnen entschuldigen, dafür, dass sie mich geschlagen haben.“

Einmal sei sie kurz davor gewesen, zurückzugehen, sich zu entschuldigen, sich wieder unterzuordnen. „Aber dann sind da meine Erinnerungen und mein Schmerz und die Trauer, die mir klar machen, ich kann nicht zurück.“

Die Eltern wollen oft nur das Beste

Hansen ist sich zuerst nicht sicher, ob sie ihre Geschichte überhaupt erzählen will. „Ein Kontaktabbruch ist nie leicht“, schreibt sie, „und ich habe ihn nicht so einfach aus einer Laune heraus gemacht, sondern damit ich wieder zur Ruhe komme und heilen kann.“

Eine völlig untypische Geschichte? Oder eine ganz und gar typische?

Für die Psychotherapeutin Claudia Haarmann ist die Erfahrung zumindest des emotionalen Missbrauchs der Kinder durch ihre Eltern nichts Seltenes, Untypisches, Außergewöhnliches. Genauso wenig wie der Umstand, dass das, was von den Kindern als seelische Gewalt erlebt wird, manchen Eltern gar nicht bewusst ist. „Manche Eltern würden wahrscheinlich sagen: Aber Kind, wir wollten doch nur das Beste für dich, wir haben dir doch nie wehtun wollen, wir wollten doch nur, dass du einen guten Platz im Leben findest!“

"Ich brenne. Und du kriegst es nicht mit"

Diese Taubheit für die Gefühle der Kinder, jedes „Nun hab dich nicht so“, das eine ganze Kindergefühlswelt beiseite wischt, plattmacht, unbewusst, aber deswegen nicht minder verletzend, ist einer der möglichen Anfänge, aus denen ein Kontaktabbruch entstehen kann.

Haarmann erinnert sich an einen Traum, den ihr eine Tochter erzählt hat, als sie mit ihrer Mutter zur Beratung kam. Die Tochter sagte zu ihrer Mutter: „Ich träume mein Leben lang folgenden Traum: Wir sitzen im Auto, du, Mama, sitzt auf dem Beifahrersitz, irgendjemand fährt, und ich sitze hinten und brenne. Und du kriegst es einfach nicht mit.“

So fühlen sich viele Kinder, sagt Haarmann. Für sie ist der Kontaktabbruch wie ein Notsignal, ein Ausdruck der Verzweiflung, eine „bewusste Demontage der Verbindung“, wie es Haarmann nennt, um zum Ausdruck zu bringen, dass diese Verbindung, so wie sie jetzt ist, nicht gut ist für das Kind.

"Meine Mutter hat viele Dinge nicht verarbeitet"

Der Ausdruck Funkstille, so heißt es, kommt eigentlich aus der Schifffahrt: Es ist die Stille, während der alle anderen Schiffe aufhören zu funken, damit man die Signale des einen in Not geratenen Schiffes hören kann.

So wie bei Anja A.

Anja A. wünschte sich als Kind immer eine Mutter, die einfach für sie da wäre. Aber das war ihre Mutter nicht, „das kann sie nicht“, sagt A., „und das kennt sie nicht. Meine Mutter hat als Kind selber genug Dinge erlebt, die sie offensichtlich nicht verarbeitet hat.“

Anja A. ist 39, ihr Lachen hell, die Stimme geht beim Reden rauf und runter. Sie hat heute selbst drei Kinder. Und sich vor eineinhalb Jahren entschlossen, den Kontakt zu ihrer Mutter abzubrechen.

Nachdem ihre Mutter von Neuem zu trinken anfing, nach 18 Jahren Abstinenz. „Meine Kindheit“, erzählt Anja A., „war geprägt vom Alkoholismus beider Eltern, ich bin dann mit 13 ins Heim gekommen, und es war eigentlich immer eine ausgesprochen schwierige Mutter-Tochter-Beziehung.“

"Ich habe es nie klar ausgesprochen"

Eine untypische Geschichte? Oder eine ziemlich typische? Typisch jedenfalls ist der Schmerz, der so eine Entscheidung begleitet: „Ich stand dann vor der Frage, muss ich da weiter Kind bleiben? Kann ich bei meiner Mutter irgendetwas ändern - oder kümmere ich mich um mich und meine Familie?“

Der Kontakt sei dann eingeschlafen, sie habe sich nicht mehr gemeldet, und von der Mutter kam auch nichts mehr. „Ich habe es nie klar ausgesprochen.“

Von jeder Geschichte ist für Claudia Haarmann, die Therapeutin und Buchautorin, meist nur eine Hälfte sichtbar. Hier die Kinder, da die Eltern, nur durch das Schweigen noch verbunden.

So wie bei Rosi Prömper.

Die Mutter fragt sich: Was habe ich gemacht?

Nach sieben Jahren des Schweigens stand ihr Sohn auf einmal wieder vor ihrer Tür. „Ich weiß gar nicht, ob ich mich gefreut habe“, sagt Prömper, „ich hab ihn reingelassen. Und es war eine wirklich harmonische Woche. Ich wollte mit ihm reden. Sagen, dass das so nicht geht. Er könne nicht einfach so tun, als wäre nichts. Reden wolle er jetzt nicht, dazu sei es zu schön. Bevor er nach Hause fuhr, umarmte er mich, sagte, er liebe mich, sei ein Idiot und würde sich nun regelmäßig melden.“

„Das ist jetzt auch schon wieder sechs Jahre her.“ Prömper erzählt, dass sie oft monatelang nicht an ihren Sohn denke, wohl „eine Art Selbstschutz“.

"Ich habe dem alles aus dem Weg geräumt"

Zumindest für Rosi Prömpers Mutter ist klar: Die Schuld daran, dass ihr Enkel nicht mehr mit seiner Mutter spricht, liegt bei Rosi Prömper selbst. Jahrelang kam Prömpers Sohn Weihnachten bei der Oma vorbei, um dann für ein paar Stunden heile Familie zu spielen. Rosi Prömper fand die Abende „harmonisch“, trotz allem: „Wir haben viel geredet, gelacht und gut gegessen. Streit gab es nicht.“ Es war ihre Tochter, die dieses Theater nicht mehr aushielt. Seitdem feiern sie Weihnachten getrennt.

Es ist für Rosi Prömper kein wirklicher Trost, dass sie zu ihrer Tochter und den zwei Stiefkindern ein gutes Verhältnis hat. „Man denkt ja auch immer“, sagt sie, „was hast du denn jetzt gemacht, dass der so reagiert?“ Aber der Sohn habe sich nie erklärt. Prömper hat eine Ahnung, glaubt, dass in der Zeit, als sie und ihr Mann sich scheiden ließen, einiges schiefgelaufen ist. Sie habe damals gedacht, „jetzt musst du dich um den besonders kümmern, weil sich der Vater nicht kümmert“. Ihr Sohn hatte ihr mal vorgeworfen, sie habe ihm nie beigebracht, Probleme selbst zu lösen.

"Warum leidest du erst jetzt"

„Ich hab dem ja alles aus dem Weg geräumt“, sagt Prömper. „ Heute weiß ich, dass es falsch war, aber damals dachte ich, ich muss das machen.“

Die Elternliebe, sie scheint irgendwann an ihre Grenze zu kommen. „Wenn mich heute einer fragt“, überlegt Prömper, „liebst du deinen Sohn noch, dann muss ich überlegen: Tu ich das wirklich noch?“ Im nächsten Augenblick sagt sie: „Wenn er jetzt anrufen würde, Mama, kannst du kommen, ich brauch deine Hilfe, ich würde sofort im Zug sitzen.“

Was den Kontaktabbruch sowohl für Kinder als auch Eltern doppelt schwer macht, ist der Umstand, dass er mit einem Tabu belegt ist. Vielleicht ist das die einzige Gemeinsamkeit, die Kinder und Eltern noch haben: die Schwierigkeit, über die Funkstille zu sprechen.

Regina Hansen schreibt, einer der Gründe, warum sie ihre Geschichte erzähle, sei das Unverständnis, auf das sie stoße, wenn sie über ihre Kindheit rede: „Es ist doch schon so lange vorbei“, heiße es dann, „andere Kinder hatten auch eine schwere Kindheit.“ - Oder: „Ich kenne deine Eltern und die sind nett.“ - „Warum hast du dich nicht gewehrt?“ - „Warum leidest du erst jetzt?“

Die meisten Kontaktabbrüche sind nicht für immer

Das geht den Eltern ähnlich, wie Rosi Prömper erzählt. Viele verheimlichen den Kontaktabbruch vor den Nachbarn, den Freunden, finden Ausreden, warum der Sohn oder die Tochter schon wieder fehle. Aus Scham. Und wenn sie es doch zugäben, bekämen sie zu hören, „ja, was hast du denn gemacht, dass sich dein Kind nicht meldet, du musst doch was gemacht haben“

Dabei ist es in den allermeisten Fällen nicht so, dass die Eltern die Kinder nicht lieben würden. Nur, so drückt es Claudia Haarmann aus: „Die Liebe ist da, aber sie findet ihren Weg zum Gegenüber nicht.“

Allerdings - und das macht vielleicht Hoffnung - Haarmann sagt auch, die meisten Kontaktabbrüche seien nicht „für immer“. Außer bei schweren Missbrauchsfällen sei der Kontaktabbruch vor allem „eine Auszeit für ein Kind, um sich selber zu finden, um dann nach einiger Zeit wieder aus einer gestärkten Position auf die Eltern zuzugehen“.

Das ist nichts Leichtes, es ist das Schwerste überhaupt: Die erste, grundlegendste Beziehung, die zwischen Eltern und Kind, zu verändern, zu erneuern, aus alten Mustern auszubrechen. Einen neuen Anfang zu machen. Dahin ist das Schweigen nur der erste Schritt.

Pepe Egger

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