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Lederfrau für jedermann. Helene Fischer, 32, singt auf der Hamburger Reeperbahn.
© dpa

Das neue Album von Helene Fischer: Achterbahn im Kopf

Junge Frau zum Mitreisen gefunden: Helene Fischer katapultiert die Hörer mit ihrem neuen Hardcore-Schlager-Album direkt auf die Kirmes.

Welches der folgenden Textbeispiele stammt nicht vom neuen Helene-Fischer-Album? A) „Sonne auf der Haut / der Sommer kommt zurück.“ B) „Die Luft sie brennt wie Feuer / hab Lust auf Abenteuer.“ C) „Wenn alles Gute vor uns liegt / dann ziehen wir mit dem Wind.“ Oder D) „Und draußen vor der großen Stadt / steh’n die Nutten sich die Füße platt“?

Kommt man direkt drauf, oder? Über Freudenmädchen mit erworbener Fußdeformation schweigt Helene Fischer sich aus. Obwohl sie Platz genug gehabt hätte. Denn die Deluxe-Version der am meisten erwarteten musikalischen Neuerscheinung des Jahres beinhaltet stolze 24 Songs sowie ein aufstellbares Porträt-Cover. Von dem aus Helene einem mit keckem Schmunzeln dabei zuschaut, wie man sich durch die CD wühlt, um anderthalb Stunden lang Lieder über das Wichtigste im Leben zu hören: das Du.

Oder besser das Du im Sommer. Regen fällt metaphorisch nur am Ende: „Adieu“ heißen der letzte Song und sein Refrain, darin generieren Akkordeon und ¾-Takt eine Nähe zum Chanson, und im Text fällt das Wort „Paris“ – eines der wenigen konkreten Bilder. Ansonsten erinnert das achte Album der blonden Butterbotschafterin an Loriots „Bundestagsrede“, in der Floskeln sich als Content kostümieren: „Politik bedeutet, und davon sollte man ausgehen, das ist doch, ohne darum herumzureden, in Anbetracht der Situation, in der wir uns befinden.“

Eine Fülle alternder Phrasen

Fischers Songtexter und -texterinnen – „Herzbeben“ stammt von der Schauspielerin Stephanie Stumph – haben ein ähnliches Konzept gewählt und eine Fülle alternder Phrasen zusammengeschraubt, um die großen Gefühle „Sehnsucht“ und „Liebe“ mit den kleinen Freuden „Freizeit“ und „Freiheit“ zu verbinden. Man „will etwas erleben“ („Herzbeben“), hält sich an „coole Beats, kalte Drinks“ („Viva la vida“), und zwar „im coolsten Club der Stadt / das kleine Schwarze auf der Haut“ („Sowieso“). Später ist es dann „genau mein Ding, mal das Unmögliche zu wagen“ („Genau mein Ding“), und wenn man Glück hat und den Richtigen findet, folgt verlässlich: „Du bist das Licht auf meinen Wegen / bist in jedem Atemzug / unsere Liebe bleibt am Leben“ („Weil Liebe nie zerbricht“).

Einige Songs tragen die Situation ihrer Aufführung schon im Titel, so wie „Achterbahn“, das einen ansatzlos direkt in die Raupe der Neuköllner Maientage oder des Hamburger Doms katapultiert, neben den jungen Mann zum Mitreisen, und aus den Boxen schallt zu blechernen Deppentechnobeats: „Auf einmal stehst du da und lachst mich an / in meinem Kopf ist eine Achterbahn.“ Und wenn sich das Verdeck zum Knutschen schließt, zaubert die schlaue Helene auch dafür einen Song aus dem Hut: „Diese eine Nacht wird sich nur um uns drehen.“

Dass die Texte sie widerspiegeln, versprach Fischer in einem Interview, dass die Songs ihre Geschichte erzählen. Die Sängerin ist also zuallererst einmal: schwerstens verliebt. Bekanntlich in Florian Silbereisen. Der anscheinend auch wirklich ein Tausendsassa ist und Fischer in jeder erdenklichen Art und Weise versteht und unterstützt, denn: „Wenn du lachst / bringst du jede Angst zum Schweigen.“ Oder: „Lieb mich dann / wenn ich’s nicht kann.“ Oder: „Du kannst meinen Herzschlag spüren / drückst meinen Knopf zum Schleudersitz“ – huch, was singt sie da, zum Schleudersitz?! Wollen mal hoffen, dass das ebenfalls metaphorisch gemeint ist.

Musikalisch ist das Werk noch eine größere Katastrophe als textlich

Lederfrau für jedermann. Helene Fischer, 32, singt auf der Hamburger Reeperbahn.
Lederfrau für jedermann. Helene Fischer, 32, singt auf der Hamburger Reeperbahn.
© dpa

Tatsächlich weichen nur zwei Lieder formal vom bewährten „Ich und du / Müllers Kuh“-Prinzip ab. In dem designierten Café-Keese-Playlist-Tophit „Schon lang nicht mehr getanzt“ erzählt Fischer das einzige Mal auktorial von einer anscheinend reiferen Frau, die einen Brief von einem ehemaligen Freund (?) bekommt, der mal wieder mit ihr tanzen will. Und in „Du hast mich stark gemacht“ ist das Du überraschenderweise ein Elternteil und lässt die eigentlich viel zu hans-hartzigen Jungspunde von AnnenMayKantereit dagegen mit ihrem „Oft gefragt“, der Liebeserklärung an einen alleinerziehenden Vater, aussehen wie die einfallsreichsten und klischeefreiesten Songschreiber der Nation.

Doch musikalisch – und darum geht es extra erst so spät, denn da ist nicht viel zu holen – musikalisch ist das Werk fast noch eine größere Katastrophe als textlich. Man könnte sogar diskutieren, ob es sich überhaupt um ein Musikalbum handelt, im eigentlichen Sinne: Müsste dafür nicht ein erkennbarer musikalischer Einfall zu finden sein, etwa mal ein erstaunlicher Akkord an einer unerwarteten Stelle? Eine Soundidee? Irgendeine Art von originärer musikalischer Aussage? „Helene Fischer“ – so heißt das Album, vielleicht um niemanden zu überfordern – quält sich an klassischem Schlager, zurückhaltendem Dancesound, vorsichtigem Country, Kitschballade und Chanson vorbei, um am Ende nichts richtig angepackt zu haben.

Der alte Ralph-Siegel-Trick

Es ist zu befürchten, dass sogar beinharten Helene-Fischer-Ultras nach den ersten Stücken die frequenzlinearen In-ear-Stöpselchen aus den Ohren schießen, weil sie es nicht mehr aushalten, dieses eierlose Geeiere. Weil es irgendwann reicht mit dem sauber gesaugten Teppich aus Seichtheiten, dem alkoholfreien Cocktail aus zwei Teilen „Gänsehaut pur“ und einem Teil Clubschiff Aida, dem nicht eingelösten Versprechen von Persönlichkeit und Emotionalität.

Dass Fischers Songschreiber sich bei fast einem Viertel der Lieder zudem des alten Ralph-Siegel-Tricks bedienen und die letzte Strophe ein oder zwei Töne höher als den Rest ansiedeln, macht auch dem treuesten Fan deutlich, wie wenig Dramaturgie ansonsten vorhanden ist: Ausschließlich die Tonart steigert sich. Die Songs verharren in schlagerhafter Wurstigkeit, verströmen weder Humor noch Tragik noch Tanzlaune noch Sex (obwohl Helene einmal stöhnt und einmal flüstert, fast wie so eine verruchte Frau mit erworbener Fußdeformation).

Sie laufen stattdessen einfach so unter dem Radar entlang, zur Kirmes, zum Seniorentanztee und in die Frequenzen der lokalen Provinzdudelsender. Und solange sich kein genialer DJ ihrer erbarmt und sie mit ein paar unterleibsmächtigen Beats aufmotzt oder eine schnodderige Punkband sie covert und die nichtssagenden Texte beim Herausschreien mit wahrhaftig empfundenem Hass auf die Gesellschaft auflädt, wird das Album wahrscheinlich als Belanglosigkeit des Jahres erinnert, eher noch: vergessen werden.

„Helene Fischer“ ist bei Universal erschienen. Tour ab September. Konzert im Berliner Olympia-Stadion am 8. Juli 2018.

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