Expertenbericht zur Berliner Ballettschule: Wie die Kultur der Angst verschwinden könnte
Eine Kommission hat im Auftrag der Bildungssenatorin Vorschläge erarbeitet, was an der Staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik anders werden müsste.
Braucht Berlin eine Staatliche Schule für Ballett und Artistik? Diese Frage, die sich aufdrängt angesichts von Kindeswohlgefährdung, alarmierender Schülerfluktuation und hohen Kosten, sollte nicht beantwortet werden von der Expertenkommission, deren mit Spannung erwarteter Bericht am Montag vorgestellt wurde. Ihr Arbeitsauftrag war ein anderer: Die Schule besser zu machen.
Nachdem die Kommission sieben Monate lang die Organisations-, Verwaltungs- und Kommunikationskultur an der Schule untersucht und - in Anlehnung an die Clearingsstelle - die Vorwürfe von Kindeswohlgefährdung verifiziert hat, stellte sie zusammen mit ihrer Auftraggeberin, Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD), am Montag die Ergebnisse vor. Bevor sie um 18 Uhr von den Medien kommuniziert werden durften, wurde die Schulgemeinschaft von der Kommission unterrichtet.
Da weder Personalangelegenheiten - auch nicht die immer neuen Vorwürfe gegen den Schulleiter - noch die große Frage nach der Daseinsberechtigung der Schule bearbeitet werden sollte, konnte sich die Kommission ganz auf das Innenleben und die Grundstruktur der Schule konzentrieren konnte. In der Folge kam sie zu folgenden Empfehlungen:
Mehr Artistik
Anders als bei den großen privaten Ballettschulen in Hamburg und Düsseldorf soll die Ballettausbildung mit der Allgemeinbildung unter einem Dach bleiben. Nicht in Frage gestellt wird zudem, dass die Schule weiterhin staatlich geprüfte Bühnentänzer und Artisten ausbildet. Allerdings soll die Artistik aus ihrem Schattendasein herausgeführt werden. Stattdessen wird die Gleichberechtigung von Ballett und Artistik beschworen. Gemeinsame Projekte sollen das unterstreichen. Nach außen sichtbar wird diese Gleichberechtigung auch durch eine Namenskorrektur in Richtung „Staatliche Schule für Ballett und Artistik Berlin“. Falls organisatorisch möglich sollen die Klassen an der Schule „durchgängig abteilungsübergreifend“ gebildet werden.
Weniger Willkür
Die viel zitierte „Kultur der Angst an der Schule beruhte zum Teil darauf, dass Schüler jährlich damit rechnen mussten, die Schule verlassen zu müssen. Das soll anders werden: Die Kommission empfiehlt, die Schüler durch ein „geregeltes Aufnahmeverfahrens“ aufzunehmen – und zwar gemäß „transparenter und valider“ Kriterien. Dabei sollen die fünften und sechsten Klassen als Probezeit gelten. In diesen Klassenstufen dürfen Schüler „nicht auf Grund mangelnder künstlerischer Eignung zum Verlassen der Schule verpflichtet werden“, heißt es in den Empfehlungen. Die Schule könnte zudem ab der 7. Jahrgangsstufe ihr Angebot um die Möglichkeit einer Ausbildung erweitern, die sich an der Konzeption der bereits bestehenden Tanz-Theater-Theorie-Kurse in der gymnasialen Oberstufe orientiert. So soll vermieden werden, das bis auf 20 Prozent alle anderen Schüler im Laufe der Jahre "abgeschult werden", wie Brunswicker ausführte.
Weniger Abschulungen
Statt des jährlichen „Abschulens“ bei angeblichen oder tatsächlichen Mängeln im Tanzkönnen soll nur noch einmal abgeschult werden und zwar nach der sechsten Klasse. In diesem Zusammenhang erfolgt in der sechsten Jahrgangsstufe eine „Laufbahnberatung“, bei der herausgefunden werden soll, ob der Schüler die Schule verlässt oder einem der drei Ausbildungsgänge Bühnentanz, Artistik oder Tanz-Theater-Theorie zugeordnet wird: „Sofern die Leistungen der Schülerinnen und Schüler für keinen der an der Schule möglichen Ausbildungsgänge ausreichen, muss die Schule verlassen werden“, heißt es ohne Umschweife in den Empfehlungen. Die Schule soll aber ein „verbindliches Begleitmanagement“ etablieren, das den Familien bei der Suche nach einer neuen Schule behilflich ist.
In der Vergangenheit habe es keine Berechenbarkeit in diesem Bereich gegeben, beklagen Eltern und auch Lehrer, die sich nicht zu helfen wussten, wenn wieder einmal jemand abgeschult werden musste: "Für viele Familien brach eine Welt zusammen, aber niemand war da, der sie auffing", berichtet ein Lehrer, der längst gegangen ist.
Mehr Hilfen für die "Neuen"
Wenn Plätze frei sind, nimmt die Schule wie bisher „besonders begabte Schülerinnen und Schüler in allen Jahrgangsstufen auf“. Ein solcher Quereinstieg müsse aber „zu jeder Zeit angemessen pädagogisch vorbereitet und begleitet werden“. Letzteres gilt besonders für Schülern aus dem Ausland, denn in der Vergangenheit wurde immer wieder bemängelt, dass die Schule sich zu wenig um ausländischen Schüler gekümmert habe. Um die Objektivität bei Aufnahmeprüfungen sowie allen weiteren Prüfungen zu steigern, sollen Vertreter anderer Schulen mit vergleichbarem Profil hinzugezogen werden.
Mehr Transparenz
Immer wieder wurde in den vergangenen Monaten beklagt, dass Auftrittsmöglichkeiten nach Gutsherrenart, jedenfalls willkürlich und „nach Sympathie“ und Wohlverhalten vergeben worden sein sollen. Auch das soll anders werden, indem jedem Schüler „vergleichbare Auftrittserfahrungen“ zu ermöglichen seien.
Weniger Auftritte
Das 2017 gegründete Landesjugendballett steht in vieler Hinsicht in der Kritik. Das gilt nicht nur in Bezug auf die Häufigkeit der Auftritte mit zu kurzen Erholungsphasen nebenbei. Um die OrganisationB zu verbessern, empfehlen die Prüfer, das Landesjugenballett in eine mit dem Staatsballett Berlin verbundene Junior-Tanzkompanie zu überführen. Dabei solle eine festzulegende Zahl an Plätzen für besonders begabte Absolventinnen und Absolventen der Ballett- und Artistiktikschule bereitgehalten werden, „um diesen nach Abschluss ihrer schulischen Ausbildung den Übergang in professionelle Engagements zu ermöglichen“.
Mehr Evaluation
Wenn sich das Land Berlin eine derart ambitionierte und teure Schule leistet, sollte man zumindest wissen, ob das Hauptziel erreicht wird, also beispielsweise die Erziehung zum Supertänzer. Die Senatsverwaltung für Bildung soll daher der Schule bei der Evaluation künftig helfen und den Verbleib der Schüler verfolgen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse sollen dann die Ausbildungsgänge weiterentwickelt werden.
Weniger Belastung
Die Expertenkommission nimmt offenbar die Mahnungen der vergangenen Wochen und Monaten bezüglich der Überlastung der Schüler ernst. Als Folge soll künftig „kein Schüler physisch oder psychisch überfordert werden“. Es soll daher von entsprechend zusammengesetzten Teams für jede Schülerin und jeden Schüler „in regelmäßigen Abständen ein individuelles Belastbarkeitsprofil“ erstellt, das auch die Ansprüche aus dem allgemeinbildenden Bereich einbezieht. Bei „übermäßigen Belastungsreaktionen“wird in Absprache mit den betroffenen Schülern eine schulpsychologische Beratung „frühzeitig“ hinzugezogen.
Dabei soll gesichert werden, dass Schülerinnen und Schüler von der Schule und den Lehrkräften „angemessen“ unterstützt werden, die Arbeit an Unterrichtsinhalten nachzuholen, die durch Proben und Auftritte nicht im Klassenverbund erarbeitet werden können.
Mehr Schutz
Die Schule soll aus den bitteren Erfahrungen ihrer Schüler lernen und künftig die körperlichen und seelischen Risiken verringern. Zu diesem Zweck sollen – unter Einbeziehung externer Experten – passende Schutzkonzepte erstellt werden. Dazu gehören „Fragen der gesundheitlichen Prophylaxe, angemessener Trainingsmethoden, notwendiger Ruhezeiten, des adäquaten Umgangs mit Verletzungen und Erkrankungen und einer profilbezogenen Ernährung“.
Damit die Schülervertreter ihre Aufgabe besser wahrnehmen können, sollen sie Anspruch auf eine Schulung der Gesamtschülervertretungen haben. Dafür sollen externe Seminarangebote angeboten werden – einmal im Jahr sogar für eine ganze Woche. Zudem soll ein „ regelmäßiges Lehrer-Schüler-Feedback fest etabliert und im Schulprogramm verankert werden.
Mehr Qualifikation
Auch in einem weiteren Punkt reagiert die Kommission direkt auf die schlechten Erfahrungen der letzten Jahre: Er besagt, dass Tanzlehrkräfte ohne schulpädagogische Qualifikation ein Referendariat absolvieren sollen. Überdies sollen regelmäßige Fortbildungen sowohl in pädagogischen als auch in methodischen Fragen der Ballett- und Artistikausbildung vom Land Berlin angeboten werden und von den Lehrkräften in den Bereichen Ballett und Artistik „verlässlich“ wahrgenommen werden.
Mehr Vielfalt
Seit rund 100 Jahren wird gestritten, welchen Stellenwert das klassische Ballett innerhalb der Ausbildung haben soll. Schon anlässlich der Evaluation der Schule im Rahmen der Akkreditierung des Studiengangs wurde von der Akkreditierungskommission geraten, die starke Fokussierung auf den Bühnentanz aufzugeben. Auch jetzt heißt es, die Schule möge ihren Schwerpunkt im klassischen Tanz „um andere Formen des Bühnentanzes“ erweitern und sich dabei „ an den Erfordernissen der internationalen Ballettwelt“ orientieren.
Mehr Beratung
Das sind aber noch immer nicht alle Anstrengungen, die unternommen werden sollen. Vielmehr heißt es zum Schluss, es solle für die Schule eine externen Schulinspektion entwickelt werden. Zudem soll es einen unterstützenden „Beirat“ geben, in dem Fachkompetenz für Ballett und Artistik vertreten ist: Hier sollen Kooperationspartnerinnen und -partner einbezogen werden, die der Internationalität der Schule Rechnung trägt.
Ausblick der Senatorin
Bildungssenatorin Scheeres zeigte sich am Montag offen für viele Vorschläge der von ihr eingesetzten Kommission. Somit ist davon auszugehen, dass Etliches umgesetzt werden könnte. Zudem wurde der große Handlungsbedarf abermals durch die Clearingstelle unterstrichen, die am Montag ebenfalls im Beisein der Senatorin ihren Abschlussbericht vorstellte: Die beiden von Scheeres beauftragten Kinderschützer berichteten über Gespräche mit über 150 Betroffenen, wobei insgesamt knapp 400 Vorwürfe aufgelistet wurden. In 43 Prozent der Fälle sei es um psychische oder physische Gewalt gegangen, in 23 Prozent um „Schädigung der Gesundheit“ – wenn etwa trotz Verletzungen getanzt werden musste.
Angesichts der Tatsache, dass bei der Beschwerdestelle in der Bildungsverwaltung in all den Jahren so wenig Kritik angekommen sei, - ein spektakulärer Fall ist allerdings bekannt - äußerte Scheeres die Überlegung, dass die Schule „vielleicht ein externes Beschwerdemanagement“ brauche. Zudem würden die vielen Dienstreisen geprüft: „Wenn es Verfehlungen gibt, werden wir personalrechtliche Konsequenzen ziehen“, kündigte sie an. Es liege „viel Arbeit vor uns“.
Der ebenfalls anwesende Jurist der Verwaltung berichtete, dass neben den beiden bereits erfolgten Kündigungen der Führungskräfte „drei weitere Kündigungen angedacht“ seien. Man sehe aber „ein großes Prozessrisiko“.
Den Bericht der Expertenkommission gibt es HIER, der Bericht der Clearingstelle lässt sich HIER herunterladen.
Chronologie des Ballettschulskandals
Erste Vorwürfe gegen die Schulleitung der Staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik erreichten die Beschwerdestelle der Bildungsverwaltung im November 2015: Zwei Lehrer beklagten „Misstrauenskultur durch Manipulation und Instrumentalisierung, geringe Transparenz von Leitungsentscheidungen, Verzögerung von Amtshandlungen, passives und aktives Mobbing“. Die Beschwerde blieb folgenlos. Mit der Gründung des Landesjugendballetts im März 2017 wuchs die Belastung für Schüler und Betreuer durch zahlreiche Auftritte. Im September 2019 folgten anonyme Beschwerden im Netz. Im November unterschrieben 63 Mitarbeiter der Ballettschule einen „Antrag auf Gewährleistung der Fürsorgepflicht“. Dort wird die vielfach zitierte Formulierung „Kultur der Angst“ geprägt.
Im Januar 2020 wurden die Vorwürfe bekannt
Im Januar 2020 wurden die Vorwürfe in Bezug auf Mobbing und Bodyshaming durch einen Bericht von „rbb24 Recherche“ öffentlich. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) setzte eine Expertenkommission und eine Clearingstelle ein. Um die Ausgangslage der Ballett- und Artistikschule zu untersuchen, setzte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) Ende Januar eine Clearingstelle und eine Expertenkommission ein.
Wen die Senatorin um Beratung bat
Neben dem Vorsitzenden Klaus Brunswicker gehörten der Expertenkommission an: Andreas Hilliger, Ex-Abteilungsleiter im Bildungsministerium Brandenburg, Patrick Lang, Schulpsychologe in Charlottenburg-Wilmersdorf, Udo Wölkerling, Leiter „Kind im Zentrum“, sowie Matthias Rösner, Leiter der Sport-Eliteschule im Olympia-Park. Die juristische Beratung lag in den Händen des Rechtsanwalts Thomas Jürgens. Die Clearingstelle bestand aus den beiden Kinderschützern Elke Nowotny und Arthur Kröhnert.
Im Februar erfolgte die Freistellung des Schulleiters Ralf Stabels und des Leiters des Landesjugendballetts, Gregor Seyffert. Beide betonten, sie hätten keine Dienstpflichten verletzt und es handele sich um „Verleumdungen“ und „Falschbehauptungen“. Dennoch wurde Stabels Stelle im März neu ausgeschrieben. Eine Beschwerde Stabels dagegen war vor dem Arbeitsgericht erfolglos.
„Save the dance“ nennt sich die Gruppe der Unterstützer
Im April bestätigten die Zwischenberichte der Expertenkommission und der Clearingstelle die Vorwürfe hinsichtlich der Kindeswohlgefährdung. Der Unterstützerkreis Stabels und Seyfferts, die Initiative „Save the dance“, richtete im Mai an das Abgeordnetenhaus eine Petition mit dem Ziel, beide wieder einzusetzen. Stabel und Seyffert erhielten im Juni seine Kündigung.
Das Arbeitsgericht entschied Anfang September, dass Stabel weiterbeschäftigt werden müsse, allerdings nicht als Schulleiter, weil er kein ausgebildeter Lehrer sei.
Die maßgeblichen Dokumente rund um den Konflikt an der Staatlichen Ballettschule sind in diesem Beitrag verlinkt.