„Kindeswohlgefährdung wurde begünstigt“: Experten bestätigen Vorwürfe gegen Staatliche Ballettschule
Der Zwischenbericht zu den Vorwürfen gegen die Berliner Ballettschule liegt vor – und zeigt auf, wer den hohen Preis für die Reputation der Schule in der Tanzwelt zahlt.
Im Januar prasselte eine Wucht von Vorwürfen auf die renommierte Staatliche Ballettschule Berlin (SBB) und Schule für Artistik (SfA) nieder: Der RBB berichtete über angeblich menschenverachtende Praktiken im Bemühen, international erfolgreiche Tänzer hervorzubringen.
Zur Aufklärung der Vorwürfe setzte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) eine Expertenkommission ein. Sie sollte auch Handlungsempfehlungen erarbeiten. Der noch nicht veröffentlichte Zwischenbericht liegt dem Tagesspiegel vor.
Das Versöhnliche steht am Anfang: „Für die Expertenkommission hat sich der Eindruck ergeben, dass es bei aller Kritik an Fehlentwicklungen ein gemeinsames Interesse aller Beteiligten gibt, die Schule mit ihren besonderen Angeboten im Bereich der Ballett- und Artistikausbildung zu erhalten.“
Aber dann ruft die Kommission unter dem Vorsitz des renommierten Schulleiters Klaus Brunswicker in Erinnerung, worum es eigentlich ging bei der Kritik: um die angebliche Gefährdung des seelischen und körperlichen Wohls von Schülerinnen und Schülern, um persönliche Beleidigungen, sexualisierte Gewalt und Androhung von individuellen Repressalien – um eine „Kultur der Angst“, von der der RBB am 23. Januar erstmals berichtete.
Was aber von diesen Vorwürfen hat Bestand, nachdem die Kommission Unterlagen gesichtet, Stellungnahmen von Schülern und Beschäftigten gelesen und insgesamt 25 ausführliche Gespräche mit 45 schulischen Beteiligten geführt hat?
Schulkultur - Kultur der Angst
Dass es eine „Kultur der Angst“ gebe oder zumindest gegeben habe, wird von der Kommission nicht bestritten, vielmehr sei diese Kultur sogar „prägend“ an der Schule. Die Experten stellen die Frage nach den Ursachen und kommen zu dem Schluss, dass sich diese Angst nahezu zwangsläufig aus den Bedingungen der Schule ergebe, nämlich aus dem Nebeneinander von Drill und Auslese und der damit verbundenen Konkurrenz unter den Schülern und der latenten Gefahr des Rauswurfs, der sogenannten Abschulung.
In diesem Zusammenhang weist die Expertenkommission auf den problematischen Umgang mit Schülern durch „herabwürdigende, beleidigende und übergriffige“ Äußerungen hin: „Diese Äußerungen verursachen Angst, zumal wenn sich die Betroffenen kaum wehren können“, stellen die Experten fest. In der Schule gebe es kein hinreichendes Bewusstsein für die Bedeutung von Kritik und Beschwerden, was auch in dem Fehlen eines funktionierenden Beschwerdemanagements deutlich werde.
Die vorgeschriebene Kooperation mit Eltern wurde "unterlaufen"
Zudem fehle an der Schule ein positives Grundverständnis zur Kooperation mit Eltern. Die entsprechenden Vorgaben des Schulgesetzes seien „offenkundig lange Zeit unterlaufen“ worden. Zudem scheint es der Kommission, dass hierarchisches Denken, autoritäre Führung und Elitebildung in der pädagogischen Praxis der Schule „zu häufig eine unheimliche Allianz bilden“. In diesem Zusammenhang fällt in dem Bericht auch der Begriff der „Günstlingswirtschaft“.
Kindeswohl und Lebenslage
Die Kommission hat eng mit der Clearingstelle zusammengearbeitet, die seit dem 30. Januar aus zwei Experten im Bereich Kinderschutz besteht: Elke Nowotny und Arthur Kröhnert führten Dutzende Gespräche mit ehemaligen und aktuellen Schulangehörigen. Die Kommission zitiert aus der Stellungnahme der Clearingstelle, dass „Beispiele gesundheitlicher Gefährdung durch Überlastung infolge sehr langer Schul-‚ Trainings- und Auftrittstage, sechstägiger Schulwochen, nicht ausreichender Erholungs- und Ferienzeiten, Ignorieren von Verletzungen zugunsten von Bühnenauftritten, physische Misshandlung“ belegbar seien.
Zudem wird die Clearingstelle dahingehend zitiert, dass Kritiker „nicht gehört und unter Druck gesetzt wurden, um eine Änderung von Meinung und Haltung zu erwirken“. Die „Angst“ bestehe darin, „vorgeführt, angeschrien, beschimpft zu werden“. Es lägen Berichte zu Folgen dieser Ängste vor, wie Selbstverletzungen, Essstörungen, Drogengebrauch, Instabilität.
Somit gebe es an der Schule eine „Polarisierung“ zwischen glanzvollen Bühnenauftritten und rigiden Trainings- und Umgangsformen „bis hin zu physischer und psychischer Gewalt“. Am Ende ihrer Stellungnahme konstatiert die Clearingstelle, dass es an der Schule „Kontexte und Bedingungen“ gebe, die „Kindeswohlgefährdung begünstigen“.
Die Reputation im Blick
Die Experten attestieren der Schule eine „Dominanz der Elitenausbildung gegenüber der Allgemeinbildung“. Diese Dominanz ergibt sich allerdings zwangsläufig aus der außergewöhnlichen „Einrichtungsverfügung“ der Schule: Sie besagt, dass die Vermittlung einer Allgemeinbildung zwar „angestrebt“ werde. Im Vordergrund stehe aber, die Schüler auf ihren Einsatz in Kulturleben und Showgeschäft vorzubereiten. Die Verfügung ist so kategorisch formuliert, dass das Landesamt für Arbeitsschutz und Gesundheitsschutz daraus ableitete, dass lange Abendauftritte gepaart mit ganztägigem Schulprogramm nicht zu beanstanden seien – zur Verwunderung von Eltern, die sich hilfesuchend an das Amt gewandt hatten.
Hier schlägt die Expertenkommission die Brücke zum Landesjugendballett, das den Schülern die häufigen Auftritte beschert: Es war 2017 von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) an der Schule gegründet worden. Die Auftritte hätten in erster Linie der „Reputation der Schule im professionellen und internationalen Ballettbetrieb“ gedient. Dieser Fokus habe Folgen für die Struktur der Schule „und für die damit verbundene Frage der Sicherung des Kindeswohls“.
Die meisten Schüler werden vor dem Abschluss "abgeschult"
Zum Kindeswohl gehört für die Kommission auch, dass das Aufnahmeverfahren sowie das frühe Einschulungsalter infrage gestellt werden müssten. Da nur ein Bruchteil der Kinder die Schule von der Aufnahme in Klasse 5 bis zum Abschluss durchlaufe, müsse mehr getan werden, um die gescheiterten Schüler aufzufangen und zu begleiten. Zudem stimme etwas nicht „hinsichtlich der Validität der bestehenden Aufnahmekriterien“.
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Das vielfache „Abschulen“ der Schüler hat Folgen: Es muss ständig international „Nachschub“ herangeholt werden, um die Lücken zu füllen. Aus dieser „Globalisierung“ ergibt sich für die Kommission die Frage, „inwieweit die Ausbildung von international ausgewählten Schülern zu Spitzenballetttänzern zur Aufgabe des Berliner Schulwesens gehört“.
Wenig Raum nehmen im Bericht die freigestellten Leiter der Schule und des Landesjugendballetts, Ralf Stabel und Gregor Seyffert, ein. So heißt es etwa, dass die Schulleitung bei der Bewirtschaftung der Finanzmittel „große Gestaltungsspielräume“ gehabt habe. Dieser Komplex wird von einer externen Wirtschaftsprüfung beleuchtet. Beide Leiter wollen vor dem Arbeitsgericht ihre Wiedereinsetzung erreichen.
Ralf Stabel ist kein Pädagoge, sondern Tanzhistoriker und promovierte zum Thema Tanz und Politik. Seyffert - mit Auszeichnungen überhäuft - gilt als einer der bekanntesten deutschen Tanzpersönlichkeiten.
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Die Expertenkommission hat ihre Arbeit noch nicht beendet: Im Herbst folgt der Abschlussbericht. Es wird auch darum gehen, welche Rolle die Schulaufsicht spielte. Ferner müsse geklärt werden, „ob die Entwicklung der Schule zu einem wichtigen Teil der internationalen Ballettwelt und ihre Ausrichtung auf künstlerische Spitzenleistungen politisch gewollt ist oder sich nur aus den Interessen und der Initiative der Leitung der Schule erklärt“.
So breit ist die Kommission aufgestellt
Um diese vielfältigen Fragen beantworten zu können, ist die Kommission thematisch breit aufgestellt: Neben Klaus Brunswicker gehören ihr Stefanie Fried, Referentin für Kinderschutz bei „Save the Children“, Andreas Hilliger, früherer Abteilungsleiter im Brandenburger Bildungsministerium, Patrick Lang, schulpsychologisches Beratungszentrum Charlottenburg-Wilmersdorf sowie Udo Wölkerling, Leiter von „Kind im Zentrum“, an.
Als Fachmann in Sachen "Eliteschule" ist Matthias Rösner dabei, der Leiter der Eliteschule des Sports im Olympia-Park. In rechtlichen Fragen wird die Kommission durch den Berliner Rechtsanwalt Thomas Jürgens beraten.