Erste Konsequenz aus Untersuchungsbericht: Berliner Ballettschule soll ein Kinderschutzkonzept bekommen
Es sei "unfassbar", wie an der Eliteschule mit Gremien umgegangen wurde, sagt der Leiter der Expertenkommission. Die Schulaufsicht bekam nichts mit.
Die massiven Probleme mit Fällen von Kindeswohlgefährdung an der Staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik bringen zunehmend auch Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) und ihre Schulaufsicht in Erklärungsnot. Am Montag musste sie zugeben, dass frühere Versuche oder Möglichkeiten, auf die Schule einzuwirken, verpufften.
Das soll anders werden. „Die Ballettschule braucht ein Kinderschutzkonzept“, sagte Scheeres anlässlich der Vorstellung eines ersten Expertenberichts, der sich mit den Fehlentwicklungen auseinandersetzte. Scheeres hatte den Bericht beauftragt, nachdem die Vorwürfe hinsichtlich einer „Kultur der Angst“ durch den RBB öffentlich gemacht worden waren. Das war im Januar.
Der Tagesspiegel hatte bereits vergangene Woche vorab berichtet, dass die Experten unter der Leitung des renommierten Schulleiters Klaus Brunswicker die Vorwürfe bestätigt hatten. Sie legten dar, dass die Schüler in der Angst, die Schule verlassen zu müssen, Beschwerden lange Zeit zurückgehalten hätten.
Mit der Gründung des Landesjugendballetts im Scheeres’ Auftrag 2017 habe die Überlastung durch Abendauftritte aber derart Überhand genommen, dass sich die Kritik Bahn brach. Nach ersten anonymen Vorwürfen im September folgte der zweite Schritt im November: Da stellten 63 Mitarbeiter der Schule einen „Antrag auf Gewährleistung der Fürsorgepflicht“ wegen Überlastung der Schüler. Dort wird erstmals die Formulierung „Kultur der Angst“ benutzt. Im Januar schloss ein Dossier mit Schülerbeschwerden an.
Im November schlugen Mitarbeiter Alarm
Scheeres legte am Montag dar, dass sie im September und später im Januar jeweils nur anonyme Hinweise bekommen habe. Erst auf Nachfrage bestätigte sie, dass der Antrag der 63 Mitarbeiter in ihrem Haus „seit Dezember“ bekannt sei. Man habe den Schulleiter daraufhin um Stellungnahme gebeten. Dennoch gingen im Dezember und Januar die gehäuften Auftritte der Kinder in der Staatsoper Unter den Linden weiter, sodass selbst zehnjährige Schüler von morgens bis in die Nacht hinein Unterricht und Auftritte absolvieren mussten, wie Eltern dem Tagesspiegel berichten.
„Das ist nicht das, was wir wollten“, sagte Scheeres zu der Überbeanspruchung der Kinder. Vielmehr sei sie davon ausgegangen, dass im Landesjugendballett auch Kinder anderer Ballettschulen tanzen würden. Offenbar gab es aber niemanden, der kontrollierte, ob dieser „Wille“ der Senatorin umgesetzt wurde.
Der Rat der Schulinspektion verpuffte
Auch sonst scheint die Schulaufsicht versagt zu haben. Zumindest fand die Expertenkommission keinen Hinweis darauf, dass Fehlentwicklungen, die die Schulinspektion 2015 festgestellt hatte, verfolgt worden wären. Schon damals war beanstandet worden, dass es ein unzulängliches Qualitätsmanagement gebe. Es fehle an der Mitwirkung „aller am Schulleben Beteiligten“.
Wie die Schulaufsicht über den Fall denkt, ließ sich Mitte Februar erahnen: Da trat der Leiter der Schulaufsicht, Christian Blume, in der Schule auf und suggerierte ebenfalls, es gebe nur "anonyme" Vorwürfe, während er die Schule in den höchsten Tönen lobt.
"Unfassbar, wie mit Gremien umgegangen wurde"
Wenn Blumes Mitarbeiter den Bericht der Schulinspektion ernst genommen und dann dessen Umsetzung verfolgt hätte, hätte Brunswicker nicht fünf Jahre später feststellen müssen, dass es an der Schule praktisch keine Gremienarbeit und kaum gemeinsame Konferenzen gab – mithin keine Möglichkeit, gemeinsam Probleme zur Sprache zu bringen. Es sei "unfassbar" für ihn, wie mit den Gremien umgegangen worden sei, sagte Brunswicker. Zudem sei der Kommission aufgefallen, dass die Schule für Artistik "wie ein ungeliebtes Stiefkind" hinten angestanden habe.
"Keine Ansammlung von Finsterlingen"
Die Vorwürfe hinsichtlich der Pädagogen wurden am Montag stark eingegrenzt: Es würden insbesondere zwei Namen immer wieder genannt, sagte Brunswicker. Somit sei das Kollegium „keine Ansammlung von Finsterlingen“. Das ist auch der Tenor etlicher Stellungnahmen, die inzwischen abgegeben wurden.
Demnächst wird es weiteren Aufschluss über die Zustände geben: Dann stellt die Clearingstelle die Ergebnisse ihrer Gespräche mit Betroffenen vor. Im Herbst folgt der Schlussbericht der Brunswicker-Kommission. Zudem werden die Finanzen der vergleichsweise üppig ausgestatten Schule untersucht.
Im Mai klärt das Gericht die Personalien
Schulleiter Ralf Stabel und der Leiter des Landesjugendballetts, Gregor Seyffert, hatten nach ihrer Freistellung im Februar mitteilen lassen, für die kursierenden „Verleumdungen“ sei „kein einziger Beleg“ beigebracht worden. Es lägen „keine konkreten Fälle vor“, denen sie hätten nachgehen können. Mitte Mai sind sie vor Gericht, um ihre Wiedereinsetzung zu erwirken. Stabel hatte sich im März und April vergeblich bemüht, vor dem Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht gegen seine Freistellung und sein Hausverbot eine einstweilige Verfügung zu erwirken.
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"Frau Scheeres kann nicht so tun, als hätte sie mit den Vorfällen an der Ballettschule nichts zu tun. Diese zeigen ein eklatantes Versagen der Schulaufsicht und somit auch der Führung des Hauses", kommentierte FDP-Bildungsexperte Paul Fresdorf die Lage.
Das Handeln der Schulaufsicht und der politischen Führung der Bildungsverwaltung müsse aufgeklärt werden: "Wer wusste was wann ist die Frage, die Senatorin Scheeres beantworten muss", erwartet der Abgeordnete. Dies solle sie am Donnerstag im Bildungsausschuss tun.
Den Bericht der Expertenkommission kann man HIER als PDF-Datei herunterladen.