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Umstritten. Im Januar waren Vorwürfe gegen die Staatliche Ballettschule bekannt geworden.
© Stephanie Pilick/dpa

Ehemalige Schulrätin über Berliner Ballettschule: Angst und Kunst sind nicht kompatibel

Die Staatliche Berliner Ballettschule steht in der Kritik. Die ehemalige Oberschulrätin Sauerbaum-Thieme im Gastbeitrag über Wege aus der Kultur der Angst.

Christine Sauerbaum-Thieme ist Oberstudiendirektorin a.D., 1997/1998 hat sie die Staatliche Ballettschule als Oberschulrätin kommissarisch geleitet.

Laut Zwischenbericht der Expertenkommission Staatliche Ballettschule Berlin und Schule für Artistik vom 26. April 2020 soll es an der Ballettschule eine „Kultur der Angst“, ein „Nebeneinander von Drill und Auslese“ sowie eine „Dominanz von Elitenausbildung gegenüber der Allgemeinbildung“ gegeben haben, auch hervorgerufen durch das sogenannte „Abschulen“, das Entlassen aus der Schule.

Ich habe von August 1997 bis Oktober 1998 diese Schule als Oberschulrätin kommissarisch geleitet, um ein Konzept für eine gymnasiale Oberstufe zu entwickeln. Die im Bericht genannten Probleme sind nicht neu, auch damals gab es vergleichbare Probleme, zum Beispiel:

Schüler sollten im Unterricht ihre Bewegungsfehler als abschreckendes Beispiel vor der Klasse wiederholen, die Aufstellung im Saal oder an der Stange war nach Leistung organisiert, herabwürdigende Bemerkungen kamen vor: zum Beispiel „pommersche Beine“ und „Du bist ja schon wieder gewachsen“.

Besonders auffällig war die ungleiche Behandlung von Jungen und Mädchen. Letztere durften nicht zu groß sein, damit die Jungen im Pas de deux nicht kleiner als die Mädchen waren. Es ist ja leider nicht nur ein Phänomen im Tanz, dass Frauen unter der Maßgabe des männlichen Blicks bewertet werden.

Auch daraus ergibt sich eine Hierarchie. Die Leitung der Tanzabteilung sollte nicht nur männlich dominiert sein, sondern hier wäre eine Doppelspitze aus einer Frau und einem Mann unbedingt angebracht.

Das Besondere dieser Schule im Vergleich zu anderen Ausbildungsstätten besteht darin, dass die allgemeinbildenden Fächer und die Fächer der Ausbildung im akademischen Tanz an einem Ort stundenplanmäßig integrativ unterrichtet werden.

Die Verbindung beider Elemente muss aber durch eine kluge pädagogische Verzahnung erfolgen, das heißt: Grundüberzeugungen einer Humanistischen Pädagogik müssen in allen Bereichen gleichermaßen Geltung besitzen. Wertschätzung, Transparenz, Gerechtigkeit müssen das pädagogische Handeln im allgemeinbildenden Unterricht und im Tanzunterricht prägen.

Korrekturen sind notwendig

Hierfür müssen alle unterrichtenden Personen eine spezielle pädagogische Ausbildung aufweisen können, was jedoch bei Ballettlehrern oft nicht der Fall ist. Besonderes Einfühlungsvermögen, aber auch professionelle Distanz müssen bei der Arbeit im Ballettsaal sichtbar werden.

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Der Blick des Ballettlehrers, der Ballettlehrerin ist ständig auf den Körper der Kinder und Jugendlichen gerichtet, die Spiegel im Saal unterstützen das Sichtbarwerden kleinster Fehler und können bei den Schülerinnen und Schülern zu erheblicher Unsicherheit führen.

Dennoch – Korrekturen hinsichtlich Körperspannung, Musikalität, korrekter Ausführung der Bewegung am Platz und im Raum sind notwendig. Die Schüler wollen ja ihr Bestes geben, wollen korrigiert werden.

Fehlerkultur etablieren

Ein Weg aus der „Kultur der Angst“ kann nur darin bestehen, eine Fehlerkultur zu etablieren, die es den Schülern ermöglicht, die Korrekturen annehmen zu können und darin für sich eine Weiterentwicklung ihrer künstlerischen Ausbildung zu sehen.

Das „Abschulen“ sollte nur an bestimmten Gelenkstellen des Bildungsgangs und auf der Basis valider und transparenter Kriterien erfolgen dürfen, also nicht in der 5. Klasse, sondern nach Klasse 6 (Übergang zu Grundschule) beziehungsweise nicht in Klasse 9, sondern am Ende von Stufe 10 (Mittlerer Schulabschluss).

Dass beispielsweise kritisches Verhalten mit „Abschulen“ sanktioniert worden sein soll, ist unfassbar, auch weil hierdurch der Erziehungsauftrag der Berliner Schulen – Erziehung zur Demokratie – konterkariert wird.

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„Abschulen“ haben wir damals nur wie beschrieben durchgeführt und unterstützt durch die Schulaufsicht, Beratungen durch Fachleute von außen, etwa eine ehemalige Ballettmeisterin, wurden positiv aufgenommen. Insofern sollte künftig durch interne Fortbildungen das pädagogische Handeln professionalisiert werden, die Schule von einem Pädagogen aus der Lehrerlaufbahn geleitet werden!

Wer mit „ausreichend“ abschließt, bekommt kein Engagement

Trotz alledem: Im professionellen Tanz geht es darum, die beste Leistung zu erzielen. Das hat nichts mit „Elitenausbildung“ zu tun. Ein Engagement bekommen die Absolventen nicht, wenn sie mit „ausreichend“ ihre Prüfung zum Staatlich geprüften Bühnentänzer abgeschlossen haben. Das ist in den sogenannten bürgerlichen Berufen anders, man kann auch Lehrer werden, wenn man das Referendariat mit „ausreichend“ abgeschlossen hat.

Darüber hinaus hat leider der Leistungsgedanke in der Berliner Schule keinen hohen Stellenwert mehr – das sollte man der Ballettschule aber nicht zur Last legen! Alle, die Tänzer werden wollen, wissen, dass es sich um einen anstrengenden, den ganzen Menschen fordernden Beruf, ja eine besondere Lebensweise handelt.

Wer wie eine Tänzerin, ein Tänzer die Schwerkraft mit seinem künstlerischen Ausdruck überwinden können möchte, lebt in einer wunderbaren Illusion, die so mit keinem anderen künstlerischen Beruf vergleichbar ist. Heinrich von Kleist hat diesen angestrebten Zustand in seinem Text „Über das Marionettentheater“ als „antigrav“ bezeichnet.

Christine Sauerbaum-Thieme

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