Mobbing und Angst an Berliner Schule für Ballett: Von der Eliteschule zum Problemfall
Die Zustände an der Ballettschule weiten sich nach Ansicht der Grünen zum „Skandal“ aus. Auch die Beschwerdestelle der Bildungssenatorin ist nun involviert.
Mobbing, Druck, Angst: Die Vorgänge an der Staatlichen Schule für Ballett und Schule für Artistik haben sich in den Augen von Koalitionären inzwischen zu einem Skandal entwickelt – und Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) steckt mittendrin. In die Kritik geraten ist sie nicht nur durch ihr angeblich zu spätes Eingreifen, sondern auch durch das „Herunterspielen“ der Vorwürfe gegen die Schulleitung durch ihren Abteilungsleiter Christian Blume, das Betroffene konstatieren.
„Ich werde die Senatorin im Plenum am Donnerstag fragen, wie Christian Blumes Äußerungen vor der Vollversammlung der Schule gewertet werden“, kündigte SPD-Bildungsexpertin Maja Lasic am Mittwoch im Gespräch mit dem Tagesspiegel an. Ihre Kollegin von den Grünen, Marianne Burkert-Eulitz, sagte, sie und Betroffene seien „bis ins Mark erschüttert“ durch Blumes Darstellung.
„Ich hatte erwartet, dass der Weg frei ist, um umfänglich aufzuklären, dass die Kommission die Federführung übernehmen würde“, begründete die Grünen-Abgeordnete ihre Empörung. Durch die Art und Weise und den Inhalt der Rede des Schulaufsichtsleiters sei „dies so nicht möglich“.
Der Tagesspiegel hatte am Dienstag berichtet, dass Blume in seiner Rede vor Schülern und Mitarbeiten der Eliteschule die Vorwürfe gegen die Schule mehrfach mit dem Attribut „anonym“ belegt und von „Unterstellungen“ gesprochen hatte. Zudem hatte er geäußert, die Schulleiter seien freigestellt worden, um sie „zu schützen“ und „aus der Schusslinie zu nehmen“. Von einem Schutz der Schüler sprach Blume nicht.
Ein „teils gespaltenes Kollegium“
„Sollten die Äußerungen des Schulaufsichtsbeamten zu Missverständnissen geführt haben, tut uns das leid“, lautete am Mittwoch die Reaktion der Bildungsverwaltung. Blumes Aufgabe sei es „natürlich auch, das teils gespaltene Kollegium wieder zusammenzuführen und für Schulfrieden zu sorgen“. Gleichwohl habe Herr Blume deutlich gemacht, „dass es an der Schule kein Weiter so geben kann und dass man die Vorwürfe äußerst ernst nimmt und prüft“. Wie berichtet, hatte Blume den Schulleiter sowie den Leiter des Jugendballetts vorübergehend freigestellt, um die schulinterne Aufklärung zu erleichtern.
Die Vorwürfe richten sich gegen die Amtsführung der Leitung und gegen den Umgang mit Schülern: Sie würden übermäßigem Drill bis hin zu Verstößen gegen den Kinderschutz ausgesetzt. Es gebe Mobbing und „offenes Bloßstellen“ – etwa wenn Schüler nicht dünn genug seien. Dazu gehöre auch die öffentliche Diskriminierung wegen Faktoren, die von den Schülerinnen gar nicht beeinflussbar seien wie die Entwicklung von größeren Brüsten in der Pubertät, berichteten Betroffene bei einem Gespräch im Abgeordnetenhaus.
Die Bildungsverwaltung bedauerte am Mittwoch, „dass die an Schärfe zunehmenden Vorwürfe gegen die Schulleitung von Seiten des Kollegiums und von Teilen der Schüler- und Elternschaft aus Sicht der politischen Spitze der Bildungsverwaltung in zunehmenden Maße dem Ansehen der Schule schaden“.
Die freigestellten Leiter wehren sich
Der freigestellte Leiter Ralf Stabel hatte nach seiner Freistellung mitgeteilt: „Die vorübergehende Freistellung erfolgte nicht, weil ich meine Dienstpflichten verletzt hätte oder weil andere von mir zu vertretende Gründe vorliegen. Die in Presse und Öffentlichkeit zitierten Vorwürfe wurden stets anonym vorgebracht. Es kursieren Verleumdungen, Falschbehauptungen und Anschuldigungen in der Öffentlichkeit, für die kein einziger Beleg beigebracht wurde. Es liegen also bisher keine konkreten Fälle vor, denen ich hätte nachgehen können. Es wäre an der Zeit, die anonymen Behauptungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und rechtlich zu bewerten. Diejenigen Personen, die die Vorwürfe bisher anonym verbreiten, sollten ihre Anschuldigungen persönlich vortragen und entweder belegen oder zurücknehmen. Ich gehe eher davon aus, dass es für die Ereignisse der letzten Wochen Gründe gibt, die sich mir hoffentlich bald erschließen. Aus dienstrechtlichen Gründen werde ich mich zum Sachverhalt nicht weitergehend äußern.“
Ein gleichlautendes Statement war laut Deutscher Presseagentur durch den Künstlerischen Leiter Gregor Seyffert erfolgt.
Kritik von der Linkspartei
Scheeres hatte in einer Parlamentssitzung kürzlich betont, dass sie aufgrund der Anonymität der Vorwürfe im Herbst 2019 nicht genug in der Hand gehabt habe, um Konsequenzen zu ziehen. Das habe sich erst im Januar geändert. Diese Darstellung wird angezweifelt. Zum einen betont die Bildungsexpertin der Linkspartei Regina Kittler, dass die Vorwürfe, die sie hinsichtlich des Umgangs mit den Schülern an Senatorin Scheeres herangetragen habe, schon im September konkret genug gewesen seien, um dem nachzugehen: „Dann wäre die Situation in der Schule, wie sie in der vergangenen Woche war, gar nicht erst in dieser Schärfe entstanden“, sagte Kittler der Berliner Abendschau. Scheeres ließ dazu antworten, dass Kittler im September „um Vertraulichkeit gebeten“ habe.
Beschwerdeführer fühlten sich „verhöhnt“
Zum anderen sind die Vorwürfe betreffs des Umgangs an der Schule nachweisbar älter. Dem Tagesspiegel liegt eine Mail vom November 2015 vor, in der sich Marcel Kröner, ein ehemaliger Lehrer der Schule an Scheeres’ Beschwerdestelle gewandt hatte. Er bat um ein Gespräch und zählte auf, welche „Aspekte“ er besprechen wollte: „Misstrauenskultur durch Manipulation und Instrumentalisierung, geringe Transparenz von Leitungsentscheidungen, Verzögerung von Amtshandlungen, passives und aktives Mobbing, Verhinderung und Konterkarieren von demokratischen Entscheidungsprozessen sowie Kompetenzüberschreitungen.“
Ein pensionierter Mitarbeiter kann sich nicht erinnern
Zwar wurden Kröner und ein weiterer Kollege der Schule, Henning Wehmeyer, anschließend von der Beschwerdestelle tatsächlich gehört. Bei dem Gespräch aber hätten sie sich „verhöhnt gefühlt“, berichtete Wehmeyer am Mittwoch dem Tagesspiegel. Die Bildungsverwaltung bestätigte auf Anfrage, dass einer der Beschwerdemanager damals dieses Gespräch geführt hat, „das aber nicht dokumentiert wurde“. Der betreffende, inzwischen pensionierte, Mitarbeiter könne sich heute „offenbar nicht mehr an das Gespräch erinnern“. Zudem hätten von dem Gespräch seinerzeit „weder die Schulaufsicht noch die Senatorin erfahren“. Das Beschwerdemanagement habe „Herrn Kröner heute Morgen sofort die Kontaktdaten der Clearingstelle übermittelt“, teilte Scheeres’ Sprecher mit.
3300 physiotherapeutische Behandlungen
„Es zeigt sich, dass die Senatsverwaltung für Bildung über Verletzungen in der Staatlichen Ballettschule schon länger Bescheid wusste“, konstatierte FDP-Bildungspolitiker Paul Fresdorf. Er hatte nach Bekanntwerden von Vorwürfen hinsichtlich des Umgangs mit den Schülern nachgefragt, ob es zutreffe, dass kranke oder verletzte Schüler entgegen ärztlichen Rats getanzt hätten. Das bestreitet Bildungs-Staatssekretärin Beate Stoffers (SPD). Der FDP-Abgeordnete fragte auch nach der Zahl der Verletzungen.
Aus der Antwort, die dem Tagesspiegel exklusiv vorliegt, geht hervor, dass die Zahl bei rund einem Dutzend pro Jahr stagniert. Die Zahl der physiotherapeutischen Behandlungen ist demnach zwischen 2017/18 und 2018/19 von rund 2160 auf 3330 gestiegen. Dieser Zuwachs ergebe sich unter anderem aus der „Beschäftigung einer zweiten Physiotherapeutin“.
„Sklavenmentalität“ an Wiener Ballettschule
Marianne Burkert-Eulitz von den Grünen erwartet, dass „der Skandal“ an der Staatlichen Ballettschule dazu führen müsse, „dass sich die Situation für die Kinder und Jugendlichen verbessert“.
Wie eine maximale Aufklärung gehen könne, habe sich an der Ballettakademie in Wien gezeigt, betont Burkert-Eulitz: Dort hatte die Leiterin des Instituts für Strafrecht der Universität Wien die ebenfalls kritikwürdigen Zustände aufgeklärt. In ihrem Bericht war von einer „Sklavenmentalität“ die Rede, die sich an der Einrichtung „breitgemacht“ habe. Die Kinder seien „nur eine Ware gewesen, um die Oper zu bespielen“.
„Zielstrebige, engagierte und belastbare Schülerschaft“
Die Staatliche Schule für Ballett und Schule für Artistik hatte bislang einen exzellenten Ruf, und auch der letzte Inspektionsbericht von 2015 war sehr positiv. Als Stärken der Schule wurden unter anderem die „konzentrierte und friedfertige Lernatmosphäre“ bescheinigt, zu der „die zielstrebige, engagierte und belastbare Schülerschaft“ beitrage. Zudem wurde hervorgehoben, dass das Handeln der Schulleitung „geprägt ist durch Innovation, wirksames Delegieren und eine Erhöhung des Renommees der Schule durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit“.
Selbstverständlich ist das alles nicht: Die Schule gilt als extrem schwer zu führen, weil sie ein Unikat ist: Die herkömmlichen Lehrer für die allgemeinbildenden Fächer machen nur rund ein Drittel des Kollegiums aus, ansonsten handelt es sich um Ballett- und Artistiklehrer, die meist aus diesen Berufen kommen und selten pädagogische Erfahrung haben. Rund ein weiteres Drittel machen weitere Mitarbeiter und Erzieher aus: Wegen des angegliederten Internats ist der Bedarf an Erziehern groß.
Ein Unikat unter den Eliteschulen
Zudem hängt die gesamte Ausbildung an der Schule selbst, während etwa an den Eliteschulen des Sports der nichtschulische Bereich an den Landessportbund ausgegliedert ist. Am Bach-Gymnasium als Eliteschule für Musik gibt es mit der Universität der Künste ebenfalls einen externen Kooperationspartner.
Nach ihrer Wiederwahl zur Bildungssenatorin hatte Sandra Scheeres zusammen mit der Schulleitung zudem Anfang 2017 die Gründung eines Landesjugendballetts beschlossen. Dessen Leiter Gregor Seyffert, der auch Künstlerischer Leiter der Schule ist, ist ebenso „vorübergehend freigestellt“ wie Schulleiter Rolf Stabel.
Fachleute für Kinderschutz in der neuen Clearingstelle
Am Mittwoch nahm die unabhängige Clearingstelle für Betroffene ihre Arbeit auf. Ob sich dort gleich am ersten Tag jemand gemeldet hatten, konnte die Bildungsverwaltung am Mittwochbend noch nicht sagen. Die Stelle ist mit Fachleuten besetzt, „die beruflich langjährig im Bereich Kinderschutz tätig waren“, wie die Bildungsverwaltung am Dienstag bekannt gegeben hatte: Arthur Kröhnert war langjähriger Bundesgeschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutzzentren e.V. und Elke Nowotny ist Diplom-Psychologin und ehemalige Geschäftsführerin des Kinderschutzzentrum Berlin.
Zusätzlich zur Clearingstelle hat Scheeres eine Kommission eingerichtet. Sie soll „insbesondere die Organisationsstruktur und Kommunikationskultur an der Schule untersuchen“.
Die Clearingstelle ist telefonisch erreichbar unter: 0176/86016667, Mail: clearingstelle.sbs@senbjf.berlin.de, Adresse: Clearingstelle SBS, Juliusstr. 41, 12051 Berlin