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Wo alles begann. Die Skulptur "Berlin" auf der Tauentzienstraße gab es schon, als Dr. Motte mit der ersten Loveparade vorbeizog.
© Doris Spiekermann-Klaas

30 Jahre Loveparade in Berlin: Mit Dr. Motte auf der alten Strecke der Raver

Am 1. Juli 1989 zog die erste Loveparade über den Kudamm. Unterwegs mit Dr. Motte, einem ihrer Gründer, durch die City West.

Am Tag, als alles beginnt, spielt das Wetter nicht mit. Ku’damm und Tauentzienstraße liegen im Nieselregen, von Sonne keine Spur. Es ist der 1. Juli 1989, ein Samstag, 14 Uhr. Rund 20 junge Menschen treffen sich am Wittenbergplatz. Die Polizei, die wie bei jeder angemeldeten Demonstration vor Ort ist, treibt die etwas ratlos herumstehende Gruppe nach einer guten halben Stunde an: Jetzt muss sie mal langsam losgehen, eure Loveparade. Ist ja schließlich ein Umzug.

So erinnert sich Dr. Motte, DJ, Labelbetreiber und einer der Väter der späteren Massenveranstaltung, an den Anfang. Die Ereignisse liegen 30 Jahre zurück, er selbst wird bald 59 und steht nun, bei strahlendem Himmel, wieder dort, auf dem Mittelstreifen vor dem KaDeWe. „Die Polizei fuhr vorne und hinten mit, durch das Blaulicht kam Discofeeling auf.“ Ein Grinsen kann er sich nicht verkneifen.

Dr. Motte heißt eigentlich Matthias Roeingh, aber so nennt ihn wirklich niemand. In Spandau geboren und 22 Jahre gelebt, dann noch mal so lange in Kreuzberg, sieben Jahre in Prenzlauer Berg, jetzt in Wedding, verwachsen mit der Stadt, mit ihrer Geschichte. Es stört ihn nicht, dass er wahrscheinlich auch die nächsten 30 Jahre vor allem mit der Loveparade in Verbindung gebracht wird, immer wieder geduldig erzählen muss, wie auch jetzt wieder. Zwei weitere lange Interviews hat er noch vor sich.

Er will es ja so: Am Montag eröffnet die Sonderausstellung „Dr. Mottes Loveparade“ in der Alten Münze, wo seit August vergangenen Jahres schon die Schau „Nineties Berlin“ läuft. Er hat mitkuratiert, den Aufbau überwacht. Endlich kann er sein eigenes Bild zeichnen.

Live-Sets? Er gluckst. Sie nahmen kopierte Kassetten

Aber vorher ist er bereit, ein Stück entlang der ursprünglichen Route zu schlendern, die vom Wittenberg- zum Adenauerplatz führte, insgesamt sieben Kilometer, die sie damals in etwa fünf Stunden gelaufen, nein, getanzt sind. Zunächst zur Skulptur „Berlin“, ein Werk des Bildhauerehepaars Matschinsky-Denninghoff, silbern schimmernder Chromnickelstahl, zwei imposante Röhrenelemente, miteinander verbunden und doch getrennt: ein Gleichnis für die Teilung der Stadt, die real war, als die Skulptur 1987 zur 750-Jahr-Feier Berlins aufgestellt wurde, und die gerade noch so real war, als die ersten Raver vorbeizogen.

Improvisiert und euphorisiert. Mit drei kleinen Lautsprecherwagen zogen die Ur-Raver vom Wittenbergplatz los.
Improvisiert und euphorisiert. Mit drei kleinen Lautsprecherwagen zogen die Ur-Raver vom Wittenbergplatz los.
© Erik-Jan Ouwerkerk

„Es müsste viel mehr Kunst im öffentlichen Raum geben“, findet Dr. Motte und schaut hinauf, blinzelt. Die Kunst, die er und die anderen damals entwickelten, war komplett improvisiert. Mit nur drei kleinen Lieferwagen waren sie gekommen, deren Anmeldung hatten sie glatt vergessen, der Polizei war es zum Glück egal. Auf den Ladeflächen: Kassettenrekorder, Verstärker, Lautsprecherboxen, Stromgeneratoren. Live-Sets? Dr. Motte gluckst. „Wir DJs brachten Kassetten mit, die wurden zweimal kopiert, damit auf allen Wagen dieselbe Musik gespielt werden konnte.“ Dabei waren auch Westbam und das Acid-Wunderkind Kid Paul.

Zurück am Wittenbergplatz wuchs die kleine Gruppe bis zum Abend auf rund 150 Teilnehmer an, manche Passanten waren spontan mitgelaufen. „Die meisten standen aber da mit ihren Tüten, guckten uns an und haben nicht verstanden, was wir da machen.“

Wie sollten sie auch? Der Begriff „Techno“ kam erst in den 90er Jahren auf. Motte – 1989 noch ohne selbst verliehenen Doktortitel – war Teil einer Avantgarde, „ein kleiner Kreis euphorisierter Acid-Lover“. Ursprünglich aus der Punkszene, stand er gerade am Anfang seiner DJ-Karriere und legte regelmäßig in der Turbine Rosenheim auf, ein Club in Schöneberg an der Eisenacher Straße, Ecke Rosenheimer. „Im Herbst 1988 habe ich die erste Acid-House-Party in Berlin veranstaltet, mit Nebel und Stroboskop, das hat Zeit und Raum aufgelöst, uns eine Idee davon gegeben, wie die Zukunft aussehen könnte.“

Der Ur-Schleim des Berliner Techno-Mythos

Wie es letztlich kam, das konnte er nicht ahnen: Die Loveparade explodierte innerhalb weniger Jahre, 1995 zogen schon 500 000 Raver über den Ku’damm. „Die Trucks kamen nur noch mit Ach und Krach durch.“ 1996 dann der Umzug auf die Straße des 17. Juni, 750 000 Teilnehmer. Der Höhepunkt war 1999 erreicht. 1,5 Millionen feiernde Menschen zählten die Veranstalter. Die Schätzungen der Polizei lagen immer darunter, aber fest steht: Es war ein nie zuvor da gewesenes und bis heute nie wieder erreichtes Mega-Spektakel, das den Tiergarten aber eben auch in einen riesigen Mülleimer, eine gigantische stinkende Toilette verwandelte. Die Aufräumarbeiten dauerten jedes Mal mehrere Tage, Naturschützer liefen Sturm.

Stilprägend. Schon 1989 waren Blümchen involviert, später kamen Kuhfellmuster, Warnwesten und Wasserpistolen dazu.
Stilprägend. Schon 1989 waren Blümchen involviert, später kamen Kuhfellmuster, Warnwesten und Wasserpistolen dazu.
© Erik-Jan Ouwerkerk

Trotzdem ließ der Senat die Veranstalter lange Zeit gewähren, sicher auch aus Eigennutz. „Das Stadtmarketing wollte weltweit zeigen, wie jung und kreativ Berlin ist. Die Bilder dazu kamen von uns.“ Und sie wirken bis heute nach, gehören zum Urschleim des Techno-Mythos, für den 2018 laut Clubcommission drei Millionen Partytouristen in die Stadt kamen und einen Gesamtumsatz von 1,48 Milliarden Euro bescherten.

"Wir haben das Grundgesetz getanzt"

Um Geld ging es 1989 jedenfalls nicht. Motte und seine damalige Freundin, die Künstlerin Danielle de Picciotto, hatten Geschichten aus London gehört, von illegalen Raves in leer stehenden Hallen. „Als die Polizei wieder mal eins auflöste, holte jemand einen Ghettoblaster raus, die Leute feierten einfach draußen weiter.“ Das wollten sie auch in Berlin, aber wie nur? Im abgekapselten Westteil der Stadt gab es kaum Platz dafür.

Ein paar Wochen später dann Mottes Geistesblitz: „Wir melden eine Demo an.“ Zehn, vielleicht zwölf Leute machten sich an die Vorbereitung, darunter Radiolegende Monika Dietl, die als Moni D ab Ende der 80er beim Sender Freies Berlin Acid und Techno ins Programm streute.

Eine Demonstration braucht natürlich ein Motto. „Die ganzen Proteste der 70er und 80er richteten sich immer nur gegen etwas, gebracht hat das nicht viel“, erinnert sich Dr. Motte. „Warum nicht für etwas sein, dachte ich, zum Beispiel für Abrüstung, Musik als Mittel der Völkerverständigung und gerechte Nahrungsmittelverteilung.“ Also: Friede, Freude, Eierkuchen – fortan der Tenor der Loveparade. „Eigentlich haben wir das Grundgesetz getanzt“, ist er überzeugt.

Er mischt sich überall ein, macht "Fundraving"

Aus dem gelernten Betonbauer, der sich in Acid und Techno verliebte, ist mit den Jahren ein Aktivist geworden. Kaum ein Berlin-Thema, das ihn nicht bewegt: Legalisierung von Drogen, Mediaspree, Volksentscheid zum Tempelhofer Feld, Tacheles, Musikverbot im Mauerpark, Investorenpläne auf dem RAW-Gelände, Berlins Wasserverträge, die Zukunft der East Side Gallery und so weiter. Für vieles hat er sich eingesetzt, mit Redebeiträgen, als DJ und Veranstalter von Solipartys, zuletzt etwa im Watergate und in der Wilden Renate für das Berliner Tierheim. „Fundraving“ hat er das genannt.

Woher kommt diese Getriebenheit, dieser unbedingte Wille, sich einzumischen? So richtig erklären kann er es nicht. „Ich habe keine Wahl.“

Zu allem hat er eine Meinung. Auch zur Gedächtniskirche, deren neuer Turm momentan eingerüstet ist, verborgen hinter der Werbeleinwand eines Handyherstellers. Dr. Motte verzieht das Gesicht. „Totale Überfrachtung, das sieht nicht nach Berlin aus.“ Auch der Upper West Tower schräg dahinter kriegt sein Fett weg: „Diese Schießscharten-Architektur, furchtbar.“ Bikini Haus? „Das haben sie ganz okay gemacht.“ Zwischen den Auftritten als DJ – am 13. Juli etwa bei seiner traditionellen Geburtstagsparty im Suicide Circus – liebt er es, durch Berlin zu laufen. Obwohl ihm immer mehr missfällt. „Baustile sind egal, es geht nur noch um Rendite, nicht darum, eine schöne Stadt zu entwickeln.“

Auch der Ku’damm hat sich seit 1989 verändert, am westlichen Ende siedelten sich internationale Luxusmarken an, in östlicher Richtung wird günstiger eingekauft, dafür in rauen Mengen. Shirts für 4,99 Euro, Hosen für zehn Euro. All you can shop. Vor einem Geschäft, das später am Vormittag aufmacht, stehen die Leute und warten auf den Einlass wie Samstagnacht am Berghain. „Das sind die neuen Kirchen“, kommentiert Dr. Motte.

Aus dem Underground auf die Einkaufsstraße

Schon immer ging es auf dem Ku’damm um Kommerz, das machte die Sache ja gerade so interessant, als sie hier losstampften zu der neuen Musik. „Aus dem Underground in die Einkaufsstraße“, fasst Dr. Motte zusammen. Damals fanden hier auch die Demos der Hausbesetzerszene statt, mit denen hatten die Ur-Raver nichts zu tun, „die Polizei hat uns trotzdem gefragt, ob der Schwarze Block auch kommt“. Tat er nicht. Der Bass kam.

Satt klatschte der Sound in den nächsten Jahren an die Hausfassaden von Tauentzienstraße und Ku’damm und landete – tz, rumms, rumms – wieder unten auf dem Boden, zwischen den Tanzenden. „Da konnte man richtig drin baden“, schwärmt Dr. Motte. Für ihn hat es nicht das eine beste Loveparade-Jahr gegeben. Aber auf dem Ku’damm habe es einfach mehr geknallt, sagt er. Später im Tierpark wurde die Musik von der Botanik verschluckt – das sehen viele so und lassen sich von den Spätgeborenen um ihre Erinnerungen beneiden.

Ausgelastet. Ab Mitte der 90er Jahre wurde der Tiergarten einmal jährlich zum Mega-Open-Air - und zu einem gigantischen Mülleimer.
Ausgelastet. Ab Mitte der 90er Jahre wurde der Tiergarten einmal jährlich zum Mega-Open-Air - und zu einem gigantischen Mülleimer.
© picture alliance / dpa

Bei den Anwohnern am Ku’damm muss das gute Porzellan im Schrank geklirrt haben. Des einen Rave ist des anderen Rage, bis heute. Dass der Senat seit Neuestem Geld ausgibt, damit Clubs ihren Schallschutz verbessern und Ärger mit den Nachbarn vermeiden können, findet Dr. Motte gut. „Den Topf sollen sie mal ordentlich ausnutzen.“ Obwohl: „Musik ist nie Lärm. Was wir hier auf dem Ku’damm als Hintergrundgeräusch haben“, er nickt rüber zu den vorbeifahrenden Autos, „das ist Lärm.“ Und, na sicher, er hat die Lösung für die Verkehrswende: „Kostenfreier öffentlicher Nahverkehr, dann hat sich das Problem erledigt.“

Als der Hype ins Trudeln geriet

Die Probleme der Loveparade konnte er damals nicht aus der Welt schaffen. Ab 2001 wurde sie von den Behörden nicht mehr als Demonstration eingestuft, sondern als Großveranstaltung wie jedes andere Volksfest. So entschied schließlich auch das Bundesverfassungsgericht. „Das hat uns schockiert, wir haben unser Anliegen eben nicht mit vielen Worten erklärt, sondern gelebt.“ Die Veranstalter mussten somit für die Müllbeseitigung und Sicherheit aufkommen, eine enorme finanzielle Belastung. Auch das Image litt, der Hype geriet ins Trudeln, die Besucherzahlen sanken.

Neuer Floor. Dr. Motte bei der Loveparade 2002 im Tiergarten, wo der Umzug seit 1996 stattfand.
Neuer Floor. Dr. Motte bei der Loveparade 2002 im Tiergarten, wo der Umzug seit 1996 stattfand.
© Marcel Mettelsiefen/dpa

2004 und 2005 fand keine Loveparade statt, dann stieg McFit-Kettenbetreiber Rainer Schaller ein und Dr. Motte genervt aus. Das war nicht mehr seine Loveparade. 2006 zog sie letztmalig durch den Tiergarten, bekam danach keinen Rückhalt mehr aus der Politik, die sich so lange mit ihr geschmückt hatte, und siedelte um ins Ruhrgebiet. Dort nahm sie 2010 ein tragisches Ende. 21 Menschen starben in Duisburg, mehr als 600 wurden verletzt.

Wenn sich bei den Berliner Paraden jemand verletzte, dann meist aus Unachtsamkeit und durch etwas zu optimistisch dosierten Drogenkonsum. Jetzt bleibt Motte stehen, kurz vor der Kreuzung Uhlandstraße, macht ein Foto vom blauen Himmel, im Bild ist die Krone einer Platane, davor eine der verschnörkelten Laternen. Auf die sind die Raver gern geklettert, in voller Ekstase, um das Meer der zuckenden Leiber von oben zu sehen – und manchmal kurz darauf selbst wieder unten zu sein, mit lädiertem Leib. Im Tiergarten haben sie die Laternen irgendwann mit Fett eingeschmiert. Umsonst.

"Uns gehörte die Straße"

Dr. Motte hatte keine Zeit, um Faxen zu machen. „Als Versammlungsleiter bin ich meistens vorneweg gelaufen, habe Kontakt mit der Polizei gehalten, Fragen der Presse beantwortet, mich um die Künstler gekümmert. Ich hatte ja die Verantwortung.“ Genossen hat er es trotzdem. Vor allem den Moment am Adenauerplatz, wo die Wagen wendeten und zurückfuhren. „Dann kamen sie sich quasi entgegen, konnten die anderen Trucks sehen, das war schön.“

1991 gab es einen größeren Besucherschub von außerhalb. Bundesweit entwickelte sich eine Szene, die Loveparade wurde ihr Klassentreffen. Mit dabei auch viele ostdeutsche, Ost-Berliner Raver. Techno als erste gesamtdeutsche Jugendkultur nach der Wende.

An der Ecke Joachimsthaler Straße, erzählt Dr. Motte, haben sie 1989 für eine Viertelstunde mal eben die Kreuzung blockiert. „Uns gehörte die Straße, wir wussten, die Loveparade war das Beste, was wir hätten machen können.“

"Ein Angriff auf meine Kultur"

Heute macht der DJ bei zwei Obdachlosen halt, steckt Geld zu, dem einen will er später noch ein Brötchen vorbeibringen. Als er kurz vor dem Wittenbergplatz Hütchenspieler sieht, zückt er das Handy, um die Polizei zu rufen, und lässt es bleiben, als sich einer der sehr aufmerksamen Spielmacher ziemlich nahe neben ihn stellt.

Ansonsten ist er auf die Polizei gerade nicht so gut zu sprechen. Der Streit um das Sicherheitskonzept des Fusion-Festivals, das in diesem Jahr fast nicht hätte stattfinden können, regt ihn auf. Geschenkt, dass er nie da war, nie zum ehemaligen sowjetischen Flugplatz in der mecklenburgischen Pampa gefahren ist, wo auch viele Berliner Technofans am Wochenende vor dem großen Loveparade-Jahrestag feiern. Dass die Staatsmacht dieses andere bedeutende Fossil der deutschen Technoszene ins Wanken gebracht hat – für Dr. Motte ist es „ein Angriff auf meine Kultur“.

Und die würde er gerne bewahren. „Wir bräuchten einen Bestandsschutz für Clubs, vielleicht sollte man elektronische Musik aus Deutschland auch für das immaterielle Weltkulturerbe vorschlagen.“ Es könnte sein nächster großer Einsatz werden. Er kann nicht anders.

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