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Das verkaufte Kokain ist zu 60 bis 70 Prozent pur
© imago stock&people

Im Rausch durch die Nacht: Berlin hat den Kampf gegen die Drogen verloren

Der Chef des Rauschgiftdezernats spricht von einer Kokainepidemie. Repression hat bisher nichts bewirkt. Braucht die Stadt ein Umdenken? Ein Report.

Der Mann betreibt einen Club in Kreuzberg, hat den Aufstieg Berlins zur Techno-Metropole miterlebt. Und er sieht jedes Wochenende, was das mit der Stadt gemacht hat. Mit Namen zitiert werden will er nicht, um den eigenen Club nicht in Verruf zu bringen. Doch man müsse, das bestätigen Türsteher und Barkeeper überall in der Stadt, nach 3 Uhr bei jedem Gast – ob männlich, weiblich, Berliner, Tourist – davon ausgehen, dass er „was genommen“ habe. „Ich erwarte“, sagt der Mann, „dass die Leute diskret ziehen. Wer erwischt wird, muss gehen.“ Der Chef der Berliner Drogenfahndung, Olaf Schremm, formuliert es so: „Es gibt Anzeichen für eine Kokainepidemie.“

Es ist ein Ritual, das alltäglich ist in Berlin. Die Feiernden holen eine EC-Karte aus dem Portemonnaie. Dann öffnen sie ein Eppendorfgefäß, das ist eine durchsichtige Plastikampulle, die Laboranten für Proben nutzen. In Berlin gibt’s darin Kokain; ein abendfüllendes Gramm pro Ampulle. Kokain bildet oft Brocken, weshalb es mit der EC-Karte platt gerieben, dann als Pulver zu Linien geschoben wird. Drei, vier Zentimeter lang für die Empfindsameren; sechs, sieben für die Geübteren. Durch einen gerollten Geldschein werden sie in die Nase gezogen.

Im Nachtleben, in der Suchthilfe, unter Polizisten bezweifelt niemand, dass sich solche Szenen in Berlin jeden Abend tausendfach abspielen. Am Wochenende zehntausendfach. Oft sind die Toilettenkabinen der Clubs von zwei, drei, vier Leuten zugleich belegt, während vor der Kabinentür die nächste Clique auf eine Gelegenheit zum Ziehen wartet. Repression bringt bisher weniger.

Trotz all der Kontrollen in Häfen und Airports, trotz all der Razzien ist der Kokainpreis in Europa über die Jahre gefallen. In Berlin sowieso. Vor der Wende musste der Stoff (im Osten war Kokain fast unbekannt) an DDR-Grenzern oder den Alliierten, die den Flugverkehr überwachten, vorbei in die ummauerte Stadt geschmuggelt werden.

Vorbei. Heute gibt es Kokstaxis, mobile Dealer, deren Nummern die Feiernden kennen. Werden die Fahrer angerufen, liefern sie innerhalb einer Stunde. Ein volles Eppendorfgefäß für 60 Euro. „Wir gehen davon aus, dass in Berlin öfter konsumiert wird“, sagt Drogenfahnder Olaf Schremm. Neben den Kokstaxis breite sich der Straßenverkauf aus. Vom Kiez um das Kottbusser Tor über den Görlitzer Park und das Schlesische Tor bis zum RAW-Gelände. Und das Kokain ist heute stark: „60, 70 Prozent Reinheit sind üblich.“

Schremm, 59 Jahre alt, sitzt im Landeskriminalamt, dem LKA, in Tempelhof. Er kennt die Clubs nicht von innen, er hält Chaos nicht für kreativ und die Tassen, Schränke und Uhren seines Büros sehen nach dem West-Berlin von 1989 aus. Doch Schremm kennt die Lage im Jahr 2019 gut. Illegale Drogen werden, das weiß er, absehbar aus Berlin nicht wegzukriegen sein. Deshalb sagt er, was Berliner LKA-Dezernatsleiter vor einigen Jahren so nicht gesagt hätten: „Wir sollten einen neuen Umgang mit Kleinstmengen Kokain finden.“

Die Silhouetten eines Mannes und einer Bierflasche zeichnen sich am 29.06.2015 auf der Warschauer Brücke in Berlin vor dem Abendhimmel ab.
Total legal. Die meisten konsumieren psychoaktives Ethanol - also Bier, Sekt oder Wodka.
© picture alliance / Florian Gaertner

Bisher gibt es das nur für Cannabis. Der Senat hat erklärt, bis zu 15 Gramm seien möglicher Eigenbedarf eines Erwachsenen, Verfahren zu dieser Menge werden oft eingestellt – auch, um Polizei und Justiz zu entlasten. Der Berliner Vizechef des BDK, Bund Deutscher Kriminalbeamter, Carsten Milius, sagt: „Das absolute Drogenverbot ist oft eher Problem als Lösung.“ Und die Landesdrogenbeauftragte Christine Köhler-Azara diagnostiziert: Die gesellschaftliche Sicht auf illegale Drogen sei deutlich liberaler geworden. Könnte es also bald ein Umdenken in der Drogenpolitik geben? Auch für harten Stoff?

DIE EPIDEMIE

Alle entdeckten Drogendelikte nahmen in Berlin von 2017 bis 2018 zu: plus 7,4 Prozent auf 17 300 Fälle, der höchste Stand seit zehn Jahren. Bei Kokainverstößen waren es 17 Prozent Plus auf 1400 Fälle. Zwar wird mehr gefunden, wenn mehr kontrolliert wird, insofern haben solche Zahlen begrenzte Aussagekraft. Doch auch der Jahresbericht 2019 der EU-Beobachtungsstelle für Drogen in Brüssel zeigt: Die Kokainspuren, die in Berlins Abwasser gemessen wurden, verdoppelten sich in drei Jahren. Jeder Mensch (also auch jeder Drogenkonsument) geht zur Toilette – und so landen Rückstände der Betäubungsmittel über den Urin irgendwann in der Kanalisation. Alle Substanzen hinterlassen nur winzige Spuren, für Chemiker aber sind sie ausreichend gut messbar.

In Dortmund, Amsterdam und Bristol schwimmen den EU-Beamten zufolge noch mehr Kokainreste im Abwasser. Der Trend ist fast überall in Europa klar: Die Verfügbarkeit von Kokain befinde sich „auf einem Rekordhoch“. Von einer „Uberisierung“ des Kokainmarkts sprechen die EU-Beamten, weil der Handel so zügig wie die private Fahrdienstvermittlung funktioniere.

Berlin lebt den Rausch. Und braucht ihn vielleicht auch. München hat BMW, Hamburg den Hafen, Berlin das Berghain. Den Tresor, das about blank, das Kater blau … Obwohl viele Clubs wegen strengerer Lärmauflagen und steigender Mieten schließen, ist das Nachtleben in Berlin ein entscheidender Wirtschaftssektor. Mit internationaler Anziehungskraft. Dass in Berlin viel gezogen, geraucht, geschluckt wird, ist Folge des Weltrufs, den diese Stadt als Kulturmetropole, als Hort der Liberalität genießt.

Vor dem Landgericht Berlin sind derzeit sechs Männer angeklagt, die einen Kokstaxi-Dienst betrieben haben sollen. Sechs Kilogramm Kokain verkauften sie demnach in zehn Wochen, belieferten an guten Tagen 170 Kunden, nahmen insgesamt 430 000 Euro ein. Das Telefon klingelte von 9 bis 24 Uhr, am Wochenende länger.

Es muss nicht Kokain sein. Vor einem Jahr stellte Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci, SPD, eine Umfrage unter fast 900 Party- und Clubbesuchern vor: 32 Prozent gaben an, im vergangenen Monat das verschreibungspflichtige Narkosemittel Ketamin genommen zu haben, 36 Prozent Kokain, 49 Prozent Ecstasy, 62 Prozent Cannabis. Am häufigsten wurde allerdings psychoaktives Ethanol konsumiert – beispielsweise Bier, Sekt, Wodka.

All die Rauschmittel dienten der Studie zufolge dem „Befindlichkeitsmanagement“, also als Wachmacher, um kommunikativer zu werden oder zur Beruhigung. Selten wurden Crystal Meth und Heroin genommen, das für Uneingeweihte ohnehin schwerer zu bekommen ist. Die Befragten hatten überdurchschnittlich oft einen Hochschulabschluss. Die Umfrage war allerdings nicht repräsentativ.

Insgesamt starben 2018 in Berlin 191 Männer und Frauen an illegalen Drogen, 23 mehr als 2017. Fast 100 davon mit Heroinbezug, was in der Partykultur selten benutzt wird. Überdosen und Mischkonsum können aber dazu führen, dass auch Feiernden ihr Konsum zum Verhängnis wird.

Hanf-Parade in Berlin
Kommt alles in die Tüte. Marihuana-Fälle werden in Berlin meist eingestellt, wenn es sich um Eigenbedarf eines Erwachsenen handelt.
© DPA/DPAWEB

Aufsehen erregte, als der „Spiegel“ über eine US-Amerikanerin berichtete, die an Methylen-Dioxy-Methyl-Amphetamin starb, dem als MDMA bekannten Ecstasy-Wirkstoff. Die 30-Jährige soll in einer Nacht im Juni 2017 im Berghain zwei Ecstasy-Pillen geschluckt haben. Die müssen jedoch äußerst hoch dosiert gewesen sein, aus Justizkreisen heißt es heute, die Frau habe das Elffache der MDMA-Dosis genommen, die als weitgehend unschädlich gilt.

NEUE WEGE

Drogenfahnder Schremm legt Wert auf Unterscheidungen: zwischen Händler und Konsument, zwischen Marihuana und Kokain, zwischen wünschenswerter Prävention und notwendiger Repression. Dass Marihuanafälle in Berlin meist eingestellt werden, wenn es sich um den Eigenbedarf eines Erwachsenen handelt, sei richtig. Es gebe gute Argumente für Marihuanalegalisierung, sagt Schremm, täglich Schnapsflaschen auszutrinken, sei ja auch nicht verboten. Ecstasy, Kokain, Heroin sollten verboten bleiben.

Doch: „Das Betäubungsmittelgesetz erlaubt, bestimmte Mengen nicht zu verfolgen – das gilt auch für härtere Drogen.“ Paragraf 31a BtMG: Wenn jemand „Betäubungsmittel lediglich zum Eigenverbrauch in geringer Menge anbaut, herstellt, einführt, ausführt, durchführt, erwirbt, sich in sonstiger Weise verschafft oder besitzt“, kann von der Verfolgung abgesehen werden. Circa 75 Prozent der angezeigten Drogenfälle sind Konsumentendelikte, würden all diese Verfahren eingestellt, entlastete das Fahnder, Staatsanwälte, Richter enorm.

Auf den „31a BtMG“ setzt auch BDK-Vize Carsten Milius. Cannabisprodukte sollten komplett legal sein, noch machen sie 62 Prozent der in Berlin registrierten Drogenfälle aus. Bei Kokain, Heroin und Co. müsse unterschieden werden, sagt Milius: „Diejenigen zu verfolgen, die nur konsumieren, ist kontraproduktiv. Es bindet viele Kräfte und die Dealer profitieren, denn der Konsument, dem der Stoff weggenommen wurde, kauft mittelfristig neuen.“ Milius sagt, er beobachte, dass Beamte in Berlin öfter für die Entkriminalisierung plädierten als Kollegen anderer Bundesländer. Die Stadt prägt ihr Personal.

Kisten mit Bananen und schwarzen Päckchen stehen am 04.05.2015 im Landeskriminalamt Berlin auf einem Tisch. In den Banankisten aus Berliner Aldi-Supermärkten sind große Mengen Kokain entdeckt worden.
Per Luftpost. Sobald der BER eröffnet ist, könnten auch mehr Drogen die Hauptstadt erreichen, glauben Experten.
© dpa/Soeren Stache

Allerdings ist in anderen Städten der Prozess schon viel weiter. So stellen die Staatsanwaltschaften in Bremen, Hamburg, Hessen und Niedersachsen bei einem Gramm Heroin und Kokain das Verfahren routiniert ein, in Schleswig-Holstein sogar bei drei Gramm.

Und Berlin?

Anruf bei Dirk Behrendt. Der Grüne ist Justizsenator und könnte die Staatsanwaltschaft anweisen, Paragraf 31a umfassender anzuwenden. „Im Senat gibt es dazu derzeit keine Mehrheit“, lässt Behrendt ausrichten. Innensenator Andreas Geisel von der SPD müsste zustimmen. Aus der rot-rot-grünen Koalition ist zu hören, man streite schon genug über Wohnungsbau, Abschiebungen, Videoüberwachung, da seien Partydrogen keinen neuen Ärger wert. Doch selbst die Grünen sind nur dann offensiv, wenn es um die Cannabislegalisierung geht – über härtere Drogen diskutieren sie öffentlich ungern. Intern heißt es vage, das habe auch damit zu tun, dass der Grünen-Bundespolitiker Volker Beck 2016 in Schöneberg mit 0,6 Gramm Crystal Meth erwischt worden sei.

Die Opposition aus CDU, FDP, AfD steht ohnehin für eine harte Linie. Und noch gibt es auch in der Polizei viele, die warnen. Norbert Cioma ist Landeschef der einflussreichen Gewerkschaft der Polizei. Er sagt: „Wir halten eine Legalisierung jeglicher Drogen für hochgefährlich, weil sie in jedem Fall eine berauschende Wirkung mit sich bringen, die enorme negative Auswirkungen auf das Verhalten haben kann. Wer sich zudröhnt, ist nicht Herr seiner Sinne und gefährdet andere, wir haben auch eine Verantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen.“ Zudem sei unklar, ob straffreier Verkauf zu weniger Kriminalität führe, denn Konsumenten müssten die Droge immer noch bezahlen.

DROGEN – ABER SICHER?

Noch hat sich in der Strafverfolgung politisch wenig getan. Die Senatsgesundheitsverwaltung wagt nun einen eigenen Vorstoß – um wenigstens Überdosen und Mischkonsum zu verhindern. Nach dem Sommer wird Gesundheitssenatorin Kalayci das sogenannte Drug-Checking offiziell einführen. Das ist in Zürich und Wien seit Jahren Praxis, in Deutschland aber einmalig. Die Idee: Interessierte geben Proben ihrer Pillen und Pulver anonym bei Beratungsstellen ab, und zwar ein paar Tage bevor sie diese Drogen nehmen wollen. Konsumenten müssten sich also am Mittwoch auf das Partywochenende vorbereiten. Die Proben werden in einem Labor überprüft auf Dosis, Streckmittel, Schmutz.

Über einen Aliasnamen oder einen Zahlencode kann der Konsument das Analyseergebnis online, telefonisch oder beim nächsten Treffen erfragen. Dem Konsumenten wird immer ein Beratungsgespräch über die Risiken angeboten. „Berlin ist die Partyhauptstadt“, sagt Senatorin Dilek Kalayci. „Deshalb ist mir Aufklärung wichtig. Drogen sind für Berlin nicht nur ein Kriminalitätsproblem, sie sind auch eine gesundheitspolitische Herausforderung.“

Kokain ist die neue Modedroge
Nase voll. Pulver und Pillen sollen in Berlin straffrei auf ihre Qualität geprüft werden. In Deutschland ist das einmalig.
© imago images / fStop Images

In der Feierszene dürften Monate vergehen, bevor solche Angebote angenommen werden. Oft kaufen Konsumenten ihre Mittel erst auf dem Weg zum Club. Spräche sich aber herum, was in dieser oder jener Pille enthalten ist – so die Hoffnung –, könnte sich eine Kultur des Qualitätsbewusstseins entwickeln. Die Abgabe der Probe bleibt jedenfalls straffrei, das hat ein vom Senat angefordertes Rechtsgutachten ergeben. Berlins Staatsanwaltschaft ist informiert und willigt ein, Besucher und Mitarbeiter der Drug-Checking-Stationen nicht zu verfolgen – noch vor zwei, drei Jahren sahen die Ankläger das anders.

Vielleicht hätte ein Drug-Checking der Amerikanerin, die 2017 nach dem Berghain-Besuch starb, das Leben gerettet. Die junge Anwältin war jedenfalls mehrere Tage in Berlin. Ärzte sagen, je nach Körpergewicht drohten ab 100 Milligramm MDMA Nebenwirkungen wie Bluthochdruck, Überhitzung, Dehydrierung. In Berlin kursieren Ecstasy-Pillen mit 300 Milligramm – ohne dass die Konsumenten die Dosis kennen.

In Zürich werden Rauschmittel für Konsumenten schon seit 2001 getestet. In Wien sind Drogenprüfer auf Festivals unterwegs. In Lissabon laufen Sozialarbeiter durch die einschlägigen Viertel und klären über Gefahren neuer Drogentrends auf. Deutschland hinke da hinterher, sagt Lutz Leichsenring von der Berliner Clubcommission, wenigstens Berlin sei nun deutscher Vorreiter. „Drogenkonsum hat sich bislang nicht verhindern lassen – höchste Zeit, dass wir einen aufgeklärten Umgang damit finden.“ Die Clubcommission arbeite gut mit der Gesundheitsverwaltung zusammen. Seit einigen Monaten bereite man das gemeinsame Projekt „Sonar“ vor. Dabei sollen Fachleute durch Clubs und Festivals ziehen und potenzielle Konsumenten über Risiken aktuell üblicher Drogen aufklären.

KRIMINELLE GESCHÄFTE

Kaum einen anderen Sektor überlässt der Staat komplett der Unterwelt. Weil Kokain, Ecstasy und Co. illegal sind, verdienen an ihnen nur: Kriminelle. Und weil die Strafen für Drogenhandel hoch sind, beschäftigen sich diese Kriminellen damit hauptberuflich. Die Prohibition erzeugt Prohibitionsprofiteure. Schmuggel, Verkauf, Geldwäsche, Kontrahenten abwehren und Polizisten täuschen, das alles erfordert Professionalität. Wer seine Versicherung betrügt oder mal in der Kneipe zuschlägt, entwickelt daraus meist keinen Lebensstil. Wer Drogen handelt, schon.

Es geht schon in Lateinamerika los. Kokain wird dort durch Einsatz heftiger Chemikalien aus Kokablättern gewonnen, die Bauern für mafiöse Kartelle anbauen. Nach Revierkämpfen, Bestechungen, Nötigungen kommt das Kokain nach Europa. In Berlin verteilen es arabische Clans, Rocker, osteuropäische Cliquen und Ex-Hooligans. „Im Drogenhandel mischen viele Gruppen mit“, sagt Drogenfahnder Schremm. „Den einen Paten gibt es nicht.“ Regelmäßig gibt es Festnahmen. Die Nachfrage aber bleibt hoch, es findet sich immer jemand Neues, der sie bedienen will.

Polizeibeamte führen mit Handschellen einen festgenommenen Mann nach einer Razzia in einem Wohnhaus in Tempelhof ab.
Hand drauf. Der Chef des Rauschgiftdezernats befürwortet eine Eigenbedarfsregelung auch für harte Drogen.
© picture alliance/Paul Zinken

Unter Dealern herrscht eine gnadenlose Kultur. Im März 2016 tötete eine Autobombe einen 43-jährigen Türken auf der Bismarckstraße. Der Mann saß zuvor in Polen wegen Kokainhandels in Haft. Es heißt, verärgerte Geschäftspartner wollten ein Exempel statuieren. Tiefer in der Hierarchie eskaliert es öfter. Erst in diesem Sommer stach ein Mann aus Guinea einen Landsmann im Görlitzer Park nieder. Die beiden Männer, heißt es aus Justizkreisen, hätten sich um einen Dealerplatz gestritten.

Der Manager des Parks, Cengiz Demirci, hatte vor einigen Wochen vorgeschlagen, mit rosa Strichen auf dem Boden den Dealern eigene Stehplätze zu markieren. So sollten die sich besser im Park verteilen und die Besucher nicht schon am Eingang bedrängen. Die CDU nannte das „Einladung zum Rechtsbruch“ – dabei hatte Demirci nur den ziemlich deutschen Impuls, ein wenig Ordnung ins Chaos zu bringen. Am bekanntesten Drogenmarktplatz des Landes scheiterte auch die vom früheren CDU-Innensenator proklamierte Null-Toleranz-Strategie. Zwar griffen Polizisten täglich Dealer auf. Doch selbst wenn einer verurteilt wurde, übernahm den Platz bald ein neuer. Lohnt sich die Mühe noch?

Der Chef des Rauschgiftdezernats hat die Frage erwartet. Schremm antwortet diplomatisch: „Wir setzen vom Parlament beschlossene Gesetze um.“ Der Drogenmarkt ändere sich derzeit übrigens erneut, neben den Liefertaxis und dem Straßenverkauf passiere gerade bei synthetischen Drogen viel im Netz: „Man erhält über Kontakte einen Zugang zum Darknet, bestellt anonym ein Rauschmittel bei jemandem, der beispielsweise in Asien sitzt. Der beauftragt in Berlin jemanden, die Droge herzustellen oder zu besorgen. Ist der Stoff da, informiert der Mann aus Asien einen Dritten, der die Droge vom Hersteller abholt und zum Kunden bringt.“ Die Beteiligten kennen sich untereinander nicht, Überblick hat nur der Mann am Rechner in Asien.

Ermittler rechnen damit, dass mehr Drogen in Berlin angeboten werden könnten, sollte der Flughafen BER eröffnen. Denn nach wie vor sitzen in Linienflügen vereinzelt auch Schmuggler. Nicht jede Lieferung wird erkannt, wenn Schmuggler mit Kokain gefüllte Kondome schlucken und – wenn alles klappt – nach Landung ausscheiden. Weil nach der BER-Eröffnung mehr Reisende in Berlin landen, dürften darunter auch mehr Schmuggler sein. Vielleicht fallen die Preise abermals.

DER DRUCK STEIGT

Weltweit plädieren immer mehr namhafte Politiker für eine Legalisierung aller Drogen. Mexikos früherer Präsident Vicente Fox war als Konservativer angetreten, in seinem Land starben täglich Dutzende Männer und Frauen bei Kämpfen zwischen den Drogenkartellen. Nach seiner Amtszeit sagte Fox 2010: Anbau, Vertrieb und Konsum aller Drogen sollten erlaubt werden. Auch die früheren EU- und UN-Generalsekretäre Javier Solana und Kofi Annan schrieben: „Der Krieg gegen die Drogen ist gescheitert.“

In Portugal wird seit 2001 deutlich zwischen Konsumenten und gewerbsmäßigen Dealern unterschieden. Der Besitz von bis zu einem Gramm Heroin, zwei Gramm Kokain und bis zu zehn Ecstasy-Pillen wird nicht bestraft. Die Mengen gelten als Eigenbedarf und werden als Ordnungswidrigkeit geahndet: Wer damit erwischt wird, muss zur – grob übersetzt – Anti-Drogensucht-Kommission, die aus Juristen, Sozialarbeitern und Psychologen besteht. Die Fachleute erörtern das Suchtverhalten des Erwischten, gegebenenfalls zahlt er Bußgeld, leistet gemeinnützige Arbeit oder muss zur Therapie. Die Zahl der Süchtigen, der Drogentoten und Taten der Beschaffungskriminalität, heißt es aus Portugal, seien nicht gestiegen.

In Berlin beobachtet Astrid Leicht seit Jahrzehnten den Umgang mit Drogen – und dessen Folgen. Leicht, 54 Jahre, ist die Chefin von „Fixpunkt“. Für den Verein arbeiten 50 Sozialarbeiter, Pflegekräfte, Mediziner. Ziel sei es, vorurteilsfreie Drogenhilfe anzubieten. „Drogen besorgen sich sogar Häftlinge in gut bewachten Gefängnissen, wieso sollte das auf den Straßen einer Großstadt in den Griff zu kriegen sein?“

Vor der Wende erlebte die Diplompädagogin, wie Bekannte an Heroin zugrunde gingen, wie Strafverfolgung und Verachtung dazu führten, dass Konsumenten irgendwann nur noch Dealer, Komplizen und einen Arzt kannten.

WAS NUN?

Nach der Wende beobachtete Leicht, wie Techno das Nachtleben revolutionierte. Aufputschendes wie Speed, Ecstasy, Kokain eroberte Berlin. Heute fährt Fixpunkt mit sechs Fahrzeugen durch die Stadt. Darin gibt es ärztliche Sprechstunden, saubere Spritzen, Röhrchen, Tupfer und Sozialberatung. Mehr Hygiene, weniger Überdosen, mehr Risikoaufklärung. Das alles erreiche man am besten, sagt Leicht, wenn auch harte Drogen von Fachleuten abgegeben würden statt von Gangstern. In Berlin gibt es bereits eine Arztpraxis, die Heroin an Abhängige unter Aufsicht ausgibt. Bald soll eine zweite hinzukommen.

Eine komplette Legalisierung wird ein Berliner Senat nicht durchsetzen. Betäubungsmittel sind Bundessache und durch eine Bundesratsinitiative aus Berlin allenfalls beeinflussbar. Doch der politische Druck gegen die Prohibition könnte sich hier aufbauen. Die Argumentation der Befürworter einer Liberalisierung ist simpel: Wenn, beispielsweise, Bayer oder Merck nach klaren Standards geeignete Anbauflächen und Labore für Kokasträucher betreiben, die Droge nur in lizensierten Läden und nur nach Altersnachweis erhältlich ist, dann werden Kolumbiens Bauern womöglich nicht von Paramilitärs drangsaliert, sind einige Clankriminelle in Berlin pleite und Cengiz Demirci kann sich im Görlitzer Park um Volleyballturniere kümmern. Das Geld, das die Strafverfolgung kostet, könnte in die Prävention fließen.

Hannes Heine

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