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Ein Pinguin steht auf einer wegschmelzenden Eisscholle.
© REUTERS

Sagt was, Wissenschaftler!: Zurückhaltung bei Klimaschutz und Gleichstellung wäre fatal

Wissenschaft kann in diesen Zeiten nicht unpolitisch sein. Ein Plädoyer für eine gesellschaftlich engagierte Forschung.

Der Historiker Jürgen Kocka hat hier am 26. September die Debatte über Wissenschaft und politische Verantwortung eröffnet. „Werdet nicht zu Propagandisten!“, appellierte Kocka. Wissenschaftler sollten sich zwar politisch engagieren, dürften dabei aber nicht ihre Verhaltensregeln verletzen. So warnt Kocka vor Vereinfachungen bei Protesten und in Petitionen. Jetzt erwidern ihm Jutta Allmendinger, die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), und WZB-Kommunikationschef Harald Wilkoszewski.

Wie politisch ist Wissenschaft, wie politisch soll und darf sie sein? Wie stark sollen sich Forscherinnen und Forscher gesellschaftlich und politisch engagieren, etwa konkrete Reformvorschläge entwickeln und unterstützen? Die Frage nach ihrer Unabhängigkeit vom und im politischen Raum beschäftigt Geistes- und Sozialwissenschaftler seit jeher. Lange Zeit wurde ihnen zu viel Distanz vorgeworfen.

Der sprichwörtliche Elfenbeinturm beherrschte das Bild vom Wissenschaftler, der jenseits des wirklichen Lebens bequem vor sich hin werkelt; der sich die Finger nicht an konkreten Fragen beschmutzt; der nur ausnahmsweise aus dem Turm hinabsteigt, Wissen verkündet und sich danach schnellstens wieder an seinen Schreibtisch, in seine Komfortzone begibt – ohne dass eine wirkliche Auseinandersetzung mit seinen Adressaten stattfindet.

Dieses Bild ist nicht mehr zeitgemäß. Jeden Tag mischen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in aktuelle Debatten ein. Sie geben Interviews, argumentieren in Diskussionsrunden, schreiben Expertisen mit konkreten Vorschlägen für Politikreformen, engagieren sich bei Kampagnen wie den Scientists for Future. Sie sind mittendrin im Leben, haben den Elfenbeinturm längst verlassen.

Sozialwissenschaften können gar nicht unpolitisch sein

Und werden dafür nun immer häufiger kritisiert: Die nötige Distanz zum Untersuchungsgegenstand fehle; Ergebnisse würden aufgrund einer Anpassung an die Logik der schnelllebigen Medien vereinfacht und verkürzt dargestellt; ein wissenschaftlicher Konsens vorgegaukelt, den es so gar nicht gebe – schlimmer noch: Das oberste Prinzip der modernen Wissenschaft, die Falsifizierbarkeit, laufe Gefahr, zugunsten einfacher Lösungen aufgegeben zu werden. Diese Kritik ist aus drei Gründen überzogen.

Die Sozialwissenschaften können gar nicht unpolitisch sein – und das gilt für viele andere Disziplinen auch. Alle wichtigen Forschungsfragen unserer Zeit sind hoch politisch, denn sie betreffen zentrale Lebensbereiche der Menschen, die politisch gestaltet werden. Über Demokratie, Integration, Gleichstellung oder soziale Ungleichheit zu forschen, bedeutet automatisch, politisch zu wirken.

Ein Porträtfoto von Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.
Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.
© Boris Schaarschmidt/WZB

Mehr noch – halten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wichtige Ergebnisse in den Händen, dürfen sie sie nicht in die Schublade stecken. Sie müssen mit ihnen die Lösung gesellschaftlicher Probleme mitgestalten. Denn Forschende werden als Übersetzer gebraucht. Die mit oft komplexen Methoden erarbeiteten Befunde bedürfen der Interpretation durch den Experten oder die Expertin.

Es steht außer Frage, dass die Ergebnisse nachvollziehbar, die verwendeten Methoden und Daten transparent sein müssen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beeinflussen in Deutschland regelmäßig die Gesetzgebung, indem sie konkrete Empfehlungen aus ihren Forschungsergebnissen ableiten und in die politische Diskussion einbringen. So haben Arbeiten von Forschenden des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) bewirkt, dass beispielsweise die gesetzlichen Regelungen für Berliner Privatschulen geändert werden sollen.

Vorschläge für eine Verkehrswende in Deutschland

Die Wissenschaftler konnten nicht nur nachweisen, dass das Sonderungsverbot an den Privatschulen systematisch verletzt wird, also Kinder aus sozial schwachen Haushalten bei der Zulassung benachteiligt sind. Sondern sie gaben auch klare Empfehlungen, wie Abhilfe zu schaffen ist. Nur durch eine intensive Auseinandersetzung mit politischen Entscheidungsträgern und Verbandsvertretern, die heftigen Widerstand leisteten, konnte erreicht werden, dass nun an einer Reform gearbeitet wird.

Daneben erforschen Verhaltensökonominnen des WZB die Frage, wie Matching-Prozesse besser gestaltet werden können: Was ist an der zentralen Studienplatzvergabe zu verändern, wie können Organspender und Organempfänger effizienter in Übereinstimmung gebracht werden? Und die Mobilitätsforscher des Instituts bringen klare Vorschläge für die Verkehrswende in Deutschland ein – alles basierend auf exzellenter Forschung.

Dass Forscherinnen und Forscher, die sich aktiv in die politische Diskussion begeben, die Exzellenz von Wissenschaft aufs Spiel setzten, ist eine ziemlich deutsche Sichtweise. Der Blick nach Großbritannien zeigt: Die direkte Beeinflussung politischer Entscheidungen durch wissenschaftliche Evidenz ist nicht nur gängige Praxis. Der Impact von Forschung ist mittlerweile zu einem der maßgeblichen Kriterien geworden, an denen sich die Leistung von Departments und einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler messen lassen muss.

Wer Kampagnen unterstützt, ist kein Propagandist

In Evaluierungsberichten, anschaulich verfasst, zeichnen sie minutiös nach, wie ein Forschungsergebnis in konkrete Reformempfehlungen übersetzt und dann schließlich zu neuer Politik wird. Je höher der Impact, desto besser die Evaluierung, desto mehr Forschungsgelder. Jenen, die darin ein Problem für wissenschaftliche Standards sehen, sei entgegnet: Das Vereinigte Königreich ist nach wie vor einer der begehrtesten und erfolgreichsten Wissenschaftsräume der Welt, seine Universitäten gehören zur globalen Spitze. Eine systematische Beeinträchtigung der Qualität oder Unabhängigkeit von Forschung ist jedenfalls nicht auszumachen.

Forscherinnen und Forscher werden auch nicht zu Propagandisten, wenn sie Kampagnen unterstützen. Der Schulterschluss über Fachgrenzen hinweg und mit anderen gesellschaftlichen Akteuren bleibt zuweilen das einzig wirksame Mittel, um überfällige Reformen anzustoßen.

Ein Porträtfoto von Harald Wilkoszewski, Leiter der Kommunikation am WZB.
Koautor Harald Wilkoszewski, Leiter der Kommunikation am WZB.
© David Ausserhofer/WZB

Es gibt einen immensen Reformstau in einigen Bereichen des Landes. Stellvertretend seien drei genannt: Die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern hinkt im internationalen Vergleich immer noch weit hinterher, gerade auf dem Arbeitsmarkt. WZB-Studien zeigen: Frauen werden beispielsweise bei der Jobwahl systematisch diskriminiert. Das ist schlecht für die gesamte Gesellschaft; genauso wie die ungleiche Verteilung von Bildungschancen zwischen Kindern aus armen und reichen Elternhäusern oder jenen mit und ohne Migrationsgeschichte – ein Befund, der seit Jahrzehnten bekannt ist.

Angriffe auf die Freiheit von Forschung und Lehre

Eindeutig auch die Befunde zum Klima: 99 Prozent der Klimaforscher, die in Fachzeitschriften veröffentlichen, halten den Klimawandel für menschengemacht. Die Lösung heißt: weniger CO2. Es gibt ein internationales Abkommen dazu. Allein: Die politische Umsetzung bleibt aus, mit massiven Folgen für die gesamte Welt. Es ist weder verwerflich, noch schadet es der wissenschaftlichen Integrität, wenn sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hier zusammentun und gemeinsam mit der jungen Generation den Druck auf die Politik erhöhen.

[Den Beitrag des Berliner Sozialhistorikers Jürgen Kocka, der die Debatte eröffnet hat, finden Sie hier.]

Nicht zuletzt sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler besonders dieser Tage dazu aufgerufen, Kampagnen in eigener Sache zu machen. Denn die Angriffe auf die Freiheit von Forschung und Lehre reißen nicht ab, die Kommentare in den sozialen Medien sind voll davon. Genderforscherinnen etwa sehen sich ob ihres Forschungsthemas persönlichen Drohungen ausgesetzt.

Das WZB wurde von der Thüringer AfD-Landtagsfraktion vor dem Berliner Landgericht verklagt, Teile eines Discussion Papers über die Arbeit der Partei in den bundesdeutschen Landtagen zurückzunehmen, da sie angeblich die Persönlichkeitsrechte der Faktion verletzten. Dem Forschungspapier wurde gleichzeitig pauschal die Wissenschaftlichkeit abgesprochen. Zwar wies das Gericht die Klage mit klaren Worten zurück, dennoch zeigt dieser in der bundesdeutschen Wissenschaftsgeschichte bislang einmalige Angriff, dass die Freiheit zum wissenschaftlichen Arbeiten verletzlich und keine Selbstverständlichkeit ist.

Es gilt, sich für die Wissenschaftsfreiheit sichtbar und nachdrücklich zu engagieren. So wie es erst kürzlich mit der Kampagne der Allianz der Wissenschaftsorganisationen geschah. Zurückhaltung ist hier nicht angezeigt, sie wäre fatal. Für die Wissenschaft. Und letztendlich auch für die Freiheit unserer Gesellschaft.

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