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Eine Demonstration im Klimastreik vor dem Brandenburger Tor in Berlin.
© imago images/Future Image

Sollten Wissenschaftler Politik machen?: Forscher, werdet nicht zu Propagandisten!

Wissenschaftler sollen sich politisch engagieren, aber dabei nicht ihre Regeln verletzen. Petitionen und Protest führen zu groben Vereinfachungen. Ein Plädoyer.

Unser Gastautor Jürgen Kocka ist Sozialhistoriker, emeritierter Professor an der Freien Universität Berlin und war Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.

Wissenschaft macht Politik. Jedenfalls der öffentliche Einfluss der Wissenschaft auf die Politik hat zugenommen. Das mag daran liegen, dass es immer mehr Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gibt; dass sie heute mehr Lust zum außerwissenschaftlichen Engagement haben als früher; dass angesichts verbreiteter Ratlosigkeit die mediale Nachfrage nach wissenschaftlicher Kompetenz steigt. Oder weil Politikbereiche nach vorn gerückt sind, in denen es ohne Wissenschaft wirklich nicht geht, etwa der Kampf gegen Erderwärmung, der Umgang mit der Digitalisierung oder die Politik der sozialen Sicherungssysteme.

Es ist gut, Wissenschaft nicht nur im Elfenbeinturm zu betreiben. Die zunehmende Komplexität der Verhältnisse braucht wissenschaftlichen Sachverstand. Es gehört zum aufklärerischen Selbstverständnis der Wissenschaft, in der Öffentlichkeit zu wirken. Die Gesellschaft hat ein Recht, von der Wissenschaft, die sie fördert, etwas zurückzubekommen.

Das zunehmende Engagement der Wissenschaft ist Teil einer tiefgreifenden Demokratisierung des öffentlichen Lebens, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat, vor allem durch den Aufstieg der Zivilgesellschaft, zu der die Wissenschaft teilweise gehört. Aber bei aller Genugtuung über den Trend sind einige kritische Überlegungen angebracht.

Zunächst ist vor Selbstüberschätzung zu warnen. Einerseits sollte klar sein: Die Formulierung politischer Ziele ist die Sache demokratischer Politik. Wissenschaft hat dazu keine Legitimation. Andererseits sind wir weit von einer wirklichen Verwissenschaftlichung der Politik entfernt.

Mischt sich die Wissenschaft ein, ist ihre Autonomie bedroht

Zentrale Entscheidungen werden gegen den Rat aus der Wissenschaft durchgesetzt: der abrupte Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland, der Brexit, die Zerstörung des Freihandels durch Trump. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Erderwärmung, ihre Ursachen und Folgen liegen seit Langem vor. Zur Umweltbewegung wurden sie erst aufgrund nichtwissenschaftlicher Anstöße. Schließlich: Wissenschaftler sind sich selten einig.

Je stärker sich Wissenschaft politisch einmischt, desto mehr wird ihre Autonomie zum Ziel politischer Angriffe. In Ungarn ist das zu beobachten. In Deutschland ist Wissenschaftsverachtung auf rechte Randgruppen beschränkt. Dass sie in der AfD eine Rolle spielt, zeigt, dass diese Partei eben keine ganz bürgerliche ist, denn zur Bürgerlichkeit gehört seit jeher der Respekt für Wissenschaft.

Aber auch hierzulande gerät Wissenschaft leicht unter Druck, wenn sie sich nah an die Kämpfe der Politik heranwagt. Ein Berliner Beispiel: Peter Schäfer leitete das Jüdische Museum erfolgreich, orientiert an wissenschaftsnahen Prinzipien, auch als Ort pluraler Diskussion. Nach identitätspolitischen Interventionen, unter anderem durch die Regierung Netanjahu, musste er im Juni 2019 seinen Platz räumen.

Was folgt für die Wissenschaft aus ihrer zunehmend politischen Rolle? Übernimmt, beschädigt sie sich damit? Was sollte geschehen, um dies zu vermeiden? Zum Kern des wissenschaftlichen Verhaltens gehören der Zweifel, die Skepsis, die Selbstkritik. Als Produzent wissenschaftlicher Einsichten weiß und betont man, wie begrenzt ihre Aussagekraft häufig ist, wie bestreitbar und relativ, nämlich abhängig von den gewählten Begriffen und Untersuchungsmethoden.

Ein Porträt des Historikers Jürgen Kocka.
Unser Gastautor Jürgen Kocka.
© David Ausserhofer/WZB

Im Interview, beim Verfassen einer Petition oder auf einer Protestaktion ist die Versuchung riesengroß, nicht nur grob zu vereinfachen, sondern sich auch eindeutiger und sicherer zu geben, als man ist – im Dienst an der politischen Sache, im Streben nach Sichtbarkeit, in Anpassung an den Stil der Medien. Aber als Wissenschaftler verliert man dadurch an Glaubwürdigkeit. Die wissenschaftliche Rezensionstätigkeit sollte auf die öffentlichen Auslassungen der Kollegen und Kolleginnen ausgedehnt werden.

Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen haben oft starke politische Überzeugungen, heute – anders als früher – meist eher links von der Mitte, liberal, progressiv, kosmopolitisch. Es gibt auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften das methodische Werkzeug, diese Einstellungen, die man begrüßen mag oder nicht, daran zu hindern, ungefiltert auf Fragen und Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung durchzuschlagen. Unter anderem geschieht dies durch die explizite Offenlegung der eigenen Selektivität und die Anerkennung konkurrierender Ansätze. Aber bei der Umsetzung wissenschaftlicher Einsichten in politische Argumente geht diese Selbstrelativierung oft verloren. Engagement und Wissenschaftlichkeit können sich beißen.

Über Armut schreiben - aber mit den richtigen Begriffen

Am Beispiel der Armutsdiskussion: Hierzulande gilt als von Armut bedroht, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zum Leben hat. Es gibt Gründe für einen solchen relativen Armutsbegriff, aber man muss wissen, dass er in wohlhabenden Gesellschaften wie der unseren äußerst wenig aussagt über Not, Entbehrung und Verelendung, sondern ein Ungleichheitsmaß ist. Wir könnten alle ohne Ausnahme dreimal so viel verdienen wie jetzt, die Armutsquote – nach dieser Methode um die 15 Prozent – würde dadurch nicht verändert, solange die Verteilung gleichbliebe.

Es gibt andere, existenziellere Armutsbegriffe, die mehr über Entbehrung, Leiden und Verletzung der Menschenwürde aussagen. Wenn man sie benutzte, wäre die messbare Armut um ein Vielfaches geringer. Solche Implikationen des Armutsbegriffs muss man bedenken und aussprechen, wenn man als Wissenschaftler öffentlich über Armut diskutiert. Tut man es nicht, wird man leicht vom Wissenschaftler zum Propagandisten.

Eingang zur Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Innerwissenschaftliche Kritik funktioniert am besten in Wissenschaftsakademien wie der Berlin-Brandenburgischen.
© Doris Spiekermann-Klaas

Ähnliches ließe sich an den öffentlichen Debatten über die angeblich wegbrechende „Mitte“ unserer Gesellschaft und mancher anderen Diskussion zeigen. Die wissenschaftlichen Akteure und Einrichtungen gehen unterschiedlich lasch mit solchen Regelverletzungen um. Die innerwissenschaftliche Kritik an ihnen ist schwach entwickelt. Am besten funktioniert sie in Akademien wie der Leopoldina und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die Gesellschafts- und Politikberatung als Aufgabe wahrnehmen und hierzu penible Verfahren entwickelt haben.

Die Verteidigung der Prinzipien von Wissenschaftlichkeit in Absetzung von der Logik der Medien und des politischen Kampfs liegt nicht nur im Interesse der Wissenschaften und ihrer Integrität, sondern auch im Interesse von Gesellschaft und Politik. Wir erleben derzeit einen tiefgreifenden Strukturwandel der Öffentlichkeit. Es liegt an der harten Konkurrenz der Medien um Aufmerksamkeit, an der Digitalisierung, aber auch am Wandel verbreiteter Mentalitäten, Ansprüche und Selbstdarstellungsformen, dass die Zuspitzung und Segmentierung der öffentlichen Diskurse, die Emotionalisierung und Empörungsbereitschaft der Gesellschaft wie auch die Individualisierung und Fragmentierung der Politik erheblich zunehmen.

Rationale Diskussion und Kompromissbildung werden schwieriger, die Verständigungsfähigkeit nimmt ab. Steile Thesen sind gefragt, Übertreibung wird normal, verbreitete Unsicherheit ist die Folge.

Es gehört seit jeher zur gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaften, speziell der Geistes- und Sozialwissenschaften, aufzuklären, zu kritisieren und Möglichkeitsräume zu erweitern. Aber jetzt wird zusätzlich wichtig: Wissenschaftler müssen helfen, Distanz vom heiß laufenden politischen Betrieb zu schaffen, zu differenzieren, Grautönen zwischen Schwarz und Weiß zu ihrem Recht zu verhelfen, mit Augenmaß und Sinn für Proportion abzuwägen, und zwar öffentlich.

Das können sie aber nur, wenn sie ihre besondere Logik, ihre Autonomie und ihre Zurückhaltung bewahren, statt sich den Verfahren der Lebensgebiete anzupassen, die sie zu beraten, zu kommentieren und zu kritisieren haben.

Jürgen Kocka

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