50 Jahre WZB: Sozialwissenschaft goes Sonnenallee
Das WZB stellt seit 50 Jahren die großen gesellschaftlichen Fragen. Künftig will es noch mehr in die Kieze - um Bürger über die eigene Forschung aufzuklären.
„Sehen Sie sich dieses Gebäude an, das schüchtert die Leute doch ein“, sagt Jutta Allmendinger. Die Soziologin leitet das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, sie übernahm das Amt im Jahr 2007. Seit stolzen 50 Jahren werden im WZB die großen gesellschaftlichen Fragen gestellt, mit unbedingtem Anspruch, auch Antworten zu geben, Fingerzeige, um zu gestalten. Tatsächlich ist es schwer zu glauben, dass sich Personen jenseits von Wissenschaft und Politik in den um postmoderne Neubauten ergänzten, wilhelminischen Prunkbau unweit des Potsdamer Platzes verirren.
Die problemorientierte Grundlagenforschung zur sozialen Lage der Menschen solle diesen aber auch zugänglich werden, sagt Allmendinger. „Wenn die Leute aus nachvollziehbaren Gründen nicht zu uns ins WZB kommen, müssen wir eben zu ihnen gehen.“ Noch stärker als bisher will man sich in den kommenden Jahren daher um den Austausch mit der Gesellschaft bemühen, die geronnenen Erkenntnisse des Elfenbeinturms hinunter auf die Straße tragen. Sozialwissenschaft goes Sonnenallee.
Aufklärung in Neuköllner Kneipen
Schon jetzt ziehen die Forscher mit Brezeln und Bier durch die Kieze, klären in Neuköllner Kneipen über die Ergebnisse ihrer Studien auf. Das WZB will das künftig unter anderem mit Informationsbussen auf Berliner Wochenmärkten ergänzen; zwischen Falafel- und Wurstbuden auf Ursachen gesellschaftlicher Ungleichheit verweisen.
Dabei waren die Anfänge des WZB im Jahr 1969 noch etwas weniger bürgernah. Christ- und sozialdemokratische Parlamentarier betreiben damals die Gründung des Wissenschaftszentrums. Soziologie und Politologie, Wirtschaftswissenschaft und Jura sollen die politischen Akteure beraten. So halten viele das Projekt am Anfang für eine elitäre „Mandarinenuniversität“, einen Thinktank des Establishments. Heftige Studentenproteste gegen eine vermeintliche „Ausbeuter- und Kriegsforscher GmbH“ überschatten die Gründungsphase. Zunächst bilden drei über West-Berlin verstreute Institute eine lose Föderation, erst nach und nach verbessert sich das Verhältnis zu den Universitäten.
Dynamiken der gesellschaftlicher Ungleichkeit
Kurz vor der Wende bezieht das WZB das Gebäude des einstigen Reichsversicherungsamtes am Reichpietschufer, in dem es bis heute residiert. In der sich wiedervereinigenden Stadt wird es unverzichtbar. Aus den ehemaligen Instituten entwickeln sich Abteilungen, die in Überabteilungen zusammengefasst werden. So wie diese räumlich verschmelzen, bündeln sich die Wissenschaftler bald auch inhaltlich. Inzwischen setze man verstärkt auf Brückenprojekte, in denen unterschiedliche Disziplinen und Forschungsgruppen ihre jeweiligen Perspektiven auf ein gemeinsames Problem hin ausrichten, sagt Allmendinger.
Für die Soziologin stellen die Dynamiken gesellschaftlicher Ungleichheit ein übergeordnetes Thema dar. Ihnen auf den Grund zu gehen, ist ihre Lebensaufgabe geworden. Seit Jahren kartiert Allmendinger die Ungleichheiten in der Bildung, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, in der Mobilität und im Geschlechterverhältnis. Die krassen Unwuchten in der ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Kapitalverteilung so gut als möglich zu beheben, ist ihr erklärtes Anliegen.
Die AfD klagte gegen eine WZB-Studie - vergeblich
Auch wenn das nach Kämpfen gegen Windmühlen klingt, gibt es im Kleinen doch Fortschritte. So hat eine Studie des WZB ergeben, dass Privatschulen in Hessen und Berlin das Sonderungsverbot, dem zufolge sie ihre Schüler unabhängig vom Geldbeutel der Eltern auswählen müssen, aufgrund fehlender Kontrollen umgehen. Ein Missstand, den die Politik nun zu beheben hat. Auch sei sie froh, dass die aus der Mitte des Wissenschaftszentrums seit Langem geforderte 32-Stunden-Woche heute immerhin breiter diskutiert werde, sagt Allmendinger – nur ein Beispiel von zahlreichen Debatten, die das WZB initiiert hat.
Oft handelt es sich bei den WZB-Studien um minutiöse und schmucklose wissenschaftliche Kärrnerarbeit. Und doch entfalten sie mitunter breite Wirkung. So fühlte sich die AfD ob einer Untersuchung zur parlamentarischen Praxis der Partei in deutschen Landesparlamenten zu einer Klage vor dem Berliner Landgericht genötigt. Die Studie hatte den Fraktionen nüchtern und klar eine mangelnde Professionalität bescheinigt. Der Versuch, der Freiheit der Wissenschaft ein Bein zu stellen, scheiterte in erster Instanz.
Gefordert: ein Grundrecht auf eine Wohnung
Im Großen und Ganzen sei die sozialwissenschaftliche Expertise noch zu wenig in die politische Praxis überführt worden, meint Allmendinger. Zum Beispiel käme man im Bereich der Bildung nur schleppend voran. Noch immer überwiege in vielen Milieus eine fürs biografische Vorwärtskommen katastrophale Bildungsarmut. „Was mich dabei zusätzlich besorgt, ist, dass zahlreiche Menschen der neoliberalen Erzählung vom fehlenden Fleiß erliegen und ihr Scheitern mehr auf sich selbst als auf hinderliche Strukturen beziehen.“ Auch hier müssten sozialwissenschaftliche Ergebnisse den Menschen besser vermittelt werden. Auf diese Weise munitioniert, könnten die Betroffenen leichter Druck von unten erzeugen.
Parallel dazu wendet sich Allmendinger seit einiger Zeit dem wachsenden Problem der Wohnungsarmut zu. Zwar sei die Situation in Berlin noch nicht so schlimm wie die in Los Angeles, wo Lehrer am Beginn ihrer Karriere teilweise in ihren Autos lebten. „Doch auch hier sehen wir, dass sich selbst Vollzeitbeschäftigte, zum Beispiel zugezogene Bauarbeiter, oft keine Wohnung mehr leisten können. Diese Tendenz wird sich verschärfen.“ Die Politik sei dringend gefordert, zum Beispiel müsse das Recht auf eine Wohnung klarer Bestandteil des Kanons der Grundrechte werden.
Krise des liberalen Ordnungsmodells?
Auch Wolfgang Merkel hält die sozioökonomischen Ungleichheiten für eines der größten Probleme unserer Zeit. Der Politikwissenschaftler leitet die Abteilung „Demokratie und Demokratisierung“, die sich mit den positiven und negativen Entwicklungen von Demokratien im globalen Maßstab befasst. Anders als sein Kollege Michael Zürn von der Abteilung „Global Governance“ möchte Merkel nicht von einer generellen Krise des liberal-demokratischen Ordnungsmodells sprechen.
„Wir haben es vielmehr mit ungleichzeitigen Entwicklungen zu tun“, sagt Merkel. Emanzipatorisch betrachtet – also was Frauen- und Minderheitenrechten angehe – stehe die Demokratie heute ungleich viel besser da als in der angeblich goldenen Phase der 1960er und 70er Jahre.
Gleichzeitig aber habe die seit den 1990er Jahren einsetzende Deregulierungswut, in deren Verlauf auch die Sozialdemokratie den Heilsversprechen eines entgrenzten Marktes verfiel, Lebenschancen unfair verteilt und soziale Sicherungssysteme unterhöhlt. So sei das untere Drittel der Gesellschaft den Stürmen der Globalisierung heute fast schutzlos ausgeliefert. Zudem würden einige Bevölkerungsteile am politischen Prozess nicht mehr teilhaben und stünden mehr oder weniger ohne Repräsentation da. „Wir haben eine ziemlich gut funktionierende Zwei-Drittel-Demokratie“, sagt Merkel. Diese Entwicklung sei – kombiniert mit den massiven Landgewinnen der Rechtspopulisten – doch eine ernste Herausforderung. Die sozial, kulturell und ökonomisch marginalisierten Schichten müsste die Politik wieder glaubwürdig adressieren.
Ein Festakt mit Daniel Barenboim
Beim 40. Jubiläum des WZB vor zehn Jahren mahnte Ralf Dahrendorf, Wissenschaftler sollten wieder stärker als öffentliche Intellektuelle agieren. In der krisengebeutelten Gegenwart gelte das mehr denn je, sagen Merkel und Allmendinger. Gerade heute, da sich die Wissenschaft auch verstärkt gegen systematische Desinformation verteidigen müsse. Den Unterschied zwischen evidenzbasierter Forschung und Fake News zu vermitteln, sei eine zentrale Aufgabe im Zeitalter der Digitalisierung. Natürlich müssten schon Schulen die Fähigkeit zur Quellenkompetenz vermitteln.
Über die Zusammenarbeit mit Kunst, Musik und Film will man am WZB mit neuen Darstellungsformen experimentieren, um der problemorientierten Grundlagenforschung eine größere Reichweite zu geben. Zur Jubiläumsfeier an diesem Mittwoch hat Daniel Barenboim in den Pierre Boulez Saal geladen. Geplant ist ein crossmedialer Festakt zum aktuellen Thema: „Europa. Mythos und Vision“.