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QUEST-Gründungsdirektor Ulrich Dirnagl.
© BIH/Thomas Rafalczyk

Fehlerkultur in der Wissenschaft: Offen und verantwortungsvoll forschen

Transparenz, Offenheit und eine Fehlerkultur sollen die Zukunft des Forschens bestimmen. Dafür steht auch ein Projekt der Berliner Exzellenzstrategie.

Einen Artikel in Fachmagazinen wie „Science“, „Nature“ oder „Cell“ zu veröffentlichen, ist der Traum vieler Wissenschaftler. Denn die Zeitschriften genießen ein hohes Ansehen und versprechen, von der wissenschaftlichen Gemeinschaft wahrgenommen zu werden. Wer dort veröffentlicht, hat gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt und bei Forschungsförderern.

Da sie ein sehr breites Spektrum von Wissenschaftsdisziplinen abdecken, warten die großen Journale nur mit den wirklich relevanten Neuheiten auf. „Die können aus einem Bereich immer nur ganz wenige Sachen publizieren. Und die müssen dann spektakulär sein“, sagt Ulrich Dirnagl, Neurowissenschaftler und Gründungsdirektor des QUEST am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIG). QUEST steht für „Quality, Ethics, Open Science, Translation“. Das Zentrum hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Qualität und Reproduzierbarkeit von biomedizinischer Forschung zu steigern.

Zentrum für verantwortliche Forschung im Berliner Verbund

Diese Idee kann nun dank des erfolgreichen Antrags der Berliner University Alliance in der Exzellenzstrategie dauerhaft weiterentwickelt werden. Ein „Center for Open and Responsible Research“ (CORe), also ein Zentrum für offene und verantwortungsvolle Forschung, soll entstehen. „QUEST hat da schon einige Blaupausen entwickelt“, sagt Dirnagl. Er und seine Kollegen hoffen nun auf eine programmatisch, personell und finanziell unabhängige Institution, die sich mit den Themen Meta-Forschung und Fehlerkultur beschäftigen und so für mehr Offenheit und Transparenz in der Wissenschaft sorgen wird.

Das sei wichtig, denn „der Vertrauensverlust in die Wissenschaft ist ein großes Thema“, betont Dirnagl. Eine Teilschuld trügen auch die großen Journale, die nüchterne Forschungsergebnisse oft reißerisch betiteln. „Nature“ etwa zeigte im April dieses Jahres auf ihrem Titelbild ein Gehirn, das durch eine Sanduhr läuft und sich auf der anderen Seite wieder zusammensetzt, darunter die Worte „Turning back time“, die Zeit zurückdrehen. Die Geschichte dahinter waren Untersuchungen an Hirnen von getöteten Schweinen, die sie an Maschinen anschlossen und sie so mit einer Art Kunstblut versorgten. Anschließend stellten sie „synaptische Aktivitäten“ in den Hirnen fest.

„Da gab es einen totalen Hype“, sagt Dirnagl. Dabei habe es ähnliche Untersuchungen schon vor Jahrzehnten gegeben. Eine Neuheit mit Relevanz wäre das nicht gewesen. Er findet das Geschäftsmodell der großen Journale prinzipiell nicht falsch, aber es produziere oft übertriebene Ergebnisse. Dirnagl und seine Kollegen am Berliner QUEST wollen Forschenden helfen, gute Wissenschaft zu betreiben. „Ein Schwerpunkt ist, den Wissenschaftlern klarzumachen, nicht nur spektakuläre, sondern auch belastbare, robuste Ergebnisse zu produzieren“, sagt Dirnagl. Dazu gehöre etwa, alle Resultate zu veröffentlichen, auch die negativen. Und die eigenen Daten anderen Wissenschaftlern zugänglich zu machen. Dann können diese auch nachrechnen, wenn sie Zweifel haben.

Zusammenhang von Darmbakterien und Autismus?

Selbstkritisch und offen für den Diskurs: So stellt sich Dirnagl die Zukunft des wissenschaftlichen Publizierens vor. Wie das konkret aussehen kann, zeigt die derzeit in der scientific community stark diskutierte Geschichte einer Veröffentlichung im Fachmagazin „Cell“. Ein Forscherteam um Gil Sharon vom California Institute of Technology hatte dort beschrieben, dass das Mikrobiom – also Darmbakterien – von Autismus-Patienten autistische Verhaltenszüge bei Mäusen fördern kann.

Jede Einreichung bei „Cell“ durchläuft einen mehrstufigen Prozess, bevor es – bei einem Bruchteil – zu einer Veröffentlichung kommt. Mehrere Gutachter, in der Regel unabhängige Wissenschaftler aus demselben Fachbereich, prüfen im Peer-Review-Verfahren den eingereichten Artikel: Wie sind die Ergebnisse präsentiert und sind die richtigen statistischen Tests verwendet worden? Sind die Schlussfolgerungen nachvollziehbar? Als der Autismus-Artikel am 30. Mai online erschien, hatte er diesen ganzen Prozess bereits hinter sich. Er wurde für gut befunden, der Publikation würdig. Medien wie der „Deutschlandfunk“ oder der „Guardian“ berichteten über die Ergebnisse. Doch noch am selben Tag begannen andere Forscher, die nicht an der Studie beteiligt waren, die Ergebnisse des „Cell“-Artikels auf Twitter infrage zu stellen.

Verstärkt wurde die Diskussion durch einen kritischen Kommentar des Forschers Derek Lowe auf seinem Blog beim Fachmagazin „Science Translational Medicine“. Er und viele andere Wissenschaftler kritisierten, dass die Stichprobe der Cell-Studie zu klein wäre, um Schlussfolgerungen zu treffen, zudem wären Teile der Methoden unklar formuliert. Auch die Aussagekraft der verwendeten Mausmodelle zweifelten sie an. Einige begannen sogar, noch einmal nachzurechnen, und unterstellten den Autoren, unsauber gearbeitet zu haben, da ihre eigenen Ergebnisse von denen der Studie abwichen.

Artikel hochladen, Kollegen kommentieren lassen

Auch Ulrich Dirnagl äußerte seine Skepsis über den Artikel auf Twitter. Er lobt Lowe und die anderen Forscher für die kritische Auseinandersetzung mit dem Artikel. „Das ist ein schönes Beispiel dafür, was eigentlich bei dem Journal hätte passieren müssen.“

Ein so reflektierter Wissenschaftsprozess soll künftig auch in der Berlin University Alliance Standard sein, um die Qualität und Wertigkeit der Forschung zu sichern. Laut Dirnagl gibt es bereits Modelle, bei denen der Review-Prozess besser und objektiver funktioniere, beispielsweise beim Preprint-Server „BioRxiv“ (Englisch gesprochen: Bio-Archive) und dem Fachblatt „F1000Research“. Bei „BioRxiv“ können Forscher ihre Arbeiten für Kollegen zum Kommentieren hochladen, bevor sie in Peer-Review-Journalen erscheinen. Bei „F1000Research“ werden die Arbeiten vor und nach der Veröffentlichung durch die Forschergemeinschaft bewertet.

Die beiden Modelle sind im Vergleich zu „Nature“, „Science“ und „Cell“ bislang nur Randphänomene. Was dort publiziert wird, bleibt meist für fachfremdes Publikum unsichtbar. Auch Dirnagl weiß das. „So wie das System jetzt noch funktioniert, ist es fast karriereschädigend, Nachwuchswissenschaftlern zu raten, dort zu publizieren, statt auf die große Veröffentlichung bei ,Nature’ hinzuarbeiten.“ Er möchte das ändern. „Denn in einer exzellenten Universität muss die Forschung natürlich von höchster Qualität und Werthaltigkeit sein. Dabei wollen wir helfen.“

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